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Gaffer, Knipser und die Rettungsgasse

Ein Mensch hat einen Unfall. Er liegt auf der Straße, er blutet. Zwei Rettungssanitäter und ein Notarzt kämpfen um sein Leben.
Seine Familie steht etwas abseits, ist geschockt, weint und wird von einer jungen Polizistin betreut.

Auf der Fahrbahn nebenan könnte der Verkehr ungehindert weiter rollen. Doch die Fahrzeugschlange kommt nur stockend voran. Aus jedem fünften bis sechsten Fahrzeug wird ein Smartphone auf den Schwerverletzten gerichtet. Fotos werden gemacht, auch die Familie wird gefilmt.

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Die Polizei winkt die Autofahrer mit der Kelle weiter. Es geht zu langsam. Die Gaffer stoppen nicht, sie verlangsamen nur die Fahrt. Das führt aber zu kilometerlangen Staus mit Stillstand. Verzögerung für alle über eine Stunde.

Eine halbe Stunde später hat sich das Bild gewandelt. Die Familienangehörigen sind zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht worden. Für den Verunglückten kam dann doch jede Hilfe zu spät. Eine Isodecke aus dünner goldfarbener Folie bedeckt den Verstorbenen nur unzureichend.

Weiter hinten im Stau steckt der Bestattungswagen fest, der den Verstorbenen abholen soll. Erst als ein Abschleppwagen mit blinkenden Gelblichtern und einer mächtigen Hupe die anderen Fahrzeuge zur Rettungsgasse zwingt, können auch die Bestatter bis zur Unfallstelle vorfahren.

Alltag auf deutschen Straßen. Und niemand kann etwas gegen seine naturgegebene Neugierde tun. Solche Ereignisse zwingen uns förmlich zum Hinschauen. Das geht mir so, das geht Dir so, das geht wahrscheinlich jedem so. Aber wir geben uns doch wenigstens Mühe, dass wir nicht glotzen, gaffen und stauen.

Die Auswirkungen der Smartphone-Neugier können gravierend sein und Menschenleben kosten. Auch das Nichtbilden der vorgeschriebenen Rettungsgasse kostet nachweislich Menschenleben. Wenn Rettungskräfte hinten im Stau stecken, können sie vorne nicht helfen.

Gaffer hat es immer schon gegeben. Selbst beim kleinsten Verkehrsunfall an der Straßenecke bleiben Leute stehen oder kommen aus ihren Häusern. Das hat seine ganz eigene Qualität. Es ist nicht schön, aber das ist schon irgendwie normal – das war es immer.

Schön ist das schon allein deshalb nicht, weil es eine Respektlosigkeit gegenüber den Opfern ist. Niemand wird gerne in einer hilflosen Situation beobachtet, begafft und angestarrt. Bestatter kennen das. Viele Familien bitten ausdrücklich um eine Abholung des Verstorbenen bei Dunkelheit, der Nachbarn wegen.

Mir sind mindestens drei Fälle bekannt, in denen schwer Erkrankte bis zum Abend ausharrten, um dann erst den Rettungswagen zu rufen. Auch wieder der Nachbarn wegen.

Neugierde ist mal eins. Das Zuschauen bei ungewöhnlichen Situationen ist eine Gemengelage aus Anteilnahme, Sensationslust, Wissensvorsprung, Sicherungsdenken und anderen teils archetypischen Verhaltensmustern. Vieles davon hat seine Wurzeln in grauer Vorzeit, als wir noch Sammler und Jäger waren. Wir können oft gar nichts dafür.

Eine ganz andere Qualität hat das Knipsen und Filmen mit dem Smartphone. Unter der Überschrift „Krasser Unfall mit Leiche“ findet die Familie des Verunglückten nicht nur Bilder ihres Verstorbenen im Netz, sondern auch ein Video von sich selbst. „Mann tot, Oma weint!“ steht darüber.

Tausende schauen die Bilder und das Video an. Die Kommentare sind von der übelsten Sorte. Es wird überhaupt nicht auf den Verlust eingegangen, den die Familie erlitten hat. Das Leiden des Verletzten, sein Sterben und dass die Familie es miterleben musste, das alles wird nicht besprochen. „Voll fetter Arsch guckt dem Bestatter aus der Hose“, „Habt Ihr die süße blonde Polizistin gesehen, die Bitch hätt ich mal gern“.
„Krass viel Blut, wie beim Zombie“.

Es ist inzwischen verboten, solche Filme und Fotos zu machen. Das ist gut so. Aber ich bin der Meinung, dass alleine eine gute Kinderstube ausreichen sollte, jedem klar zu machen, dass sich so etwas gar nicht gehört. Das ziemt sich einfach nicht. Das ist geschmacklos. Das ist ein Zeichen fehlenden Respekts und fehlender Grundkultur.

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