Geschichten

Frühbier -I-

orgel

Herr Frühbier wohnt schräg gegenüber, ist von Beruf werdender Frührentner und das schon seit sechs Jahren. Das Haus in dem er wohnt gehört seiner 76jährigen Mutter, die die Parterre bewohnt. Herr Frühbier wohnt im ersten Obergeschoß und unter dem Dach lebt eine ältere Dame.

Während ich das jetzt schreibe, geht mir durch den Kopf, daß wir in diesem Haus schon in jeder Etage mal jemanden abgeholt haben. Vor zwei Jahren starb der langjährige Lebensgefährte der alten Mutter, bei Herrn Frühbier war es vor drei oder vier Jahren eine Tante die mit in seiner Wohnung wohnte und unterm Dach ist vor etwa fünf Jahren ein alter Mann gestorben. So geht das manchmal.

Um alle Sterbefälle hat sich jeweils Herr Frühbier gekümmert, der auch in der Trauerzeit nicht auf Adiletten, Bermudashorts und Hawaiihemd verzichtete. Lediglich an den Beerdigungstagen war er in seinem Anzug nicht wiederzuerkennen.

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Sagen wir es mal so: Herr Frühbier hat die Arbeit nicht erfunden und ist dennoch den ganzen Tag beschäftigt. Seine Hauptarbeit besteht im Fegen. Das tut er mithilfe eines Straßenbesens, den er jeden Tag in aller Herrgottsfrühe, also kurz vor Elf, auf den Gehweg trägt, ein paar müde fegende Bewegungen macht und sich dann zum Ausruhen auf den Besen stützt.

Im Verlaufe seiner Reinigungsarbeiten kommen so allerhand Leute vorbei, mit denen er dann einen kleinen Plausch hält, zum Abschied zwei, drei fegende Bewegungen macht, um sich dann wieder auszuruhen.

Es ist klar, daß ein so ausgebeuteter und schwer beschäftigter Mann mittags eine kräftige Mahlzeit braucht, um sich dann vom schweren Tun bei einem kleinen Schläfchen so ein bis zweieinhalb Stündchen auszuruhen.
Mit schlafwirrem Gehaare auf dem Schädel, den Sand der Müdigkeit noch in den Augen meldet sich der „Malocher“ dann so gegen 16.30 Uhr durch intensives halbstündiges Ausdemfenstergucken im Leben zurück.
Seufzend und Ächzend stützt sich Frühbier dann noch etwa eine halbe Stunde draußen auf den Besen, dann schaut er mehrfach kurz auf die Armbanduhr, damit er ja seinen Feierabend nicht verpasst, denn um halb sechs macht der „Grüne Baum“ auf und das erste Bier des Tages gehört traditionell Herrn Frühbier.
Das hat er sich ja auch verdient!

„Seit 43 Jahren gängelt mich meine Mutter und schikaniert mich. Das ist doch Ausbeutung, das ist doch Sklaventreiberei“, erzählte mir Frühbier neulich, als er sich in einem Anflug von Arbeitswut quer über die Straße bis zu mir herangefegt hatte. „Die Alte sitzt da wie in einem Spinnennetz und kontrolliert alles. Ich muß immer fegen, donnerstags die Mülltonnen rausstellen und hinten ist ja auch noch ein großer Hof zum Fegen. Ich sach Ihnen, datt schlaucht ganz schön!“

Was soll ich dazu sagen? Ich sehe nur immer, daß seine Frau, denn Frühbier ist verheiratet und hat zwei Töchter, jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe das Haus verlässt, um sich beim Discounter als Kassiererin abzuschuften. Die beiden Töchter sind vor geraumer Zeit ausgezogen und haben eine ganze Heerschar von Kevins und Schackelihnes in die Welt gekalbt. Irgendwie sind das schnelle Brüter, so oft und so viel schwanger kann man eigentlich gar nicht sein.

„Chef!“ tadelt mich Sandy, „Das liegt daran, daß der nicht zwei, sondern vier Töchter hat. Davon sind zwei Zwillinge und die anderen beiden sind nur zwei und dreieinhalb Jahre älter und die sehen sich alle ähnlich.“

Antonia ist ganz erstaunt: „Ich dachte, das sind Drillinge.“

„Welche von den Vieren?“ will Sandy wissen.

„Alle, dachte ich“, meint Antonia und guckt nur ganz verdutzt, als Sandy vier Finger nach oben hält.

„Was willst Du jetzt von mir?“ fragt Antonia, „Was soll das mit den vier Fingern, soll ich wieder Stop sagen?“

Das macht Sandy nämlich oft. Sie hält den Leuten dann alle zehn Finger unter die Nase, wackelt mit den Fingern und sagt: „Sag‘ mal Stop!“
Wenn der Gegenüber dann Stop sagt, bleiben immer nur die beiden ausgestreckten Mittelfinger stehen…

„Nee“, sagt Sandy diesmal: „Der hat vier Töchter, verstehst Du das, vier! Dann können die aber nicht Drillinge sein, höchstens drei von denen, sonst wären es ja Vierlinge. Kapiert?“

„Schon klar“, sagt Antonia, „oder meinst Du, ich wär‘ doof? Aber Vierlinge sind ja sooo selten, da hab‘ ich gedacht, die vier wären vielleicht doch nur Drillinge.“

Ich weiß nicht, wie Euch das geht, liebe Leser, aber mir tut so etwas schon fast körperlich weh…

Jedenfalls ist Herr Frühbier ganz offensichtlich in einer Sache vor rund 25 Jahren mal besonders fleißig gewesen.
Heute feiert er nur noch krank. Schuld an seiner Krankheit, die ihn von regelmäßiger aushäusiger Arbeit abhält, ist eine ganz schwere Herzoperation vor rund sechs Jahren.
Gerne zeigt er seine OP-Narbe mitten auf dem Brustbein, die mir persönlich recht klein vorkommt. Für ihn ist diese Narbe allerdings der Beweis, daß die Ärzte nur Pfusch getrieben haben, ihm -dem fleißigsten Schaffer unter der Sonne der Vollbeschäftigung- sein Arbeitsleben versaut haben und ihn -natürlich ganz gegen seinen Willen- aus dem Arbeitsprozess entfernt haben. „Schweine sind das, alle miteinander!“

Böse Zungen behaupten, die Narbe sei nur deshalb so klein, weil man Herrn Frühbier mitnichten am Herzen operiert habe. Vielmehr habe er vor Jahren große Probleme gehabt, durch die Nase Luft zu bekommen. Da habe man seine Nasenscheidewand begradigt und die Nase umfangreich „repariert“ und zu diesem Zwecke aus dem Brustbein ein Stück Knorpel entnommen und in die Nase eingesetzt. Genau davon habe er seine Narbe.
Die habe anfangs immer weh getan und daraus sei die Legende von der schweren Operation erwachsen.
Das sei ihm aber ganz gelegen gekommen, denn seitdem jammert und leidet er, vor allem beim Wetterwechsel.

Ich finde den Typ lustig, kann mich über seine Faulheit amüsieren und höre bisweilen gerne sein saudummes Gelaber, er weiß doch immer mal wieder das eine pikante Detail über diverse Nachbarn, das der Gemüsefrau und dem Kioskbesitzer bislang entgangen war. So komme ich an Informationen, die ich dann den beiden nicht nur brühwarm, sondern siedendheiß erzählen kann. Ab und zu muß ich ja auch mal was Neues liefern, sonst bin ich irgendwann nicht mehr würdig, auch von ihnen jeweils das Allerneueste zu erfahren.
Aber tratschen liegt mir ja nicht so.

Heute steht die alte Frau Frühbier in meinem Büro und macht ein betrübtes Gesicht.
„Mein Sohn ist tot. Den ha’mse mittem Auto überfahren.“

Alle Fortsetzungen schon fertig. Nur mal so als Hinweis.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#frühbier

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(©si)