Sterben + Trauer

Frau Lange und das Mädchen

Bild von Daniel Hannah auf Pixabay

Ich kenne Frau Lange schon seit einem halben Jahr. Normalerweise sitzt sie immer unten im Gemeinschaftsraum des Pflegeheims, wenn ich zu Besuch komme. Dort lesen wir Zeitung, singen Volkslieder oder ich erzähle ihr Märchen. Manchmal darf ich ihr den Rücken zwischen den Schultern reiben, das Sitzen im Rollstuhl ist anstrengend für sie. Heute sitzt Frau Lange nicht unten im Gemeinschaftsraum. Sie liegt in ihrem Zimmer im Bett. In den letzten Tagen ging es ihr nicht so gut, hat mir die Pflegerin gesagt. Kaffee und Kuchen hat sie abgelehnt. Tatsächlich ist Frau Lange sehr müde und schlaff. Sie liegt im Bett und döst vor sich hin. Aber ich soll trotzdem bleiben, sagt sie.

Ich sitze also an ihrem Bett, erzähle manchmal ein bisschen, aber schweige vor allem viel und streiche ihr manchmal über die Hand. Das scheint gerade das Richtige zu sein. Nach einer Weile kommt plötzlich Leben in sie. Sie richtet sich ein wenig auf und hat einen so klaren Blick, wie ich ihn noch nie bei ihr gesehen habe. Diesen Blick richtet sie an die Zimmerdecke schräg hinter mir und lächelt erfreut. Mir läuft es für einen Moment kalt den Rücken runter. Hier passiert gerade etwas Besonderes, das ist deutlich zu spüren.

Bild von Daniel Hannah auf Pixabay

Was sieht Frau Lange?

Ich drehe mich kurz um und folge Frau Langes Blick an die Zimmerdecke. Obwohl ich natürlich weiß, dass ich dort nichts sehen werde. Ich habe von solchen Situationen schon öfter gehört, sie aber noch nicht selbst erlebt. Es kommt nicht so selten vor, dass sterbende oder schwer kranke Menschen Personen und Dinge sehen, die wir nicht sehen können. Verstorbene Verwandte zum Beispiel oder Engel.

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Frau Lange lächelt so freudig, dass ich mitlächeln muss. „Sehen Sie da etwas Schönes, Frau Lange?“, frage ich. Sie wendet den Blick keine Sekunde von der Zimmerecke ab, antwortet mir aber. „Schauen Sie, da!“, meint sie. Ich frage nach: „Was ist denn da?“ Sie schaut ein bisschen ungläubig und sagt: „Na, das Mädchen!“ Ich denke mir noch, dass die Situation eigentlich ganz schön gruselig sein müsste. Ist sie aber nicht. Sie kommt mir auf seltsame Weise richtig vor. Ich fühle mich fast ein bisschen geehrt, in diesem Moment dabei sein zu dürfen. Ich frage nach, ob Frau Lange das Mädchen kennt, aber sie antwortet nicht. Ihr Blick verändert sich langsam wieder und die Klarheit schwindet. Der Moment ist vorbei.

Die ganze Energie im Raum ändert sich noch einmal. Frau Lange ist nun nicht mehr so seltsam klar, aber auch nicht mehr so müde wie vorhin. Sie ist wieder wie immer. Als ich ihr einen Schluck Wasser anbiete, fordert sie mit klarer Stimme Saftschorle und Kuchen. Ich gehe nach unten zur Küche und lasse mir das Gewünschte geben. Sie isst mit Appetit und ist gut gelaunt, viel wacher und agiler als vorhin bei meinem Eintreffen. Was auch immer sie da gesehen hat, es hat ihr gut getan. Und mich hat es tief beeindruckt. Vor allem wegen eines Details:

Frau Lange ist blind.

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