Menschen

Gabriel

Ich habe ein Gesicht. So eins mit Nase und allem Drum und Dran, mir reicht das eine.
Frau Bördtler hat aber mehrere, das sagt sie zumindest, sitzt mir gegenüber und will mir das zeigen. Ich mag aber nicht, daß sie mir das zeigt und auch ihrem Mann ist das sehr unangenehm. „Datt macht die immer so.“

Doch die Frau ist nicht davon abzubringen, mir zu zeigen, daß sie „Gesichter“ hat, sie legt ihre Brille vor sich auf den Tisch und richtet ihre Handflächen nach oben, dann fällt ihr der Kopf vornüber, das Kinn auf der Brust…
Herr Bördtler verdreht die Augen und seufzt.

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„Die macht datt immer so“, sagt er nochmals, hebt die Schultern und lässt sie in einer Geste der Hilflosigkeit wieder sinken, er seufzt nochmals.

Mir ist das immer peinlich, wenn mir irgendjemand was vormacht. Ich weiß nicht warum das so ist, aber es ist so. Es kommen immer, jetzt mal so zwischendurch erzählt, auch Opernsänger und -sängerinnen zu uns ins Büro und wollen sich als professionelle Ave-Maria-Sänger für Beerdigungen vorstellen. Da kommt dann immer der Punkt, an dem die aufstehen, eine Pose einnehmen und dann lossingen.
Mir ist das dann immer peinlich, immer.

Gut, Frau Bördtler singt nicht, genauergesagt macht sie gar nichts, sie sitzt bloß so da, den Kopf hat sie in den Nacken gelegt, ihr Gesicht ist zur Zimmerdecke gerichtet, stumm, mit geschlossenen Augen, nicht die schlechteste Lösung für die Aufbewahrung von Frauen.
„Warten’se nur, datt kommt gleich“, warnt mich ihr Mann vor und unwillkürlich rückt er etwas von ihr ab.

Es passiert aber nichts und fast schon wiege ich mich in Sicherheit, hoffe darauf, daß die Frau auf einmal die Augen aufmacht und so etwas sagt wie: „Klappt heut‘ nicht“ und wir dann mit der Bestattungsvorsorge für die ganz alte Oma Bördtler weitermachen können.
Ich weiß auch bis zu dieser Sekunde nicht, was mir Frau Bördtler genau vormachen will, eventuell singt sie ja auch dazu, wer weiß.

„Gegrüßet seiest Du, Du Kind des Himmels“, sagt sie dann mit verstellter Stimme, ganz hastig und abgehackt und dann ist wieder Ruhe.

„Petrus!“ sagt ihr Mann und nickt: „Der kommt immer als Erster, jetzt kommt gleich Gabriel, der Erzengel, sie wissen schon.“

„Sei auch von mir gegrüßt, ich bin es, Gabriel, der Bote!“

Das hat Frau Bördtler wieder mit einer ganz anderen Stimme gesagt und unverzüglich gesellt sich eine dritte Stimme dazu, die sagt: „Botschafter aus dem Himmel sprechen zu Dir, höre ihre Botschaft!“

Herr Bördtler beugt sich über den Tisch zu mir herüber, winkt mich mit dem Zeigefinger näher zu sich heran, guckt kurz zu seiner Frau rüber und sagt mit gesenkter Stimme: „Jetzt kommen so ungefähr 46 Heilige und Engel, die alle eine Botschaft haben. Datt macht die immer so, voll peinlich. Aber sie glaubt da fest dran und sie ist so glücklich damit, was soll ich machen? Die ist in ihrem Kreis da auch voll anerkannt, da kommen manchmal welche, beten mit ihr und hören sich dann die 46 Heiligen an. Sonst macht sie ja nix Schlimmes und läßt mich normalerweise damit ja auch in Ruhe, ich hab‘ zu Hause so drahtlose Kopfhörer für den Fernseher… wenn sie es nur nicht immer vormachen würde…“

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