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Geschichten

Günther (Die Geschichte)

Gegenüber vom Möbelland im Gewerbegebiet sind noch etliche Grundstücke unbebaut. Auf dieser Seite der Straße standen früher attraktive Wohnhäuser und Bungalows, heute stehen die meisten von ihnen leer und etliche sind auch schon abgerissen. Da soll noch ein Möbelland gebaut werden und ein Elektronikmarkt und ein Einkaufszentrum und und und…

Mitten drin, auf einem etwa 7 Meter breiten und 120 Meter langen Streifen, eingebettet zwischen einem ähnlichen Grundstück mit einem verfallenen Bungalow und einem als Kleingarten genutzten Grundstück wachsen heute hohe Bäume und dichte Büsche.

Ich glaube kaum, daß irgendjemand von den vielen Möbellandbesuchern eine Ahnung hat, was sich auf diesem Grundstück für Dramen abgespielt haben.

Irgendwann während der letzten Kriegstage oder kurz danach, es soll ein Donnerstag gewesen sein, begannen Leute aus der nahegelegenen Stadt auf diesem Grundstück ein Haus zu bauen. Die Menschen der zerbombten Stadt suchten dringend Wohnraum und so trug mach Trümmer, Steine, Bretter und Mobiliar zusammen und baute sich oftmals irgendwo irgendwas.

So entstand auch das Haus gegenüber vom Möbelland, das später von den Kindern gerne, in Anlehnung an Astrid Lindgrens Pipi Langstrumpf, ‚Villa Kunterbunt‘ genannt wurde.
Nur war die Villa Kunterbunt nicht wirklich kunterbunt und schon gar nicht war sie bunt, weil irgendjemand das schön fand, sondern sie war einfach aus den verschiedensten Materialien zusammengezimmert.

Den Ausgebombten nach dem Krieg war das egal. Hauptsache ein Dach über dem Kopf, ein Plumpsklo hinterm Haus und ein paar Quadratmeter, um sich Gemüse anzubauen.
Was später ein Idyll werden sollte, war damals dem nackten Überleben dienlich, völlig unromantisch.

Doch dann besserten sich die Zeiten und die beiden Familien, die in der Villa Kunterbunt drei oder vier Jahre gewohnt hatten, bekamen schöne neue Wohnungen in der Stadt und zogen da weg, das soll an einem Montag gewesen sein.

Danach fielen Haus und Grundstück in eine Art Dornröschenschlaf. Ein alter Mann bewirtschaftete den Garten, kümmerte sich aber nicht um das Haus.

Erst als dieser starb, kam Günther ins Spiel.

——

Günther arbeitete damals bei der Eisenbahn im Schichtdienst und hatte, nicht weit vom Möbelland entfernt, hinten über der Straße, wo ein Wohngebiet ist, ein kleines Einfamilienhaus für sich, seine Frau und seine beiden Kinder gekauft. Sein Junge war mit offenem Kopf geboren worden, schwer geistig behindert und der Liebling der ganzen Familie. Das ist oft bei Sorgenkindern so.

Eines Tages entdeckte Günther beim Spazierengehen mit seinem Hund das Grundstück mit der Villa Kunterbunt und dachte sich, das könne doch ein schöner Garten und Abenteuerspielplatz für seine Familie sein.
Es war gar nicht so einfach, den Besitzer des Grundstücks zu ermitteln, denn der alte Mann, der da vorher seinen Garten hatte, der hatte sich einfach nur darum gekümmert, weil es sonst keiner tat.

Selbst beim Kataster- und Grundbuchamt wurde Günther nicht fündig. Nach dem Krieg sei da so viel hin und her gegangen, daß man zwar wisse, daß das Grundstück letztlich der Stadt gehöre, aber es gäbe da eine Familie, der man in den Nachkriegsjahren ein lebenslanges Nutzungsrecht zugebilligt habe und so lange von denen noch jemand lebt, könne diese Familie über das Grundstück frei verfügen. Das sei ja auch der Grund, weshalb man die Villa Kunterbunt nicht längst abgerissen habe.
Immerhin komme ja irgendwann die Erweiterung des Gewerbegebietes und dann müsse sie sowieso weg.

Mit vielen Mühen fand Günther dann heraus, daß eine gewisse Frau Semmelbrot in Schwäbisch Hall der letzte Abkömmling jener Familie war, die die Rechte an dem Grundstück hatten. Und zu der fuhr er eines Tages hin.

Frau Semmelbrot war knapp über sechzig Jahre alt und erinnerte sich mit Freude an die schöne Zeit in der Villa Kunterbunt. In ihrer Erinnerung waren nur die verklärt romantischen Teile übriggeblieben, die Not und die mangelhafte Versorgung, all das war über die Jahre in den Hintergrund getreten.
Sie hatte sogar noch Fotos aus der Zeit und wußte ganz genau, daß sie die Rechte an dem Grundstück hatte. Sie war aber davon ausgegangen, daß das alles längst hinfällig sei, da sie sich ja schon Jahrzehnte nicht mehr um die Villa Kunterbunt gekümmert hatte.

Ein Stück Papier, ein Kugelschreiber und zehn Minuten Zeit, dann hatte sie Günther die Nutzungsrechte überschrieben. „Herr Günther Salzner ist hiermit berechtigt, das Grundstück in der Siebnerstraße 33 nach freiem Willen zu nutzen. Er zahlt dafür eine jährliche Pacht von 90 Mark.“

So kam Günther an das Grundstück.

——–

Schon am nächsten Tag begann der ganz große Kahlschlag. Günther hatte sich eine Kettensäge geliehen und sägte sich von der Straße aus zwanzig Meter durchs Gehölz, bis er einen Weg zur Villa Kunterbunt freigelegt hatte.
Jetzt konnte man das Haus auch von der Straße aus sehen und so kam es, daß irgendwem bei der Obrigkeit irgendetwas wieder einfiel und schon zwei Tage später standen die Beamten das erste Mal bei Günther auf dem Grundstück und wollten nur mal wissen, was er denn da mache.

„Ich mache mir hier einen Garten und bringe die Hütte wieder in Ordnung.“

Ja, das dürfe er doch gar nicht, das sei städtischer Grund und er solle fix mal seinen Krempel einpacken und noch fixer da verschwinden.
Günther präsentierte seinen „Pachtvertrag“ und erntete die üblichen Aussagen kommunaler Wichtigtuer:

„Nee, so geht das nicht.“
„Sie können doch nicht so einfach…“
„Das werden wir jetzt genau prüfen, aber ganz genau!“
„Machen Sie sich auf was gefasst.“
„Wir kommen wieder.“

Klar, Jahrzehnte hatte sich keiner richtig darum gekümmert, jetzt konnte man das Haus wieder sehen und da entstanden Begehrlichkeiten. Wahrscheinlich hatte man bei der Stadtverwaltung gedacht, dieses Grundstück habe man schon sicher, die nutzende Familie sei längst untergegangen, verschollen oder desinteressiert und nun hat da jemand einen aktuellen und auch noch gültigen Pachtvertrag.

Eile war keine geboten, das Gewerbegebiet sollte ja erst irgendwann mal kommen und es war absehbar, daß es so schnell nicht kommen würde. Jedoch griff die Stadt bei jedem freiwerdenden Grundstück erbarmungslos zu. Sicher ist sicher, was man hat, das hat man.

„Jetzt habe ich es aber und so lange die alte Frau Semmelbrot noch lebt, könnt ihr gar nichts machen“ sagte Günther deshalb eine Woche später zu den amtlichen Herren, die abermals sein sofortiges Verschwinden anordnen wollten.

Zähneknirschend -vor allem weil Günther Recht hatte- zog die Amtsmacht wieder ab. Normalerweise hätte sich die Verwaltung einfach zurücklehnen und abwarten sollen, solche Dinge erledigen sich oft von selbst…
Doch manchmal ist es ja so, daß sich da ein Beamter persönlich angepisst fühlt und dann entbrennt so etwas wie eine Hexenjagd. Und das ist doppelt schlimm, wenn es im Grunde um rein gar nichts geht.
Günther hatte das Grundstück im letzten halben Jahr auf Vordermann gebracht und war nun dabei, die Villa Kunterbunt zu renovieren.
Seine Kinder tollten auf dem Grundstück herum, bauten sich ein Baumhaus, gruben sich ein Schlammloch zum Suhlen und alle waren glücklich.
„Mein Gott, wir tun doch niemandem was. Hier gibt es niemanden, den wir stören könnten, vorne an der Straße wächst schon wieder alles zu und bald kann man auch nicht mehr aufs Grundstück schauen. Die könnten uns doch einfach in Ruhe lassen.“

Zwei Jahre später stand die Villa Kunterbunt da, wie sie noch nie da gestanden hatte. Das Dach war mit neuer Teerpappe versehen, die Wände außen gestrichen, innen tapeziert und von überall hatten Günther und seine Frau gebrauchtes Mobiliar zusammengetragen, um das gar nicht mal so kleine Haus einzurichten.
Man muß sich die Villa so vorstellen:
Da das Grundstück nicht besonders breit (dafür aber über hundert Meter lang) war, reichte die Villa genau von Grundstücksgrenze zu Grundstücksgrenze. So etwas war nur nach dem Krieg möglich, da hat man immer alle Augen zugedrückt, die Menschen brauchten ein Dach über dem Kopf.
Auf der rechten Seite, der Wetterseite, hatte die Villa gar keine Fenster, links gab es einen langen mit Weinreben überwachsenen Laubengang, der von der vorderen Veranda bis ganz nach hinten führte.

Ursprünglich muß die Villa mal aus zwei Räumen bestanden haben, an die man aber später noch einen und dann nochmals zwei Räume angebaut hatte. So war das Haus dann schließlich genau sieben Meter breit und gut zwanzig Meter lang.
Man darf sich aber nun nicht vorstellen, daß hier eine Luxushütte stand, sondern es war im wahrsten Sinne des Wortes ein Einfachstbauwerk.
Die dünnen Wände bestanden aus Trümmerziegeln unterschiedlicher Stärke, die niedrigen Decken aus Bohlen und Brettern und was zwischen den Decken und dem niedrigen Dach war, das wußte keiner so genau. Einen richtigen Keller hatte das Haus natürlich auch nicht. Nur unter dem vordersten Raum, der die Küche war, gab es einen Abgang, der in einen kaum telefonzellengroßen „Keller“ führte, in dem eine Pumpe ihren Dienst tat, die das Grundstück aus einem Brunnen mit Wasser versorgte.

„Heizen konnte man nur mit Kohle und Holz und wenn man das nicht gründlich machte, dann wurde alles schnell feucht und es roch immer modrig. Aber so lange wir uns da regelmäßig aufhielten, durchlüfteten und im Winter immer mal wieder heizten, ging es ganz gut. Ich hab ja später hinterm Haus eine große Sickergrube ausgehoben und das Plumpsklo durch ein richtiges Wasserklosett mit Häuschen ersetzt.
Nein, wohnen konnte man da nicht, aber als große Laube und zum Feiern war das Ding einfach super gut“, erzählte Günther später.

Es gab sogar Strom und einen Telefonanschluss auf dem Grundstück, nach dem Krieg hatten ja jahrelang Leute regelrecht dort gelebt.

„Ja nee, so geht das ja gar nicht“, argumentierte der Stadtbeamte. „Sie können doch nicht hinterm Grundstück in eine Grube scheißen und vorne mit einer Pumpe Wasser hochziehen. Da saufen Sie ja nur Bakterienbrühe. Das legen wir jetzt mal ganz schön still, aber sofort!“

„Dabei lag die Sickergrube etwas den Hang runter und das Wasser wurde ja aus über dreißig Metern Tiefe gefördert“, schimpfte Günther. „Ich habe dann damals Wasserproben gezogen und beim Chemiewerk in der Stadt prüfen lassen. Die haben mir für 80 Mark ein Gutachten gemacht, daß mein Wasser einwandfrei sei und sogar besser sei als das städtische Leitungswasser. Ich habe quasi meine eigene Heilquelle im Keller, haben die gesagt.“
Da konnte dann auch die Stadt nichts machen und erließ eine Anordnung, daß das Wasser von nun an jedes Jahr zu prüfen sei und die Sickergrube alle zwei Jahre entleert werden müsse…

Im Laufe der Jahre entwickelten sich der Garten und die Villa zur Hauptfreizeitstätte der ganzen Familie. Jede freie Minute brachte man dort zu und ich kann mir gut vorstellen, daß insbesondere die Kinder dort ein Paradies hatten.
Hinter dem Haus war im Laufe der Jahre ein regelrechter Spielplatz mit Schaukel, Sandkasten und Planschbecken entstanden.
Man grillte, man feierte, man pflanzte an und bei schlechterem Wetter saß man drinnen in der Küche und abends schlief man in den hinteren Räumen, es war für alle eine Insel im Trubel des Alltags.

—–

Günther und seine Frau hatten eine tolle Idee. Schräg gegenüber wurde ein Wagenpark der Post gebaut und zweihundert Meter die Straße runter wurden gleich mehrere Supermärkte und ein Gartencenter errichtet.
Warum also nicht vorne auf dem Grundstück eine Fertiggarage aufstellen lassen und von dort aus Obst, Gemüse, Mineralwasser, Limo und heiße Würstchen an die Bauarbeiter verkaufen?

„Die haben uns jeden Tag die Bude leer gekauft. Ehrlich, einer von uns war immer da und an manchen Tagen bin ich mittags nochmal zum Metzger und habe wieder 80 Würstchen kaufen müssen. Wir haben natürlich gewußt, daß das ein vorübergehendes Geschäft sein würde, denn irgendwann würden die ja mal fertig sein, mit dem Bauen. Aber da kam ja dann noch die Ausbildungswerkstatt von der Berufsschule und diese kleine Fensterfabrik. So drei, vier Jahre ist das gut gelaufen. Wir haben schön was nebenher verdient – und natürlich angemeldet und versteuert, ist ja klar.“

Eigentlich müßte man also sagen, daß es für Günthers Familie optimal lief, alles war schön und „in Butter“.
Bis eben jener Tag kam, es war ein Mittwoch, an dem Günther seinen Schichtdienst mit einem Kollegen getauscht hatte und früher von der Arbeit kam.
Vorne in der Garage lag die Ware offen und auf einer Würstchenpappe war mit Filzstift aufgekritzelt „Komme gleich wieder“.
Wo war seine Frau? Hatte die mal eben auf die Toilette gemußt? Holte sie Nachschub von hinten?
Die Kinder waren noch in der Schule, das wußte Günther, aber wo war die Frau?

Als erstes bediente Günther zwei LKW-Fahrer, denen er Cola und Würstchen verkaufte, dann ging er die fast 20 oder 30 Meter bis zur Villa Kunterbunt und als er näher kam, konnte er leise Musik hören.
Jetzt war ihm alles klar, seine Frau war in der Küche, um ein paar von den belegten Brötchen für die Kundschaft zurecht zu machen oder etwas vom Gemüse oder Obst zu putzen. So mußte es sein.

Frohgelaunt betrat Günther das geräumige Gartenhaus, wollte gerade zu seiner Frau sagen: „Warum bist Du nicht vorne? Mensch, da steht alles offen und jeder kann sich selbst bedienen!“, da stellte er fest, daß er sich getäuscht hatte. Seine Frau stand nicht in der Küche.
Aus dem Radio spielte es einen Bossanova und ein schnulziger Sänger versuchte sich in einem Gemisch aus Deutsch und Spanisch.
Langsam ging Günther von der Küche ins angrenzende Wohnzimmer, aber auch dort war niemand.
Allmählich stiegen in ihm Sorgen und Zweifel auf, irgendwas stimmte da nicht, irgendetwas war anders als sonst.

Noch ein paar Schritte und Günther war an der Tür zum angrenzenden Schlafraum. Er öffnete sie und schloß kurz die Augen. Er hatte Angst, seiner Frau könne etwas zugestoßen sein, Herzinfarkt, Schlaganfall oder so was, man hört das doch immer wieder, daß auch recht junge Menschen urplötzlich wegen so was tot umfallen…

Er wollte das ganz unbewußt gar nicht sehen, deshalb hatte er für den Bruchteil einer Sekunde die Augen geschlossen, während er die Tür vorsichtig öffnete.
Als er seine Augen wieder aufmachte, stockte ihm der Atem und er fühlte, wie innerhalb eines Augenblicks gleichzeitig sein Blut aus dem Kopf bis in die Beine sackte und im selben Moment voll mit Adrenalin wieder nach oben schoß.

Vor ihm im Bett lagen seine Frau und ein ihm völlig unbekannter Mann mit sehr ausgeprägter Körperbehaarung, beide nackt und sie trieben es so heftig miteinander, daß sie gar nicht mitbekamen, daß Günther eingetreten war.

Was nun folgt, das geschah alles innerhalb weniger Sekunden. So etwas passiert immer innerhalb weniger Sekunden, auch wenn andere hinterher Wochen und Monate Zeit haben, um diese Vorgänge genau zu untersuchen, die Sekundenbruchteile zu sezieren und daraus Verantwortlichkeiten und Schuld abzuleiten.

Günther sprang einen Schritt vor, begann wie ein Tier zu brüllen, packte seine Frau bei den Haaren und zog sie mit einem Ruck von dem stöhnenden Fremden herunter. Beide waren so erschrocken, als sei just in diesem Moment der Blitz eingeschlagen.
Günthers Frau landete nackt vor dem Schrank, wo sie auf dem Boden zu sitzen kam. Vor Schreck verfiel sie in Schnappatmung und begann zu weinen. Der behaarte Fremde hatte sich aufgerichtet, konnte nur ein „Ey“ sagen, dann traf ihn Günthers Faust mitten ins Gesicht und zwar so deftig, daß ihm sofort die Nase brach und der Mann blutend und vor Schmerz schreiend aus dem Bett sprang.

Was dann geschah, hat Günther später so beschrieben:
„Ich habe den Kerl, der übrigens ein Betonfahrer von der Baustelle war, so lange in den Arsch getreten, bis er von meinem Grundstück runter war. Ich hab‘ den nackt wie er war verjagt. So was macht man doch nicht, die Frau eines anderen bumsen! Und dann bin ich zu meiner Frau, die saß immer noch heulend vor dem Schrank, hab der Ihre Klamotten die Füße geworfen und gesagt: ‚Ich geh‘ jetzt mal ’ne Viertelstunde spazieren, wenn ich wiederkomme, bist Du verschwunden.'“

So wie er es sagte, so hat Günther es auch gemacht. In ihm kochte es, seine Fäuste taten ihm weh und er war kaum in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Mit großen Schritten lief er einmal um das ganze Gewerbegebiet, was deutlich länger als eine Viertelstunde gedauert haben mußte.
Dann kehrte er zu seinem Garten und zur Villa Kunterbunt wieder zurück. Es warteten schon Leute vorne am Büdchen und er begann mit dem Verkauf von Wasser, Limo und Wurst. Dann erst ging er mal kurz nach hinten, seine Frau war nicht mehr da und so saß er da allein und verlassen in seiner kargen Küche und grübelte, ob er nun richtig oder falsch gehandelt hatte. Dann kamen seine Kinder aus der Schule und freuten sich schon darauf, hinter der „Villa“ in den neu aufgestellten Swimming-Pool springen zu können.

Es verging etwa noch eine Stunde, dann hörte Günther das Tatütata von mehreren Polizeiautos und kurz darauf konnte er die flackernden Blaulichter näher kommen sehen. Gleichzeitig schossen ihm zwei Gedanken durch den Kopf: ‚Da ist auf einer der Baustellen was Schlimmes passiert‘ und ‚Die kommen mich jetzt holen, weil ich dem Arsch die Fresse poliert habe‘.

Günther hatte Recht! Sie kamen ihn holen. Aber sie holten ihn nicht wegen des „Arsches“, sondern sie sprangen aus den Wagen, gleich sechs Mann, fackelten nicht lange und drückten ihn auf den Boden, legten ihm Handschellen an und erst als er schnaubend auf dem Rücksitz eines der Streifenwagen saß, eröffnete man ihm, er sei vorläufig festgenommen, weil er unter dem dringenden Tatverdacht stehe, vor einer halben Stunde in seinem Wohnhaus seine Frau erschlagen zu haben.

———-

Günther brachte den Rest des Tages und die ganze Nacht im Verhörraum des Polizeipräsidiums zu.
Die Verhöre seien endlos gewesen und immer wieder habe man ihm die gleichen Fragen gestellt, auf die er die immer wieder gleichen Antworten gegeben habe.
Das Schlimmste für ihn sei aber gewesen, daß ihn niemand aufgeklärt habe, worum es überhaupt ging.
Aus den Vorwürfen, die man ihm machte, konnte Günther erkennen, daß seine Frau tot war, genauer gesagt, daß sie erschlagen worden war.

Auf seine Frage: „Wie ist es denn passiert?“ bekam er nur ein höhnisches Lachen als Antwort: „Das werden Sie uns ja wohl am besten sagen können.“

Man versuchte alles, um Günther zu einem schnellen Geständnis zu bringen, doch der blieb bei seiner Version. Er habe dem Betonfahrer ein paar aufs Maul gehauen und seine Frau vor die Tür gesetzt. Während die wohl ins gemeinsame Wohnhaus gegangen sei, habe er einen Spaziergang durch das Gewerbegebiet gemacht.

Ob es dafür Zeugen gebe, ob ihn jemand gesehen habe, ob er denn nicht doch mal eben an seinem nahe gelegenen Wohnhaus vorbei gegangen sei, schließlich liege das doch auf dem Weg, die Zeit habe doch ausgereicht, mal eben kurz die Frau erschlagen, dann noch ein bißchen spazieren gehen und sich dann ins Büdchen stellen und Würste verkaufen. Das passe doch alles wunderbar zusammen.

„Das mag ja für Sie alles passen, aber ich habe meiner Frau nichts getan und finden Sie nicht, daß Sie es auch als Möglichkeit in Betracht ziehen müßten, daß ich nicht der Täter bin, sondern daß ich ein Mann bin, dessen Frau umgebracht worden ist und den Sie hier wie Dreck behandeln?“

Viel Eindruck machte dieser Appell nicht auf die Beamten, aber immerhin bekam Günther endlich was zum Rauchen und statt des Pappbechers mit Wasser auch einen Kaffee.

Es wäre ja auch für die Kriminalbeamten so einfach gewesen. Totschlag nach Ehestreit, Punkt, aus.
In der Bilanz der gelösten Kriminalfälle hätte sich das gut gemacht.
Überhaupt brüsten sich die Beamten der Abteilung „Leib und Leben“ ja sowieso mit ihrer außerordentlich hohen Erfolgsquote von über 90%. Im Gegensatz dazu werden nicht einmal 50% aller Einbrüche aufgeklärt.

Obwohl…, lösen können die Kriminalisten ja nur Fälle, die auch ein Fall sind. Der Omamörder, ein Pflegedienstler, der innerhalb von 10 Tagen fünf alte Frauen in ihren Wohnungen umgebracht hatte, um an Geld zu kommen, wurde ja nicht überführt, weil jemandem an einer der erstickten Leichen etwas seltsam vorgekommen wäre, sondern weil sein letztes Opfer, sich so gewehrt hatte, daß es überlebte und den Täter später melden konnte.
Erst danach kam man dahinter, daß die samt und sämtlich als natürlicher Todesfall abgehakten anderen Omas erstickt, gewürgt und förmlich zerquetscht waren. Der Obduzent: „Die sahen aus, als sei da ein Panzer drübergefahren, der Täter war ja sehr schwer und groß und hatte sich auf die gesetzt.“
Alte, kranke Leute sind irgendwann mit dem Sterben dran, da macht der Hausarzt dann auch mal schnell sein „natürliche Todesursache“-Kreuz, ohne genau zu untersuchen, es ist ja alles klar, es liegt ja auf der Hand…
Wer weiß, wie viele tausend Verbrechensopfer jedes Jahr beerdigt werden, ganz normal, ohne Brimborium, ohne Ermittlungen, nur weil zu schnell das falsche Kreuz auf den Totenschein gemacht wurde.
Alle diese Fälle jedenfalls fallen komplett aus der Mordstatistik heraus. Was keiner weiß, macht keinen heiß und wo kein Kläger, da kein Richter.

Wie praktisch wäre es gewesen, wenn die Beamten aus Günther ein schnelles Geständnis gepreßt hätten. Aber Günther blieb stur, legte irgendwann das Kinn auf die Brust, schob trotzig die Unterlippe vor, starrte auf den Boden und sagte gar nichts mehr.

Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, vor allem quälte ihn der Gedanke, was jetzt mit seinen Kindern passieren würde.

„Das Schweigen bringt uns auch nicht weiter. Sie machen alles nur schlimmer für sich. Noch ist es nur Totschlag, da wären Sie doch bei guter Führung noch vor der Schulentlassung Ihrer Kinder wieder draußen. Aber wenn Sie so weiter machen, ist es Mord und dann kommen Sie nie wieder raus.“

Quatsch, natürlich ist das Quatsch und später wollte auch kein Beamter so etwas gesagt haben.

Jedenfalls guckte irgendwann einer der Beamten auf seine Armbanduhr, gab den anderen ein Zeichen und damit war das Verhör vorerst beendet. Günther kam in eine Zelle, dort solle er sich mal auspennen, bald käme sein Pflichtanwalt.

Der Pflichtverteidiger kam aber nicht bald, sondern erst am Ende des nächsten Tages. Einen Blick in die Ermittlungsakten hatte er noch nicht werfen können, da gebe es noch nicht viel und die Sachlage stelle sich ja ganz klar dar. Günther habe seine Frau beim intimen Verkehr mit einem fremden Mann erwischt und zunächst versucht, diesen durch Schläge auf den Kopf zu töten, der Mann habe aber nackt flüchten können. Dann sei seine Frau in Todesangst vom Gartenhaus zum Wohnhaus geflohen, um sich in Sicherheit zu bringen. Dahin sei Günther ihr wutentbrannt gefolgt und habe ihr mit dem Marmoraschenbecher vom Wohnzimmertisch den Kopf eingeschlagen.

Günther saß da und sperrte das Maul auf. „Das hört sich ja so an, als ob Sie denen glauben“, gab er verwundert von sich und der Rechtsanwalt schaute ihn ebenfalls verwundert an. „Ja, war es denn nicht so? Ich denke, es ist alles klar.“

„Nein, nichts davon ist wahr. Meine Frau hat es mit einem anderen getrieben, der hat von mir ein paar in die Fresse gekriegt, das Schwein und meine Frau habe ich zum Teufel gejagt. Die ist dann weg und ich bin herumgelaufen, um den Kopf frei zu kriegen. Dann haben die Bullen mich geholt. Ich will jetzt endlich nach Hause.“

„Nach Hause? Sie? Na, daraus wird wohl vorerst nichts. Wissen Sie denn nicht, daß Sie in einer Stunde dem Haftrichter vorgeführt werden? Sie bleiben auf jeden Fall in Untersuchungshaft, das ist ja wohl mal klar. Sie haben schließlich Ihre Frau erschlagen.“

„Hab‘ ich eben nicht!“

„Das können Sie ja alles dem Untersuchungsrichter erzählen.“

„Nee, das muß ich zuerst Ihnen erzählen, Sie müssen mir als allererstes glauben.“

„Was ich glaube, spielt doch überhaupt keine Rolle.“

„Doch, wenn Sie nämlich nicht für mich sprechen und auch so tun, als sei ja alles klar, dann buchten die mich ein und auch noch für was, das ich gar nicht gemacht habe.“

Vor dem Untersuchungsrichter war der Anwalt dann gar nicht so, wie er sich bei Günther gegeben hatte. Er trat kämpferisch und sachkundig auf, verlangte die sofortige Freilassung seines Mandanten, schließlich lägen ja keinerlei Beweise vor und nannte zahlreiche Varianten, wie die Tat abgelaufen sein könnte. Schließlich könne ja auch der fremde Mann der Täter sein, nach dem habe man ja erstaunlicherweise gar nicht gesucht. Man habe sich sofort auf seinen Mandanten als Täter eingeschossen, wie das oft so der Fall ist und alle anderen Spuren gar nicht erst weiter verfolgt.

„Bringen Sie mir einen Zeugen, der Ihren Mandanten gesehen hat und der belegen kann, daß der Mann zur Tatzeit woanders war, dann sehen wir weiter“, lautete der Spruch des Richters und damit war es besiegelt, Günther kam ins Untersuchungsgefängnis.

Die Zeit dort war so schrecklich für Günther, daß er später kaum ein Wort darüber sprach. Nur die Untersuchung bei der Aufnahme, die schilderte er immer mal wieder. Nachdem er sich komplett hatte entkleiden müssen, verlangte man, daß er sich bückte, damit man ihn rektal untersuchen könne.
Daraufhin hatte Günther gesagt: „Moment mal. Man wirft mir vor, meine Frau erschlagen zu haben und mich dann seelenruhig wieder an meinen Verkaufsstand gestellt zu haben. Und Sie glauben allen Ernstes, ich hätte da zwischendurch irgendwann einen Gedanken daran verschwendet, ob ich mir nicht schnell noch was für den Knast in den Arsch schiebe? Ihr habt sie doch nicht alle!“

Und dann kam das in Gang, was einen Untersuchungshäftling zermürben kann.
Draußen lief alles weiter!
Die Polizei ermittelte und Günther konnte nichts machen, egal was für einen Quatsch die sich zusammenreimten, er hatte keine Chance, dagegen anzugehen.
Die Kinder kamen in unterschiedliche Heime, Günther konnte nicht beeinflussen, was mit ihnen geschah und es wurde auch noch so getan, als sei das jetzt sowieso für immer.
Die Welt drehte sich weiter, immer schneller und Günther saß auf ein paar Quadratmetern und war zur Tatenlosigkeit verdammt.
Wer würde sich um die Beerdigung seiner Frau kümmern?
Wie würde es weiter gehen?

——–

Im wesentlichen stützten sich die Vorwürfe gegen Günther auf die Aussage einer Zeugin. Seine Nachbarin, Frau Klemm, war auch diejenige gewesen, die die Polizei gerufen hatte.
Nach ihrer Aussage hatte sich alles wie folgt zugetragen.
Günthers Frau sei weinend und völlig aufgelöst angelaufen gekommen und so überhastet ins Haus gerannt, daß sie nicht einmal die Haustüre richtig zugemacht hätte.
Während sie selbst, also Frau Klemm, in ihrem Garten die Geranien gezupft hätte, was bei diesem Wetter viel Arbeit bedeute, denn da wachsen die wie Unkraut und da müsse man dann dabei bleiben, sonst sähe es nach kurzer Zeit aus wie Hulle, habe sie aber beobachten können, weil bei denen ja das Schlafzimmerfenster offen stand, daß Günthers Frau einen Koffer, also den Hellbraunen, nicht den mit dem Karomuster, vom Kleiderschrank herunter geholt habe.

Für die Ermittler und den Staatsanwalt war damit klar, daß Günthers Frau ihren Mann verlassen wollte.

Frau Klemm hatte sich auf den Blick von den Geranienkästen zum Schlafzimmer konzentriert und nicht mitbekommen, wann Günther das Haus betreten hatte. Auf jeden Fall hätte sie dann Günther auch auf einmal im Schlafzimmer gesehen und dann wäre dummerweise auf einmal nichts mehr zu sehen gewesen. „Wissen Sie, ich bin ja nicht neugierig, aber bei uns passiert doch sonst nie was.“
Und dann habe es ein Geschrei gegeben. Günther habe auf Spanisch oder sonst einer Sprache, die man im Ausland so spricht, auf seine Frau eingeschrien, vermutlich kenne er diese Sprache aus dem Urlaub oder aus dem Umgang mit den Bauarbeitern an seinem Büdchen und habe sich besonders die Schimpfwörter gemerkt. Die Frau habe auch geschrien, aber das habe sie nicht verstanden, weil das so hoch und spitz gewesen sei.
Dann habe es Rumms gemacht und es wäre schlagartig Ruhe gewesen.
Da sei ihr alles klar gewesen und sie habe ja sofort Bescheid gewußt, der Kerl verhaute seine Frau, und deshalb sei sie sofort in ihr Haus gelaufen, sie kann ja nicht mehr so schnell, Rheuma, und habe dann die Schutzmänner angerufen.
Durch die Gardine und die Schlitze des wegen der Sonne heruntergelassenen Rolladens hätte sie aber noch gesehen, daß Günther dann wenige Sekunden später aus dem Haus gerannt sei. Dann sei noch der Motor von Günthers Auto zu hören gewesen und dann nur noch Totenstille.

„Ich hab sofort gewußt, da ist was passiert. Ich habe zu meinem Mann, das war als der noch lebte, immer gesagt, daß eines Tages mal was passieren würde.“

Man kann den Kriminalbeamten ja fast keinen Vorwurf machen.
Da erwischt ein Mann seine Frau mit einem anderen Mann im Bett und rastet aus. Er schlägt dem Nebenbuhler ins Gesicht und zertrümmert ihm die Nase, dann erklärt er die Beziehung für beendet und wirft seine Frau raus.
Die läuft vom Gartenhaus, wo sich das alles zugetragen hat, zum 400 Meter entfernten Wohnhaus, um einen Koffer zu packen. Die Nachbarin von gegenüber sieht, daß der Beschuldigte auch im Wohnhaus ist und bekommt mit, daß es dort wohl eine Auseinandersetzung gibt, die damit endet, daß es auf einmal totenstill ist und daß der Beschuldigte in wilder Hast das Haus wieder verläßt.
Als dann nach dem Anruf der Nachbarin die Polizei am Ort des Geschehens eintrifft und das Opfer in einer Blutlache mit eingeschlagenem Schädel da liegen sieht, ist unter Berücksichtigung der Aussagen der Nachbarin ja alles klar.

Es gibt sehr gute Kriminalbeamte, keine Frage. Aber diese hier wollten einfach nur schnell einen Erfolg verbuchen und wenn alles doch so sonnenklar ist, wozu dann noch irgendwas in Zweifel ziehen und in andere Richtungen ermitteln?

Günther bestritt die Tat.
Ja, er habe seine Frau recht grob angepackt, als er sie von dem anderen Mann weggezogen habe und er habe dem „Dreckskerl“ auch „die Fresse poliert“. Das sei ja wohl sein gutes Recht, da solle man ihm mit irgendwelchen Gesetzen von Leib bleiben, das interessiere ihn nicht.
„Wenn meine Frau und irgend so ein Lump herummachen, soll ich mich dann mit einem Glas Rotwein in der Hand daneben setzen und sagen: ‚So, jetzt diskutieren wir das erst einmal in aller Ruhe‘? Nichts da, da gehört dann erst mal Ordnung gemacht und dann sieht man weiter. Da muß man Fakten schaffen“, sagte er und schlug dabei mit der Faust seiner rechten Hand in seine flache linke Hand.

Günther saß tagein tagaus in seiner Zelle. Bei dem Gedanken, daß draußen alles weiter lief, wurde er fast verrückt. Seine ganzen Gedanken wurden allein davon gelähmt, daß er sich den Kopf zermarterte, wie er aus dieser Zwickmühle entkommen konnte, wie er da hinein geraten war, was wohl wirklich passiert sein könnte und wo seine Kinder jetzt waren. Aber ein Gedanke machte ihm besonders zu schaffen. Er hatte ja, und das schien im Moment jeder vollkommen außer Acht zu lassen, seine Frau aus tiefstem Herzen geliebt.
Niemals hätte er etwas mit einer anderen angefangen und er wäre im Traum nicht darauf gekommen, daß seine Frau fremdgehen würde. Es war mehr die Enttäuschung, als denn schiere Wut, die ihn dazu veranlaßt hatte, im ersten Moment, in diesem Bruchteil einer Sekunde, so zu reagieren, wie er reagiert hatte.
Sein Zorn wäre nicht geringer gewesen, wenn er durch Zufall von jemand anderem erfahren hätte, daß seine Frau es mit einem anderen Kerl treibt. Aber die Sache wäre anders ausgegangen.
Nur im ersten Jähzorn war er überhaupt zu einer solchen Reaktion fähig und in seinem ganzen Leben hatte er erst einmal, und das war als junger Mann, mal mit einem anderen Kerl Raufhändel gehabt.
Und rausgeworfen hätte er seine Frau dann auch nicht. Er liebte sie doch.
„Keine Ahnung, wie das dann weiter gegangen wäre, aber ich hätte doch alles getan, um meine Frau nicht zu verlieren. Aber im ersten Zorn, wenn einem das Blut in den Kopf steigt… da habe ich eben gesagt, sie solle ihr Zeug packen und verschwinden.“

Aber alle um ihn herum taten so, als seien er und seine Frau verfeindet gewesen. Deshalb gab man ihm wohl auch keine Auskunft, als er immer wieder danach fragte, was denn mit seiner Frau nun geschehe, die müsse doch bald mal beerdigt werden.

Sein Anwalt war es, der eines Tages mit ein paar Blättern Papier vor seiner Nase herum wedelte. Ob denn seine Frau jemals etwas darüber gesagt habe, wie sie bestattet werden wolle.
Günther fragte nur, ob er denn bei der Beerdigung dabei sein dürfe und der Anwalt hob nur die Schultern. Das könne er natürlich, aber das sei keine gute Idee, meine er.

„Die wollte verbrannt werden, hat sie irgendwann mal gesagt, als wir bei Tante Trudel auf dem Friedhof waren. So ein kleines Grab, das nicht viel Arbeit macht…“

——–

Günthers Prozeß war auf nur zwei Tage angesetzt. Die Staatsanwaltschaft wollte sicher gehen, daß sie alle Indizien und die Zeugenaussage von Frau Klemm ausreichen ausführlich vorstellen konnte.
Günthers Anwalt hatte drei Zeugen laden lassen. Das erschien zunächst wie der hilflose Versuch, durch drei Personen, die von der Tat nichts mitbekommen hatten, den Leumund des Angeklagten gut aussehen zu lassen.
Daß einer dieser Zeugen dem Prozeß eine ganz überraschende Wendung geben würde, das ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand.

Für Günther war es sehr belastend, als der Staatsanwalt Dr. Klippfisch fast einen ganzen Leitz-Ordner vorlas, in dem sein ganzes Leben öffentlich ausgebreitet wurde. Günther war erstaunt, was der alles wußte, da waren auch Kleinigkeiten dabei, die er selbst längst vergessen hatte. Fast eine Stunde dauerte es, als der Staatsanwalt in dramatischen Worten schilderte, was Günther für ein schlechter Mensch sei und wie es zu der Tat gekommen sei. Für etwas, das für Günther nicht länger gedauert hatte, als ein Blitz am Himmel, brauchte der wirklich fast eine Stunde.

„Die sezieren dich da. Die haben alle Zeit der Welt und vierzig Kilometer Papier, um alles haarklein aufzuschreiben und dir vorzuhalten. Und du sitzt da, als armes kleines Würstchen und kannst immer nur deine Version der Geschichte erzählen, die dir sowieso keiner glaubt.“

Günthers Anwalt hielt dagegen, daß sein Mandant bisher vollkommen unbescholten sei und überhaupt kein Spanisch könne.
Zunächst wirkte der Anwalt etwas unbeholfen und der geschmeidige Staatsanwalt schien Oberwasser zu haben, doch Günthers Anwalt hatte offensichtlich seine berufliche Gewandtheit nur scheinbar unter dem Mäntelchen der Unbedarftheit versteckt.
Man konnte es dem Staatsanwalt ansehen, wie zornig und verblüfft er zugleich war, als Günthers Anwalt die Hauptbelastungszeugin Frau Klemm innerhalb von nur zwölf Minuten so verunsichert hatte, daß diese nicht einmal mehr wußte, ob sie an dem betreffenden Tag Geranien oder Kakteen gezupft hatte.
Ja nein, gesehen habe sie Günther überhaupt nicht, aber wer soll das denn sonst gewesen sein?
Nö, sicher sei sie sich nicht wirklich, aber das sei ja immer nur Günther gewesen, der wohne doch da.
Also, so richtig gesehen habe sie den Täter nicht und überhaupt habe sie ja die Tat nicht gesehen, sondern nur gehört und ob das Spanisch gewesen sei, das wisse sie so genau auch nicht, jedenfalls sei es mal kein Deutsch gewesen.

Günther könne aber gar keine anderen Sprachen, hielt ihr der Anwalt vor und ließ dann den Koffer vor Frau Klemm hinlegen, den Günthers Frau vom Schrank gezogen hatte.
„Ja ja, das ist der, den erkenne ich genau wieder.“

Der sei doch aber eindeutig blau und weder hellbraun noch kariert. Ob sie denn überhaupt noch so gut sehen könne, daß sie hier und jetzt eindeutig behaupten könne, Günther gesehen zu haben oder ob es nicht doch ein anderer Mann gewesen sein könne.

Sie geriet ins Stottern, die Aussage ins Wanken.
Dann kam der Anwalt auf einen ganz anderen Punkt zu sprechen. Nach Aussage von Frau Klemm, habe Günther den Tatort ja mit dem Auto verlassen.
Das habe sie jetzt zwar auch nicht so genau gesehen, nur durch die Schlitze vom Rolladen, wie der Mann da weggerannt sei. Dann habe sie aber das Brummen vom Motor gehört und wie da ein Auto schnell wegfährt, da sei sie sich ganz sicher: „Da schwöre ich beim heiligen Bernhard, daß da ein Auto weggefahren ist.“

„Mehr so ein tiefes Brummen, ein normales Autogeräusch oder noch was anderes?“ fragte der Anwalt nach und wollte eigentlich nur auf die Tatsache hinaus, daß Günthers Auto seit dem Mittag am Gehwegrand vor der Villa Kunterbunt gestanden hatte und nicht bewegt worden war.
Doch Frau Klemm sorgte für die nächste Überraschung. Nee, das sei ja ein ganz eigenartiges Geräusch gewesen, von diesem Auto da, das habe so gezischt.

„Wie gezischt?“

„Ja vor dem Losfahren, so als ob man Luft aus ner prallen Luftmatratze lässt und dann ein paar Sekunden später hat das nochmals so gezischt, wie wenn man beim Fahrrad die Luftpumpe vorne zu hält und dann das Ding so zusammendrückt. Haben wir als Kinder immer gemacht. Dann zischt die Luft unten raus und der Finger, wo man das Loch mit zu hält, der wird ganz heiß. Der Wagen hat so laut geklappert und gebrummt, wie so’n Omnibus.“

Nach dieser Aussage hatte Günthers Anwalt ein fast schon dämliches Grinsen auf dem Gesicht und der Staatsanwalt verdrehte die Augen. Dem war klar, daß soeben seine wichtigste Zeugin wertlos geworden war.
Erstens konnte sie den Angeklagten doch nicht eindeutig als Täter identifizieren und mußte zugeben, daß sie nur EINEN Mann gesehen hatte, nicht DIESEN Mann. Zweitens hatte dieser Mann eindeutig in einer fremden Sprache geschrien, was für den gebürtigen Moselfranken Günther völlig untypisch war.
Drittens hatte sie ganz eindeutig das Abfahrgeräusch eines LKW mit Druckluftbremse beschrieben und nicht das von Günthers Opel.

Wenn kleine Kinder eine Pfütze sehen und niemand sie hindert, dann nehmen sie gerne Anlauf und springen dann mit beiden Füßen hinein, damit es schön spritzt.
Genau so nahm Günthers Anwalt nun Anlauf und sprang mit beiden Füßen in die Aussage von Frau Klemm hinein.
Er nahm den blauen Koffer, durchmaß nach einem fragenden Blick zum vorsitzenden Richter den Gerichtssaal, stellte den Koffer neben einem Saalbesucher auf den Boden, sodaß Frau Klemm ihn nicht sehen konnte.

„Schauen Sie mal Frau Klemm, ist das hier der Koffer, den sie gesehen haben?“ fragte er und hob den blauen Koffer dann hoch. Bevor Frau Klemm antworten konnte, bedeutete er ihr mit einem Handzeichen und den Worten: „Jetzt nicht antworten“, daß sie noch warten sollte.
Dann stellte er den Koffer wieder hin und hob den selben Koffer abermals hoch und fragte:
„Oder war es dieser hier? Na, was meinen Sie? Überlegen Sie genau!“

Frau Klemm wiegte den Kopf hin und her und man konnte sehen, wie sie sich das Gehirn zermarterte.
Dann nickte sie, spitzte die Lippen und sagte im Brustton der Überzeugung: „Der erste, ganz klar, der erste Koffer war es, der zweite ist zu dunkel. Ich bin mir ganz sicher.“

„Frau Klemm, der Angeklagte sitzt da drüben. Sie haben ja vorhin ausgesagt, daß sie diesen Mann kennen“, sagte der Anwalt, während er mit dem Koffer wieder nach vorne trat und auf Günther deutete. „Schauen Sie ihn sich doch noch einmal ganz genau an. Da steht ja noch ein Mann hinter meinem Mandanten, was hat der an?“ Dabei deutete er auf den Justizbeamten, der hinter Günther an der Tür stand.

Frau Klemm steckte ihre Zunge zum Mundwinkel heraus, so angestrengt kniff sie die Augen zusammen. Günthers Anwalt hatte darauf hinaus gewollt, daß die offensichtlich sehschwache alte Dame nun die Kleidung des Justizbeamten falsch beschreiben würde.
Doch was machte die? Sie sprang von ihrem Stuhl auf, schlug die linke Hand vor den Mund und rief:
„Mein Gott, der war es, ja, ich bin mir sicher, der da war es. Der hat die Frau von dem da tot gemacht. Den habe ich gesehen!“ Dabei deutete sie auf den Justizbeamten.

Das war der Moment, als im Saal Gelächter aufbrandete, was der Richter sofort unterband und in dem der Staatsanwalt seufzend in seinem Sessel zusammensackte.

An dieser Stelle des Prozesses kamen dann die drei weiteren Zeugen zu Wort. Fast schon hatte Günthers Anwalt auf deren Vernehmung verzichten wollen, so sicher war er sich, daß der Prozeß nun Frau Klemms Aussage platzen würde. Doch jetzt waren sie einmal da.
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie oft und eindringlich diese Leute schon vernommen worden waren. Der eine kannte Günther schon jahrelang und arbeitete beim Getränkemarkt dort im Gewerbegebiet. Er schilderte, daß Günther ein ganz Netter sei, der keiner Fliege was zu Leide tun könne.
Der zweite war zu jener Zeit Polier auf einer der Baustellen gewesen und gab ab, es seien an diesem Tag Betonplatten geliefert worden. Das habe ein Subunternehmer eines Subunternehmers gemacht und die Fahrer seien alle aus Bulgarien oder Moldawien, auf jeden Fall so Wodkasäufer, so genau wisse man das ja nie und es sei ja auch egal, sowieso alles Polacken.

Der dritte Zeuge war ein Mann, der regelmäßig bei Günther Limonade gekauft hatte und eigentlich aussagen sollte, daß Günther ein ganz ruhiger und gemütlicher Typ sei.
Wie gesagt, die Männer waren alle mehrfach schon befragt worden. Doch jetzt vor Gericht sagt dieser Typ dann doch auf einmal: „Ja, ist doch klar, der kann das doch gar nicht gewesen sein. In der Zeitung hat gestanden, daß die Nachbarin um viertel vor den Schrei gehört hat. Genau um viertel vor war der Günther aber bei mir am Lager vorbei gelaufen, den hab ich ganz genau gesehen, mir war das aufgefallen, weil der so einen roten Kopf hatte und daher stampfte wie ein Walross.
Ich denk noch, was macht der Günther hier, um diese Zeit, da verkauft der doch in seiner Budengarage sein Zeug, aber wissen sie was, ich hab gedacht, dem ist vielleicht ne Katze weggelaufen oder so. Aber der war das, den hab ich gesehen, um genau viertel vor und die Zeit weiß ich, weil ich da kurz vor meiner Pause war und dingend brunzen mußte und überlegt hatte, ob ich noch vor der Pause schnell mal gehen soll.“

Die Sensation war perfekt!

Günther wurde freigesprochen und der Richter schrieb der Staatsanwaltschaft ins Gebetbuch, den richtigen Täter zu suchen und nicht den Erstbesten und Offensichtlichsten zum Täter abzustempeln. Eine Ohrfeige für den Staatsanwalt!

Nur Frau Klemm, die nach ihrer Aussage gleich mit dem Zeugenzettel zur Kasse nach unten gegangen war, stand da, als Günther mit seinem Anwalt das Gerichtsgebäude verließ und fragte einen der Zeitungsreporter: „Wie? War der das jetzt doch nicht?“

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Es interessiert die Leute ja eigentlich gar nicht, wie ein Prozeß ausgegangen ist. Wichtig für Ihren Umgang mit einem anderen Menschen ist da eher die Tatsache, daß der ja „immer von der Polizei abgeholt wird“ und „ständig seine Frau umbringt“ und daß ihm seine „Kinder weggenommen worden sind, die armen Kinder“.

Günther kehrte nach Hause zurück und stand vor dem Scherbenhaufen seiner Existenz.
Nun muß man wissen, daß Günther dazu neigt, seine Worte in leere Satzhülsen zu kleiden, sehr in Rätseln zu sprechen und immer wieder noch viel rätselhaftere Gegenfragen zu stellen.
Mit anderen Worten: Ich habe oft nicht verstanden, was er mir eigentlich sagen wollte.

Vielleicht sollte ich aber zunächst erzählen, wie ich Günther kennen gelernt habe.
Aber vielleicht ist es doch besser, wenn ich zuerst schildere, wie es mit Günther unmittelbar nach dem Prozeß weiter gegangen ist. Dann wird auch klar, warum ich ihn so und unter diesen Umständen kennen lernte. Jedoch muß man bei dem nun Folgenden berücksichtigen, daß ich mir das aus den rätselhaften Erzählungen von Günther, die sicherlich auch stellenweise nur seine Sichtweise wiedergeben, zusammenfügen muß.

Günther wurde aus der Haft entlassen, vor dem Knast von seinen Kindern, die ein Blumensträußchen in den Händen hielten, erwartet und dann fuhren sie in das Wohnhaus und lebten dort glücklich und zufrieden.

Schön, nicht wahr?

Aber leider eben nicht wahr.

Ich habe selten eine Lebensgeschichte gehört, die so von Schicksalsschlägen und dramatischen Ereignissen erfüllt war, wie die von Günther. Und demnach ist auch klar, daß es nicht mit „heiler Welt“ weitergegangen ist.

Günther hatte sich vor den Vorfällen, die zu seiner Festnahme und Inhaftierung geführt hatten, gerade ein neues Auto gekauft. Ein russischer Geländewagen, mit dem man auch mal was Schweres für Haus und Garten transportieren konnte, auf Abzahlung.
Finanziell war es für Günther bis zu seiner Haftentlassung ganz gut weiter gelaufen. Alle anfallenden festen Beträge waren automatisch abgebucht worden, doch jetzt war das Ersparte aufgebraucht und das Konto gehörig im Minus.
Aber das würde schon werden, schließlich hatte er ja eine gute Position bei der Bahn und ging wie selbstverständlich davon aus, daß man ihn weiter beschäftigen würde, schließlich war seine Unschuld ja bewiesen und ein ordentliches Gericht hatte ihn von jeglicher Schuld frei gesprochen.
Mit dieser Hoffnung verließ Günther also nun das Gefängnis und als das große, blaue Eisentor hinter ihm krächzend und quietschend über die Stahlschiene am Boden rollte und schließlich den Ausgang der Justizanstalt verschloss, da war es, als nehme ihm jemand eine zentnerschwere Last von den Schultern. Minutenlang stand er da, mit geschlossenen Augen und saugte die frische Luft durch seine Nasenlöcher ein.
Es hupte und Günther öffnete die Augen und sah auf der anderen Straßenseite seinen neuen Geländewagen. Sein Freund Horst, ein ehemaliger Arbeitskollege, beugte sich aus dem heruntergekurbelten Fenster und rief: „Na Alter, wie sieht’s aus? Lust auf ’ne kleine Spritztour?“
Dabei hielt er den Zündschlüssel aus dem Fenster und klingelte mit den Schlüsseln.

Günther hatte sich schon innerlich darauf vorbereitet, mit der Straßenbahn nach Hause fahren zu müssen und freute sich, daß Horst sich den Schlüssel besorgt und ihm den Wagen zum Knast gefahren hatte.
Flugs warf er seine Sporttasche auf den Rücksitz, Horst rutschte rüber und Günther setze sich ans Steuer. „Mal sehen, ob ich das noch kann“, sagte er und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
„Das verlernt man nicht, das ist wie Radfahren, das steckt in einem drinne“, meinte Horst und schlug seinem Freund auf die Schulter: „Los, lass uns fahren!“

Günther hatte natürlich nichts verlernt, Horst hatte da vollkommen recht. Aber das half alles nichts.
Sie waren etwa drei Kilometer durch den um diese Tageszeit recht dünnen Stadtverkehr gefahren, da kam es an der Ecke Rudolfstraße/Goethestraße zu einem folgenschweren Unfall.
Eine 23jährige junge Frau hatte an einer Ampel nicht angehalten und Günther rauschte ihr mit knapp 50 Sachen trocken und knackig in die Seite ihres ebenfalls noch recht neuen VW-Polos.
Zwar kam die Frau dabei durch die Wucht fast auf dem Beifahrersitz ihres Volkswagens zum Sitzen, doch war ihr, abgesehen von ein paar heftigen Prellungen, nichts weiter passiert. Horst hatte sich den Kopf angeschlagen und blutete aus einer Wunde über der rechten Augenbraue wie ein Schwein, aber auch ihm war nichts wirklich Ernsthaftes passiert.
Günther hingegen war in seinem Sitz so heftig nach vor geschleudert worden, daß er minutenlang wie tot in seinem Gurt hing.
Es folgte der übliche Auflauf von Neugierigen, dann rief jemand die Polizei und einen Krankenwagen und am Ende wurde Horst auf der Straße verpflastert, während Günther und die junge Frau in Krankenhäuser abtransportiert wurden.
Kurz erzählt wurde Günther schon am nächsten Tag wieder entlassen und abermals war es Horst, der ihn abholte.
Diesmal ohne Auto.
Das war nämlich kaputt, total kaputt.

„Komm, wir gehen nach Hause“, sagte Horst, hakte seinen Freund unter und meinte: „Da wär‘ noch was, was ich Dir sagen muß.“

„Was denn? Was Schlimmes?“

„Hm, schon…“

„Na, dann erzähl‘ mal, was soll mich jetzt noch aufregen können?“

Doch was Horst ihm erzählte, das regte Günther dann doch auf. Jutta, die Schwester seiner Frau, und Helmut, deren Mann, erhoben Anspruch auf das Haus von Günther und waren schon mehrfach mit dem Zollstock durch das Haus gegangen, so als sei es ihres.

„Wie kommen die denn dazu? Die haben doch den Kontakt zu uns abgebrochen. Was machen die in meinem Haus?“ regte sich Günther auf und Horst erklärte ihm: „Das wirst Du schon noch sehen. Jutta erbt einen Teil, das hat Deine Frau so verfügt und den Teil will Jutta haben. Du wirst sie also ausbezahlen müssen und da das Haus noch nicht abbezahlt ist, wird sich die Frage stellen, wer am Ende den längeren Atem hat.“

„Na, das ist ja wohl klar, den werde ich haben, das ist schließlich mein Haus. Da werde ich den längeren Atem haben“, wetterte Günther und die Leute in der Straßenbahn, die die beiden Freunde notgedrungen hatten nehmen müssen, drehten sich neugierig zu ihnen um.

„Auch finanziell?“ fragte Horst nach und fügte noch hinzu: „Recht haben und Recht bekommen – das sind manchmal zwei Paar Schuhe…“

——–

Man könnte ja nun glauben, Günther habe sein Haus sowieso gehört. Seine Hälfte plus die Hälfte von dem was seine Frau hinterlassen hatte und der Rest ging an die Kinder, oder so. Aber die Sache stellte sich dann doch etwas anders dar. Da Günther und seine Frau damals nicht einen Hausbau finanzieren konnten, hatten Günthers Schwiegereltern ihm und seiner Frau finanziell großzügig beim Kauf des Hauses unter die Arme gegriffen und und sich deshalb mit ins Grundbuch schreiben lassen.

Nach deren Tod hatten Günthers Frau und deren Schwester die Anteile der Eltern geerbt, bloß hatte Günther lange schon verdrängt, daß seine Schwägerin diesen kleinen Anteil besaß.

Die Verstorbene hatte sich nichts Böses dabei gedacht, als sie ihrer Schwester einen Großteil des Hauses vermachte. Auch wenn die Schwestern sich nicht besonders nahe standen, so war die Schwester doch die Patentante der Tochter und Günthers Frau hatte sich wohl gedacht, daß auf diese Weise die Schwester enger gebunden würde und sich im Falle eines Falles um die Kinder kümmern würde.

Egal wie, am Ende war es so, daß Günther nur etwa ein Viertel des Hauses beanspruchen konnte und aufgrund seiner strapazierten finanziellen Lage gar nicht genug Geld hatte, um seine Schwägerin auszubezahlen.

Die aber hatte ja schon durch das Ausmessen der Wohnräume gezeigt, daß sie ein sehr starkes Interesse an dem Haus hatte und so kam es, daß Günther irgendwann aufgab, seine Habseligkeiten in Kisten und Kartons packte und vom Wohnhaus in die Villa Kunterbunt zog.

Ich erinnere mich noch daran, daß ich damals gesehen habe, wie Günther und Horst da Kisten schleppten und daß schon 14 Tage später ein Gerüst vorne am Haus deutlich zeigte, daß da jetzt jemand gründlich renoviert.

Allein über die schnippischen Auftritte der Schwester und ihres Mannes könnte man ein ganzes Kapitel schreiben, aber das erspare ich mir und den Lesern, denn es gab damals ganz andere Entwicklungen, die viel spannender waren.

Zum Beispiel war es ja noch immer völlig ungeklärt, wer Günthers Frau erschlagen hatte. Die müde anlaufenden Ermittlungen gingen nun in eine ganz andere Richtung und die Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft taten so, als sei das nun die neueste Erkenntnis der Welt: man suchte einen haarigen Lastwagenfahrer!

Die Baustelle, von der man annahm, dort könnte dieser Arbeiter Beton geliefert haben, wurde zwar von einem deutschen Bauunternehmen geführt, tatsächlich hatte man aber die verschiedenen Bautätigkeiten, also die Gewerke, an unterschiedliche Subunternehmer weitergegeben.
Die wiederum hatten auch wieder Subunternehmer, vornehmlich aus dem Ausland, beschäftigt und so kam es, daß auf der Baustelle fast keiner die selbe Sprache sprach. Allen gemeinsam jedoch war, daß kaum einer Deutsch konnte, man sich untereinander gar nicht kannte und die Ermittler sich schwer taten, da durch zu blicken.

Einige hundert Meter von der Baustelle entfernt hatten sich beispielsweise polnische Bauarbeiter eine Wagenburg aus Kleinwagen und Zeltplanen errichtet, in der sie unter jämmerlichen hygienischen Verhältnissen hausten.
Ein ganzes Rudel Bulgaren wohnte in drei Wohncontainern am anderen Ende der Stadt. Es hieß, die Bulgaren müßten immer verschwinden, wenn die Kontrolle kam.
Ein paar Zimmerleute aus Irland oder Schottland, das wußte keiner so genau, hatten sich auf dem ungenutzten Gelände unter der Autobahnbrücke im Süden der Stadt einige Wohnwagen aufgestellt.

Sagen wir es mal so, die waren alle haarig, vor allem die Bulgaren.
Mehr Anhaltspunkte hatte man nicht und viel weiter kam man auch nicht, denn die häufigste Antwort, die die Ermittler zu hören bekamen, lautete: „Nix verstehen!“
Und man muß natürlich dazu sagen, daß man in der Ermittlungsarbeit wohl auch ziemlich halbherzig vorgegangen ist. Zu groß war die Niederlage vor Gericht gewesen, als Günther, den man schon als Täter sicher überführt glaubte, freigesprochen worden war.
Hätte man nun nach kurzer Zeit den richtigen Täter gefunden, dann hätten Presse und Öffentlichkeit mit Recht gefragt, warum man den denn nicht gleich ermittelt habe.
Wenn es Günther schon nicht gewesen sein konnte, so sah die Polizei auf jeden Fall besser aus, wenn der wahre Täter der große Unbekannte blieb.

Günther begann also in jenen Tagen sein Leben in der Villa Kunterbunt, stellte den Verkauf von Gemüse und Limonade ein, als die meisten Bauarbeiten abgeschlossen und die Arbeiter weitergezogen waren und ließ den vorderen Teil des Grundstücks zuwachsen. Von der Straße aus sah man forthin nur noch die Garage und ansonsten sehr viel Grün.

Horst war ihm in dieser Zeit eine große Stütze, doch mußte Horst arbeiten, während Günther noch eine Krankmeldung hatte. Durch den Unfall hatte er sich einen Nackenwirbel verletzt und diese Verletzung wurde immer schlimmer.
Dem maß Günther aber zunächst keine große Bedeutung bei. Viel schlimmer für ihn war, daß die junge Frau, mit deren Auto er zusammengestoßen war, nun auf einmal nicht mehr das arme, hilflose Mäuschen war, sondern über ihren Anwalt mitteilen ließ, er habe das Rotlicht der Ampel mißachtet und sei damit Schuld am Unfall.

Genau in dieser Zeit trat Leo in Günthers Leben.
Leo war ein Tunichtgut aus dem Hamburger Hafen. Jemand, der sich sein Leben lang für ein paar Mark am Tag mit Tagelöhnerdiensten durchgeschlagen hatte und kein geregeltes Leben führte.
Als ihm irgendeine klitzekleine Größe aus dem dortigen Milieu drohend ein Messer an den Hals gehalten hatte, hatte Leo seine sechs Unterhosen, zwei blaue Latzhosen und drei gestreifte Fischerhemden in einen Seesack gepackt und war schwarz von Hamburg bis hier in die Stadt gefahren.
Erst hatte er einige Wochen „Platte gemacht“, also auf der Straße gelebt, dann hatte ihm jemand den Tip gegeben, daß man auf dem Campingplatz unten am Fluß ganz billig im Zelt wohnen könne und wenigstens sanitäre Anlagen hätte.
Etwa zwei Jahre hatte Leo im Zelt gewohnt, was offiziell so gar nicht erlaubt war, von den Behörden aber geduldet wurde, dann war ein Saufkumpel vom Campingplatz besoffen in den Fluß gefallen und hinterher im Krankenhaus an Lungenentzündung gestorben. Und dieser Saufkumpan hatte Leo, im Beisein anderer Freunde der hochgeistigen Getränke quasi auf dem Sterbebett seinen Wohnwagen vermacht.
Tatsächlich haben solche mündlichen Testamente, geäußert vor genügend Zeugen, wohl sogar rechtliche Wirkung, aber das brauchte es gar nicht, niemand zweifelte Leos Inbesitznahme des kleinen Wohneis an.

Nur konnte Leo die nun vom Campingwirt geforderte höhere Standgebühr nicht bezahlen und so drohte man Leo, ihn mitsamt seines Wohnwagens einfach in den Fluß zu schmeißen.
Da kam Leo die Idee, bei Günther vorzusprechen, bei dem er früher schon mal ein paar Zwiebeln und den einen oder anderen Träger Bier gekauft hatte, und ihn zu fragen, ob er denn nicht seinen eiförmigen Kleinwohnwagen auf dessen Grundstück abstellen könne.

„Ich saß sowas von selbst in der Scheiße, da war ich froh, daß der Leo mit seinem Wohnwagen kam, dem es noch dreckiger ging. Eben noch war ich der Abschaum, der nur in einer Laube wohnt und eine Stunde später war ich auf einmal der, der einen Stellplatz vermietet auf dem einer in einem Wohnwagen lebt“, hat Günther später mal erzählt.

Nun muß man sich den Leo so vorstellen:
Ein kleiner, dürrer Mann mit sehr langen Gliedmaßen und einem langen und ebenfalls dünnen Hals. Der Kopf schien für diesen Hals viel zu groß zu sein, wenngleich bei näherer Betrachtung Leos Kopf kaum größer war, als der von anderen Menschen.
Über den Ohren hatte Leo zwei sonnengelbe blonde Haarinseln, die sich am Hinterhaupt nur mühsam noch trafen, ansonsten war er kahl, was man aber selten sah, denn die meiste Zeit trug er eine speckige Prinz-Heinrich-Mütze.
Gekleidet war Leo immer (und ich betone das Wort immer) mit einer ehemals blauen Latzhose mit dem Schriftzug „Stauerei Hansen und Sohn“ auf dem Latz und einem gestreiften, kragenlosen Fischerhemd. Dessen Ärmel waren sommers wie winters hochgekrempelt, damit man die verwaschenen, grau wirkenden Tätowierungen auf seinen Unterarmen sehen konnte.
Ich habe Leo oft gesehen, es war mir jedoch nie möglich, von diesem grauen Mischmasch mehr zu erkennen als einen Schiffsanker.
Nein, nein, der Fleck da neben seinem Auge, das sei keine Knastträne, da habe ihn der Tätowierer aus Versehen getroffen, als er besoffen vom Stuhl gefallen sei. Wer? Er oder der Tätowierer?
„Weiß ich nicht mehr, da war ich besoffen.“

An den Füßen trug der etwa 60jährige Leo ausschließlich ganz dünn gelaufene holländische Holzschuhe, so wie es selbst in Holland nur noch die ganz Alten oder Traditionsbewußten tun. Es gebe nichts Bequemeres und Haltbareres. „Im Sommer trägste die barfuß und im Winter mit dicken Stricksocken, das ist so schön muggelig.“
Alles in Allem behauptete Leo, er sei quasi jahrzehntelang zu See gefahren und er konnte Stunden am Stück von der Umschiffung von Kap Horn und Fahrten durch die Südsee erzählen.
Und jeder hörte ihm gerne zu, obwohl jeder wußte, daß Leo niemals in seinem Leben aus dem Hafen weg gekommen war. Das heißt, einmal ist er ja doch weg gekommen und zwar in jenes Wohnei, das nun hinter Günthers Garage zwischen zwei Pflaumenbäumen stand.

Leo wäre für den weiteren Fortgang der Geschichte völlig ohne Belang und ich hätte gar nicht von ihm erzählen müssen, jedoch sollte er eine Idee haben, die ihn, Günther und Horst auf die Spur des Mannes bringen sollte, der der Täter sein konnte.

——–

Nun darf man sich das nicht so vorstellen, als ob Günther und Leo die dicksten Freunde geworden wären. Das war immer mehr so ein Verhältnis zwischen Vermieter und Mieter oder Unter-unter-unter-Mieter.
Trotzdem verstanden sich die beiden ganz gut, hielten mehrmals am Tag ein kleines Schwätzchen miteinander, aber ansonsten ging jeder seiner eigenen Vorstellung von einem geregelten Tagesablauf nach.

Bei Günther bedeutete das, daß er Schriftstück um Schriftstück auf einer alten, aber immerhin schon elektrischen Schreibmaschine tippte, um seine Kinder wieder zu bekommen.
Ich habe ehrlich gesagt Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, wie viele Kinder Günther wirklich hatte und wie sich das alles im Einzelnen verhielt.
Ich schrieb ja schon mal, daß es manchmal recht schwierig war, aus Günther etwas heraus zu bekommen.
„Ja weißt Du, das muß man mehr im Gesamten sehen, das ist alles so eine Sache, wie würdest Du das denn beurteilen und kennst Du die Geschichte von Sokrates und dem Hund? So global ist das ausgerichtet, mehr so universell, also ich will mal sagen, jetzt frag ich Dich!“
So oder so ähnlich lauteten manche seiner Sätze und man saß dann da mit etwas offenem Mund und wußte nun gar nicht mehr, was man sagen sollte; hatte man doch eigentlich eine ganz klare Antwort auf eine noch viel klarere Frage erwartet.

„Nein wirklich, wie würdest Du das denn sehen? Die Frage ist doch eher was Unklares. Ich meine, die Sachlage an sich ist klar, bleibt bloß die Frage.“

Wie gesagt, es war nicht einfach, mit Günther zu sprechen.

Nach meinem damaligen Erkenntnisstand handelte es sich nicht nur um zwei, sondern um drei Kinder.
Offenbar hatte Günther, woher auch immer, ein Mädchen mit in die Ehe gebracht und zusammen mit seiner jetzt verstorbenen Frau hatte er zwei Kinder, auch ein Mädchen und dann noch den behinderten Jungen.
Alle Kinder waren in unterschiedlichen Heimen untergebracht und man wollte Günther partout nicht sagen, in welchen Heimen. Da sei erst noch einiges zu klären und man sei sich nicht sicher, ob das für die Kinder gut sei, wenn er jetzt dort auftauchen würde und bevor das Familiengericht nicht über seine Anträge entschieden habe, sei auch gar nicht daran zu denken, die Kinder wieder zu ihm zu lassen.

So verbrachte Günther jeden Tag eine bis zwei Stunden damit, Briefe von Behörden zu lesen, zu beantworten und abzuheften. Zwei bis drei Stunden widmete er sich der Gartenarbeit, denn allmählich wurde er mehr und mehr zum Selbstversorger.

Wie aus heiterem Himmel meldete sich sein Arbeitgeber und forderte ihn auf, seine Arbeit wieder aufzunehmen oder am soundsovielten des Monats beim Dienstarzt zu erscheinen.
Psychisch war Günther zu dieser Zeit ein Wrack. Man stelle sich vor: Da wird nicht nur der geliebte Ehepartner ermordet, sondern man läßt einem noch nicht einmal die geringste Chance, um diesen geliebten Menschen anständig zu trauern. Stattdessen wird man verdächtig, diesen Menschen umgebracht zu haben, wird vor den Augen der gafernden und neugierigen Meute vor Gericht gestellt, von den Boulevardzeitungen schon als „Schlächter“ und „Frauenmörder“ vorverurteilt und dann, nach erwiesener Unschuld, mehr oder weniger schutzlos mit einem Arschtritt wieder in die Freiheit gestoßen.
Und in dieser Freiheit fängt einen keine intakte Familie in einem trauten Heim wieder auf, sondern man ist sein Haus los, seine Familie ist zerschlagen und man ist auch noch krank, verletzt und einsam.

Es ist ja klar, wenn man schon so vom Pech verfolgt war, wie es bei Günther offensichtlich der Fall war, dann konnte es nicht ausbleiben, daß ihm auch noch die Mitschuld an dem Verkehrsunfall gegeben wurde. Dreimal mußte Günther bei der Polizei eine Aussage machen, dann wurde er wieder vor Gericht zitiert. Die gegnerische Versicherung hatte ihn verklagt, seine eigene Versicherung hielt dagegen, aber unterm Strich war es so, daß Günther am Ende seinen eigenen Schaden selbst zu tragen hatte.

Das allein ist schon schlimm genug, denn bei einem solchen Totalschaden ist man dann eben sein Auto los. Aber bei Günther kam ja noch hinzu, daß er das Auto noch gar nicht lange gehabt hatte und es ein finanziertes Auto war. Das heißt, es war mit einem Schlag das Auto und die hohe Anzahlung futsch und er sollte noch viele Jahre an den monatlichen Ratenzahlungen zu kauen haben.

Beruflich sollte es auch nicht rosig laufen. Durch den Unfall hatte Günther noch jahrelang Schmerzen in den Schultern und im Nacken und schluckte deswegen eigentlich unentwegt irgendwelche Schmerztabletten. Besonders bei feuchtem Wetter konnte er sich kaum bewegen.
Der Dienst- oder Vertrauensarzt war ein alter Komisskopp und fackelte nicht lange herum. Günther sei ein notorischer Krankfeierer, der sich nur vor der harten Arbeit im Freien drücken wolle und eine Kur oder Erholungsmaßnahme komme gar nicht in Frage.

Nein, Günther sei nicht nur berufsunfähig, sondern arbeitsunfähig und „selbst zur Ausführung leichter Tätigkeiten, die etwa im Sitzen ausgeübt werden können, nicht in der Lage“.
Auf diese Weise wurde Günther quasi von heute auf morgen in einem völlig unangemessenen Alter zum Frührentner mit Minirente.

Ein Versicherung, die ihm irgendwie weiter geholfen hätte, hatte Günther nicht. Weder war das Auto vollkaskoversichert, noch hatte er eine Berufsunfähigkeitsversicherung oder dergleichen.
„Das haben wir alles aufgelöst, weil wir doch das Haus hatten, da ist jeder Pfennig reingesteckt worden.“

Ganz genau konnte ich nie herausfinden, wie das mit dem Haus von Günther gelaufen ist. Wenn ich alle Puzzlesteine sortiere, dann schaut es so aus, daß ihm und den Kindern zwar ein gewisser Anteil gehörte, er aber letztlich nicht in der Lage war, die Ansprüche seiner Schwägerin zu befriedigen.
Natürlich hätte er die Schwester seiner Frau ausbezahlen können, aber wovon?
Stattdessen wedelte die mit dem Geld und war auch bereit, die laufenden Hypothekenraten zu bezahlen. Irgendwann ist Günther dann eingeknickt und hat für eine lächerliche Abstandssumme seine Unterschrift bei einem Notar unter die Überschreibungsurkunde gesetzt.
„Damit war das Haus weg und die konnten sich ins gemachte Nest setzen.“

Von alledem wußte ich noch gar nichts als ich Günther kennenlernte, denn der Mann kam zunächst wie ein ganz normaler Kunde zu mir. Er stand eines Tages in meinem Bestattungshaus und hielt mir ganz bescheiden zwei Briefe hin. Seine Frau sei vor längerer Zeit gestorben und er wisse jetzt gar nicht so genau, wo die denn beerdigt sei und nun wolle er das doch aber gerne wissen, weil er doch zu gerne ab und zu ein paar Blümchen dahin bringen würde.

Nun, das war das geringste Problem. Ein einziger Anruf beim Friedhofsamt reichte aus, um die Grablage zu erfahren und ich wunderte mich damals, wie es denn wohl dazu gekommen sein könnte, daß dieser Mann das Grab seiner Frau nicht kannte.
Normalerweise hätte man einfach gefragt, aber ich wollte nicht unhöflich sein und hatte den Kopf auch voll mit anderen Sachen. Deshalb schrieb ich ihm, ohne weiter darüber nachzudenken, den Namen des Friedhofs und die Feld- und Reihennummer auf einen Zettel.
„Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich bitte an“, sagte ich noch, reichte ihm den Zettel, schüttelte seine Hand und dann war er auch schon wieder weg.

Wenig später hatte Günther dann mit meinem Zettel auf dem Friedhof vor einer großen Wiese gestanden und fragte sich, an welcher Stelle seine Frau wohl liegen könnte.
Man hatte sie einfach anonym bestattet, ohne Grabstein, Kreuz oder einen sonstigen Hinweis.

Günther war enttäuscht und legte das kleine Sträußchen Nelken in der Nähe des Kriegerdenkmals ab und ging nach Hause.

———

Die Männerwohngemeinschaft von Günther und Leo entwickelte sich im Laufe der Zeit da hin, daß die Männer stumm aneinander vorbei lebten. Man grüßte sich, man wechselte einen, höchstens zwei Sätze und ansonsten beschränkte sich die Kommunikation auf den Austausch so wichtiger Hinweise wie „Klopapier is‘ alle.“

Im Grunde waren Günther und Leo auch viel zu verschieden, als daß sie auf ewig dicke Freunde sein könnten. Es war eher Toleranz und Abstandhalten, die das Verhältnis ausmachten.

Ging es aber einem von beiden dreckig, dann war der andere für ihn da.

Wenn man Leo so erlebte, bekam man schnell den Eindruck, man habe es mit einem etwas minder bemittelten Trottel zu tun und einer der Hellsten war Leo ganz gewiss auch nicht. Aber er besaß so etwas wie eine fuchsige Bauernschläue und kam dadurch bei manchen Sachen leichter zum Ziel als Günther, der nur kompliziert und verquast formulieren konnte und immer alles viel zu umständlich anging.

Inzwischen hatte Günther aber trotzdem herausgefunden, daß seine drei Kinder in zwei Heimeinrichtungen untergebracht worden waren. Günther hatte zwei Mädchen, Monika und Ute, die erste muß damals so um die neun Jahre alt gewesen sein, das zweite Mädchen war etwa acht Jahre alt und dann war da ja noch Thomas, der schwer geistig behindert war und erst sechs Jahre alt war.

Die Mädchen waren in einer Einrichtung untergebracht, aber in verschiedenen Häusern auf einem riesigen Gelände und sahen sich nur bei seltenen Gelegenheiten. Thomas hatte man in ein Heim gebracht, in dem besonders auf seine Behinderung eingegangen werden konnte. Er konnte zu dieser Zeit nicht richtig sprechen, bewegte seine Arme sehr unkoordiniert und neigte dazu, die Kontrolle über seinen Stuhlgang zu verlieren.
Günther und seine verstorbene Frau waren aber in der Lage gewesen, es Thomas anzusehen und aus seinen unartikulierten Äußerungen entnehmen zu können, ob er hungrig war, ob er etwas trinken wollte oder ob er zur Toilette mußte. Daheim hatte er schon lange nicht mehr in die Hose oder ins Bett gemacht.
Im Heim mußte Thomas mit einem helmartigen, ledernen, gepolsterten Kopfschutz herumlaufen, damit er sich nicht verletzen konnte. Es hatte auch niemand Zeit, ihn zu beobachten und ihm zuzuhören, sodaß man ihm einfach eine Inkontinenzwindel angezogen hatte, die die meiste Zeit des Tages vollgeschissen war, um es mal mit deutlichen Worten zu sagen.

Monatelang hatte Günther dem Jugendamt und den Heimen geschrieben, aber anfangs nur abschlägige Bescheide erhalten. Zum Erhalt des Kindswohles sei es erforderlich die Kinder bis auf weiteres in den Einrichtungen zu belassen und damit die Phase der Neuorientierung nicht gestört würde, könne man auch keine Besuche des Vaters zulassen.

„Biste doof?“ fragte Leo ihn eines Tages, „Was schreibste denen immer wegen Besuchen? Du willst die doch gar nicht besuchen, Du willst doch daß die Kinder bei Dir leben können, odda?“

„Ja schon, aber guck Dich hier mal um, schau Dir an, wie ich hier hause, da bekomme ich doch meine Kinder nicht zurück.“

„Dummzeuchs! Haste mal gesehen, wie die Kindern von den Baracklern aufwachsen? Die Kinder von den Leuten, die die Stadtverwaltung selbst in diese Obdachlosensiedlungen eingewiesen hat? Denen nimmt auch keiner ein Kind wech, ne! Un‘ Dir haben’se die Kinners ja auch man gar nich weggenommen, die sind da nur untergebracht. Du muß‘ nen ganz anderen Weg gehen.
Räum‘ hier ma‘ auf, mach die Betten für die Kinder fein zurecht, pack den Kühlschrank voll und dann frachste nich brav und demütig an, ob Du die Kinder denn vielleicht, eventuell, möglicherweise mal sehen darfst, sondern dann stellst Du die Forderung, daß Deine Kinder sofort und gleich hier bei Dir wohnen dürfen. Nich herumzaudern und lange fackeln, sondern gleich ma‘ auffen Putz hauen. Ihr seid doch schließlich eine Familie und Du bist der leibliche Vater. Mann ey, stell Dich mal auf die Hinterfüße, Günna!“

Günther überlegte fast zwei Wochen lang, schrieb etliche Entwürfe dieses für ihn wichtigen Briefes, verwarf alles wieder, fing wieder von vorne an und schließlich hatte er einen Brief getippt, der im wesentlichen genau das enthielt, was Leo ihm gesagt hatte.
Er forderte die sofortige Rückkehr seiner Kinder in seine Obhut als leiblicher Vater und betonte, daß seine Kinder von ihm rundherum versorgt werden könnten.

Und diesen Brief schickte er dieses Mal nicht nur an das Jugendamt, sondern auch an das Familien- und Jugendgericht.

Einige Wochen lang passierte gar nichts und Günther hatte auch diesen Brief schon als weiteren erfolglosen Versuch abgehakt. Dann kam ein Anruf vom Jugendamt, in dem ihn ein städtischer Sachbearbeiter aber sowas von böse abkanzelte, daß Günther regelrecht Herzbeklemmungen bekam.
Was ihm denn einfallen würde, an das Gericht zu schreiben, wie er denn auf die wahnwitzige Idee komme, die Kinder zu sich zu holen, er sei doch vorbestraft, arbeitslos und wohne unter unzumutbaren Umständen quasi in der Asozialität.

Doch einige Tage später hielt Günther dann einen Brief auf schäbigem Recyclingpapier in den Händen, der ihn zu einer Anhörung einbestellte. „Dieses Schreiben wurde maschinell ausgefertigt und ist ohne Unterschrift gültig.“
Später konnte Günther mir nicht genau wiedergeben, ob er nun zum Gericht oder zum Jugendamt einbestellt worden war, aber nach allem was ich mir da so zusammenreimen kann, könnte es durchaus ein Termin bei einem Familienrichter gewesen sein.

Auf jeden Fall ist er dort in seinem viel zu engen dunkelblauen Anzug hingegangen, hatte sich die mittlerweile etwas üppig gewordene Haarpracht mit Gel sauber nach hinten geglättet und seinen Rübezahlbart sogar abgeschnitten und sich richtig glatt rasiert.
So saß er dann da, nach billiger Seife riechend auf der einen Seite des Raumes und auf der anderen Seite hatten drei Leute vom Jugendamt Platz genommen, zwei Männer, die von der ganzen Sache offensichtlich überhaupt nichts wußten und nur deshalb da waren, weil der Buchstabe von Günthers Nachnamen in ihren Zuständigkeitsbereich fiel und eine Frau, die mit spitzer Nase und kleinen Mausaugen ihren Mund in Günthers Richtung spitzte und ihn mit einem abschätzigen Blick von oben bis unten musterte.

Der Richter, Rechtspfleger oder Amtsleiter sei dann in den Raum gekommen, habe alle kurz mit einem Nicken und etwas Gemurmeltem begrüßt, dann durch seine Halbbrille einige Seiten der dünnen Akte studiert und schließlich mit dem Wort „Bitte!“ Günther aufgefordert, zu sprechen.
Günther stand auf, rieb sich verlegen die schweißnassen Hände an der Hose ab und erzählte dem Richter (nennen wir ihn mal so) von den schönen Zeiten, die er mit Frau und Kindern verbracht hatte.
Dann schilderte er, daß seine Frau durch eine tragische Tat ums Leben gekommen sei und er sich als Vater nun um seine Kinder kümmern möchte.

Ein kurzes Nicken des Richters bedeutete ihm, sich wieder zu setzen und dann reckte der Richter sein Kinn auffordernd in Richtung der drei Amtspersonen. Die blieben natürlich sitzen und sonderten der Reihe nach für Günther unverständliches Pädagogengewäsch ab.
Je länger die Leute vom Jugendamt sprachen, umso mehr runzelte der Richter die Stirn.
Schließlich begann er, immer ungeduldiger werdend, mit dem Kugelschreiben auf den Aktendeckel zu tippen und dann schnitt er der Frau vom Jugendamt, die gerade den schrecklichen Charakter von Günther thematisieren wollte, einfach das Wort ab, indem er sich wieder an Günther wandte und fragte:

„Sie sind doch nicht vorbestraft, oder?“

„Nein, ich war in Untersuchungshaft und bin freigesprochen worden.“

„Sie sind aber arbeitslos?“

„Nein, auch das nicht. Ich bin erwerbsunfähig und beziehe Rente.“

„Haben die Kinder bei Ihnen eigene Zimmer oder wie sind sie untergebracht?“

„Jedes Kind hat sein eigenes Zimmer, jedes Kind hat sein eigenes Bett, nur den Thomas den lasse ich bei mir im Zimmer schlafen, der ist ein wenig zurück und auf den muß ich aufpassen.“

„Wie sieht es mit der Schule aus?“

„Die Mädchen sind ja sowieso in die Schule gegangen, der Thomas sollte jetzt noch ein Jahr warten und dann in das Schwersterndienstwerk von der Kirche gehen, die haben da doch diese Schule für Behinderte. Die holen den sogar zu Hause ab und bringen ihn abends wieder. Die Schule von den Mädchen ist ja nicht weit, ich bin ja nur einmal über die Straße gezogen, da ändert sich doch nichts.“

„Und die Betreuung?“

„Betreuung? Sie meinen, weil die Mutter tot ist? Na, sehen Sie, wenn meine Frau ganz normal gestorben wär‘, hätte auch keiner danach gefragt. Nur weil die behauptet haben, ich wär‘ das gewesen mit meiner Frau, deshalb waren die Kinder vorübergehend weg. Die mußten ja wo hin. Aber ich bin das nicht gewesen, ich bin ein freier Mann und jetzt ist das Vorübergehende vorbei, jetzt können die Kinder wieder zu mir nach Hause kommen. Ich weiß, was eine Mama machen kann, das kann ein Papa nicht, Kinder brauchen eine Mama und einen Papa. Wenn da nur eine Mama ist, dann fehlt der Papa und wenn da nur ein Papa ist, dann fehlt denen die Mama. Von dem ganzen Alleinerziehen-Mist halte ich nich‘ viel. Kinder brauchen beides, ’nen Papa und ’ne Mama.
Aber da in diesem Heim haben die weder Papa, noch ’ne Mama; und was ist denn da besser für die Kinder? Ich meine, wenn’se wenigstens beim Papa sein können, dann wär‘ das allemal besser als so’n Heim.“

Der Richter nickte kurz, dann schaute er etwa fünf Sekunden scheinbar gedankenverloren auf einen imaginären Punkt an der Decke, klappte den Aktendeckel wieder auf und sagte:

„Nach den Maßgaben des Paragraphen… unter Berücksichtigung der Umstände… bei Einbeziehung der Familienhilfe… außerordentliches Unrecht geschehen… Zustände nicht weiter tragbar… Auferlegung von Sofortwirksamkeit…“

Dann klappte er die Akte zu und bedankte sich bei den Anwesenden.

„Tschuldigung!“ rief Günther, „Ich hab das nicht verstanden! Was ist denn nun Sache?“

Der Richter mußte kurz grinsen und setzte sich wieder hin, er war nämlich schon aufgestanden und hatte nicht daran gedacht, seine Entscheidung auch in einem Deutsch zu formulieren, das Günther verstehen konnte.

„Sie können selbstverständlich sofort Ihre Kinder zu sich holen. Die Kinder haben ein Elternteil, für eine Heimunterbringung besteht überhaupt kein Grund. Das Jugendamt wird Sie bei Ihren Bemühungen, die Kinder zu betreuen, unterstützen. Hierzu habe ich angeordnet, daß die Kinder- und Jugendhilfe bei Ihnen nach dem Rechten sieht. So hat das Amt eine gewisse Kontrolle und Sie haben Ihre Kinder wieder“, sagt der Richter und wandte sich dann an einen der Herren vom Jugendamt, die das Zimmer schon fast verlassen hatten:
„Herr Schneidereit, wie sieht es denn aus, wann können die Kinder bei ihrem Vater sein?“

„Er kann sie abholen, wenn wir die Sache bearbeitet haben und ihm die entsprechenden Bescheide zugesandt haben.“

„Also heute Abend?“

„Was?“

„Heute Abend, nicht wahr?“

„Aber das geht doch nicht!“

„Warum nicht?“

„Wir müssen doch erst….“

„Was müssen Sie?“

„Ja aber…“

„Nichts ja aber. Abern sie hier mal nicht so amtlich herum. Ich erwarte, daß der die Kinder bis heute Abend abholen kann. Bescheide tippen, das können Sie auch anschließend noch!“

Mit diesen Worten und einem abermaligen kurzen Nicken in Günthers Richtung war der Richter dann durch die rückwärtige Tür des Raumes verschwunden.
Von der anderen Tür blitzten Günther die fast schon feindseligen Blicke der Leute vom Jugendamt an.
Doch Günther war glücklich, er konnte gar nicht fassen, daß das alles so gut für ihn gelaufen war.
Doch als er die Blicke der Leute vom Jugendamt sah, da wußte er: Von dieser Seite kommt nichts Gutes auf ihn zu!

——-

Es war keine große Sache, die Kinder wieder zu sich zu holen. Günther ließ sich einfach von seinem Freund Horst zu den Heimen fahren, sprach bei der Verwaltung vor und konnte seine Kinder mitnehmen.
Wer glaubte, hier würden sich jetzt noch irgendwelche Schwierigkeiten auftun, die der brave Mann zu überwinden hatte, der irrt. Nein, ganz im Gegenteil, es entwickelte sich Harmonie und Glückseligkeit.

Auf dem riesigen Grundstück hinter der Villa Kunterbunt, wie Günther nun seine Laube konsequent nannte, hatte er ja einen großen Swimming-Pool aufgebaut und gemeinsam mit Seemann Leo, dem Untermieter aus dem Wohnei, ein Baumhaus gezimmert und wer in diesen Tagen dorthin kam, der erlebte ein Idyll.

So und nicht anders hatte sich Günther das vorgestellt. Seine Kinder waren bei ihm und gemeinsam als Familie konnten sie den Verlust von Ehefrau und Mutter verarbeiten und in Ruhe und Frieden leben.
Schön!
Morgens kam der Abholbus für den behinderten Thomas, der eine vorschulische Einrichtung für Behinderte besuchte, und die beiden Mädchen konnten selbst den kurzen Weg zur Schule laufen.
Günthers Tagesablauf begann stets mit einer großen Kanne Kaffee und ein paar selbstgestopften Zigaretten, jedoch niemals, ohne zuvor ein Marmeladenbrot gegessen zu haben.
Dann weckte er die Kinder und überwachte das morgendliche Treiben rund um das einzige Waschbecken in der Küche, wo man sich gleichzeitig wusch, die Zähne putzte, Frühstück machte und sich auch ankleidete.

Günther und die Kinder liebten dieses ritualisierte Wecken, Aufstehen und Fertigmachen, zu dem immer der gleiche Gute-Laune-Sender aus dem Radio dudelte. Vor allem der behinderte Thomas brauchte diese gleichmäßigen Abläufe, je mehr sich sein Leben in festen Schienen bewegte, umso befreiter konnte er denken, leben und atmen. Alles, nur keine Veränderungen!

So mochte Thomas morgens immer eine durchgeschnittene Scheibe Brot und auf der einen Hälfte mochte er Erdbeer-Rhabarber-Marmelade und auf der anderen Hälfte Nutella. Beide Brothälften mußten exakt gleich groß sein und nur so und nicht anders mußte für ihn der Tag beginnen.
Einmal war die Erdbeer-Rhabarber-Marmelade alle, weil seine Schwester Monika den letzten Rest genommen hatte. Günther machte ihm dann eine Hälfte seines Brotes mit reiner Erdbeermarmelade und glaubte, den kleinen Unterschied würde Thomas doch gar nicht bemerken…
Doch da hatte Günther sich geirrt. Das folgende Theater, als Thomas schreiend und weinend das Frühstücksbrettchen mit dem Erdbeermarmeladenbrot wegstieß und dann den ganzen Tag nicht mehr ansprechbar war, wird Günther nie vergessen. Der schwer geistig behinderte Junge konnte eben Veränderungen nicht verarbeiten.

Doch nur kaum ein Vierteljahr währte das Idyll, dann wurde das Familienglück jäh gestört. Eines Tages erschienen ein Mann und eine Frau vom Jugendamt und erkundigten sich bei Günther durchaus freundlich und Hilfsbereitschaft zeigend nach dem Wohlergehen der Kinder. Er habe ja wohl sicherlich nichts dagegen, wenn sie sich mal umschauen würden und man wolle ja nur einmal alles sehen, nur für den Bericht, reine Routine, das wäre immer so, das habe in der Regel auch keine Nachteile.

Günther empfand das Ansinnen der beiden Amtspersonen als Zumutung. Aus seinen Monaten im Gefängnis waren ihm unangekündigte Zellendurchsuchungen und das Fremdbestimmtsein an sich ein Gräuel und sofort stieg in ihm ein Gefühl der Ablehnung und des Widerstands auf. Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben, rang sich den letzten Rest Freundlichkeit ab, zu dem er in dieser Situation in der Lage war, und führte die Leute durch die hintereinander liegenden Räume seiner „Villa“.

Ja ja, das sehe ja alles ganz ordentlich aus, es gebe ja Betten und Räume genug, sicher, die sanitären Einrichtung ließen zu wünschen übrig, aber sie entsprächen den allgemeinen Richtlinien, ob das da oben Feuchtigkeit an der Decke wäre, wo denn ein Schreibtisch für die Schularbeiten sei und wo denn bitteschön die Badewanne sei.

Das Klo wolle er demnächst noch richten, es funktioniere aber, erklärte Günther und auch die Reparatur des Daches sei schon fest eingeplant, dort liege schon die Rolle Dachpappe und einen Schreibtisch bräuchten die Kinder nicht wirklich, man habe ja einen Wohnzimmertisch und einen Küchentisch. Eine Badewanne habe er hingegen nicht vorzuweisen, aber die Kinder sind ja sowieso nachmittags dauernd im Garten, schwimmen und brausen sich draußen ab und am Spülstein in der Küche könne man sich ganz vortrefflich waschen.
„Den Thomas, der ist ja noch klein, den stelle ich zweimal in der Woche da in den Spülstein und seife den von oben bis unten ab, das mag der so. Meine Kinder sind immer sauber, die riechen immer so schön nach frisch gewaschen.“

Fein, das sei ja alles fein, hieß es und schon waren die Leute vom Amt wieder weg. Das war ja noch mal gut gegangen.
Aber nur scheinbar. Schon drei Tage später kam der schriftliche Bescheid, das Amt habe angeordnet, daß Günther eine Familienhelferin vom allgemeinen Wohlfahrtsverband der Kirchen und Kommunen beigesellt werde, die ihn bei den Aufgaben in Haushalt und Kinderbetreuung unterstützen solle.
Außerdem wurde ihm die Auflage gemacht, binnen vier Wochen eine geeignete Waschgelegenheit zu schaffen, die ungestörtes Duschen oder ein Vollbad ermögliche. Auch das Dach sei dringend zu reparieren, die Amtspersonen hätten den ersten Anflug einer Schimmelbildung an der feuchten Stelle festgestellt. Das sei komplett zu beseitigen.

„Da war noch nie Schimmel gewesen, da ist bloß eine Teerbahn durch und wenn es ganz stark von Norden her regnet, was nur alle Jubeljahre mal vorkommt, dann habe ich da einen feuchten Fleck, so groß wie eine Handfläche. Der trocknet dann wieder ab und alles ist gut. Man sieht hier von drinnen bloß diesen Schatten vom Feuchten, da ist kein Schimmel.
Aber gut, ich hab das dann sofort repariert, die Dachpappe hatte ich ja schon lange da liegen, ich habe bloß immer darauf gewartet, daß Horst mal seine Gasflasche und den Brenner mitbringt, diese moderne Dachpappe die tut man ja nicht mehr draufnageln sondern die wird gleich aufgeflammt und klebt dann von selbst, wie Pech und Schwefel.“

Unter einer Familienhelferin stellte sich Günther eine etwas dickere, ältere Frau vor, die burschikos auftritt, aber vor allem beim Kochen, Waschen und Putzen hilft.
Günther konnte kochen, aber nicht sehr phantasievoll. Eine ordentliche Hackfleischsoße und Gulasch, das waren seine Spezialitäten. Dazu gab es immer Nudeln. Außerdem konnte er Bratwürste, Kartoffeln in allen Variationen und Braten mit Soße. Hinter einem Vorhang im kleinen Vorraum vor der Küche bewahrte er jede Menge Nudeln und eine große Zahl von Konserven mit Gemüse auf.
So ausgerüstet konnte er seinen Kindern jeden Mittag ein ordentliches Essen hinstellen.
Das heißt, mittags aßen nur die Mädchen, da saß er dann dabei und aß nur ein „Versucherle“ mit. Seine Hauptmahlzeit nahm Günther stets erst um 17 Uhr ein, wenn Thomas wieder nach Hause gebracht wurde.
Thomas aß nur Nudeln mit Ketchup und Gemüse. Auch mit einem unpanierten Schnitzel konnte man ihm eine Freude machen und ab und zu mochte er auch ganz gerne Fischstäbchen; aber das mußte er selbst wollen. Hatte Günther ein Schnitzel oder Fischstäbchen für ihn, mußte er ihm aber zuerst immer eine kleine Portion Nudeln mit Ketchup hinstellen, ohne das war Thomas nicht glücklich, und dann konnte Günther seinem Sohn noch einen Teller mit dem anderen Essen anbieten. Oft nahm Thomas das ohne weiteren Kommentar, ohne weitere Regung. Aber meistens war es der Fall, daß er sich heftig schüttelte, das andere Essen wegschob und auf den Topf mit den Nudeln zeigte.
Er wollte eben keine Veränderungen, alles mußte immer gleich sein.

Eines Tages, es war ein Donnerstag, klingelte es morgens kurz vor Sieben bei Günther. Normalerweise konnte er vom Küchentisch, wo er die meiste Zeit des Tages zubrachte, gut sehen, wer den langen Weg von der Straße, an der Garage und Leos Wohnei vorbei den Weg zu seiner „Villa“ nahm. Aber an diesem Morgen war er gerade mit seiner Kanne Kaffee beschäftigt und so überraschte ihn das Klingeln.

Günther wischte sich die Hände an seiner Schlafanzughose ab und öffnete die Tür.
Vor ihm stand eine etwas füllige Frau, etwa Mitte bis Ende dreißig, in einem langen grauen Wollmantel, die ihm ein städtisches Schreiben unter die Nase hielt: „Ich bin die ehrenamtliche Familienhelferin vom kirchlich-kommunalen Wohlfahrtsverbund, mein Name ist Birnbaumer-Nüsselschweif, ich komme jetzt jeden Morgen. Um es gleich vorweg zu sagen, ich wasche nicht, ich putze nicht, ich koche nicht und ich bin nicht Ihre Haushaltshilfe und Putzfrau. Meine Aufgabe ist es, Sie bei der Erziehung und Betreuung Ihrer Kinder zu unterstützen und dem Amt zu berichten. Wo sind sie denn die lieben kleinen Kinderlein? Huhuuu! Kuckuck! Wo seid ihr denn!“
Und während sie „Kuckuck“ krähend einfach an Günther vorbei marschierte, fing Thomas in seinem Bett an zu weinen, er hatte Angst, sonst wurde er immer von seinem Papa in der immer gleichen Weise geweckt und nicht durch das laute Kuckuck-Rufen einer wildfremden Frau.

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif ist ja schon mehrfach in mein Leben getreten. Zum Zeitpunkt, als sie in Günthers Leben trat, kannte ich sie aber noch nicht. So beruht die Schilderung der wallewallemänteltragenden Dicken allein auf Günthers Erzählungen.
Den schreienden Thomas habe Günther dann mühsam wieder beruhigen können, während Frau Birnbaumer-Nüsselschweif mit langem Zeigefinger in Günthers ganzem Haus auf die Suche nach Staub und Spinnweben ging und immer wieder “Ach Gottchen, ach Gottchen!” ausstieß.

Dann setzte sie sich in der Küche auf die Eckbank, nicht ohne auf ihrem Sitzplatz zuerst ein Blatt von der Tageszeitung auszubreiten, um sich nicht zu beschmutzen, und beobachtete Günthers morgendliche Rituale.
Dabei machte sie sich Notizen in ein kleines Büchlein und spitzte immer wieder kritisch die Lippen.

Als die Kinder dann aus dem Haus waren, schüttete sich Günther einen Pott Kaffee ein und setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Küchentischs. “Wollen’se auch ‘nen Kaffee?”
Die Dicke machte große Augen, wehte ab und sagte: “Sie glauben doch wohl nicht, daß ich hier etwas zu mir nehme! Mein Gott, Ihre Kinder waschen sich am selben Wasserhahn, wo Sie auch das Wasser für den Kaffee abzapfen. Um Himmels Willen! Och nein! Nein, niemals!”

”Is’ ja gut, war ja nur ‘ne Frage.”

Die Birnbaumer-Nüsselschweif machte weiter Notizen und danach schwiegen sich Günther und die dicke Familienhelferin an.

”Und? Wie geht’s jetzt weiter?” fragte Günther. “Machen Sie jetzt irgendwas? Ich meine, wenn Sie nicht kochen, waschen oder putzen, was machen Sie dann?”

”Ich komm’ jetzt jeden Morgen und schaue zu, wie Sie ihre Kinder fertig machen und berichte das dann dem Jugendamt und bespreche es im wöchentlichen Stuhlkreis unseres Sozialdienstes. Anhand der gewonnenen Erkenntnisse werde ich Ihnen dann Ratschläge zur Erziehung und Versorgung Ihrer Kinder geben.”

”Hm, eigentlich hat das bisher auch ganz gut ohne Sie geklappt.”

”Ja, aber mein Gott, wie’s hier aussieht! Da ist ja alles dreckig!”

”Hier ist nicht dreckig, hier fehlt bloß die pflegende Hand der gütig waltenden Hausfrau, wie man so schön sagt. Ich putze hier, ich wische ab und zu Staub und putze einmal im Jahr die Fenster.”

”Einmal im Jahr, meine Güte!

In diesem Moment kam Leo nach kurzen Anklopfen in die Küche, sagte nur “Moin moin” und füllte sich, wie er es jeden Morgen tat, eine mitgebrachte Blechtasse mit Kaffee, dann nickte er nur kurz und ging wieder.

”Ach du meine Güte! Wer ist das denn?” rief die Birnbaumer-Nüsselschweif und vor Aufregung bebten ihre Nasenflügel.

”Der? Das ist der Leo, der wohnt hier.”

”Wie, hier im Haus? Sind sie ein kranker Mann, so ein Abartiger? Treiben Sie es mit dem? Ach Gott, ich mag es mir gar nicht vorstellen, das ist ja ekelhaft! Und das vor den Kindern. Furchtbar, furchtbar, furchtbar!”

”Sagen Sie mal, haben Sie irgendwie ‘nen Knall oder sind Sie nur schlecht sexuell versorgt?”

”Was?”

”Das heißt ‘Wie bitte’!”

”Wie bitte?”

”Ich habe Sie gefragt, ob Sie noch richtig ticken?” fragte Günther, blieb ganz ruhig und trank weiter seinen Kaffee.

”Ja aber, wenn Sie hier doch mit einem anderen Mann, das ist doch unsittlich, das ist doch verboten, das hat ja… Ach ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das anwidert!”

”Jetzt machen Sie aber mal ‘nen Punkt! Der Leo ist ein armer Teufel, der da vorne unter den Pflaumenbäumen in seinem Wohnwagen wohnt. Wir haben sonst nicht viel miteinander zu schaffen.”

”Sie meinen, Sie sind kein Kotstecher?”

”Kein was?”

”Na ja, so einer, der andere Männer von hinten – meine Güte, Sie wissen schon!”

”Ich? Ich weiß gar nichts.”

”Ach, wie sag ich das denn jetzt? Also, Sie sind nicht homosexuell?”

”Ich? Wie kommen Sie denn darauf? Nur weil da vorne im Wohnwagen ein Mann wohnt? Sie haben wohl was Falsches gegessen, oder?”

”Also so kommen wir nicht weiter, das kommt alles in meinen Bericht und morgen komme ich wieder”, sagte die Birnbaumer-Nüsselschweif und war schon an der Tür, als ihr Günther hinterher rief: “Sie können in Ihren Bericht schreiben was Sie wollen und beim Stühlerücken erzählen was Sie wollen. Nur wenn ich höre, daß Sie mich schlecht machen oder daß sie ‘rumerzählen ich wär’ schwul, dann sollten Sie besser mal aufpassen.”

”Drohen Sie mir?”

”Ich? Nee.”

”Dann ist ja gut. Ich komm’ morgen nämlich wieder.”

Mit diesen Worten war die Birnbaumer zur Tür hinaus und Günther sah ihr vom Küchentisch aus durchs Fenster nach, wie sie mit wehendem Mantel einen großen Bogen um Leos Wohnwagen machte. Man hätte sich ja an der Homosexualität anstecken können…

Von da an kam die Birnbaumer-Nüsselschweif, außer am Wochenende, jeden Morgen. Mit wehendem Gewande verschreckte sie die Kinder, saß sich auf der jedesmal mit Zeitung bedeckten Eckbank den ohnehin schon breiten Hintern breiter und machte sich Notizen.

”Was für eine Unterstützung soll das denn schon sein?” dachte sich Günther und allmählich gewöhnte er sich an die Dicke mit der blonden Strubbelfrisur. Auch die Kinder, außer Thomas, nahmen irgendwann keine Notiz mehr von der Birnbaumer-Nüsselschweif.
Obwohl, ganz richtig ist das nicht, denn die Mädchen begannen so nach vierzehn Tagen die ersten Worte mit ihr zu wechseln und ab da verzichtete die Dicke darauf, sich ständig Notizen in ihr kleines Büchlein zu machen.
Interessiert ging sie auf die Mädchen ein, ignorierte aber Günther und Thomas so gut es ging.
Sobald die Kinder weg waren, verzog sich auch die Familienbetreuerin.

Günther schüttelte nur den Kopf und sagte zu Leo, seinem Untermieter: “Was das soll, das muß mir auch erst mal einer erklären. Unter Familienhilfe verstehe ich, daß da jemand kommt und mir ein bißchen unter die Arme greift. Mensch, ich bemüh’ mich doch. Ich mach doch sauber und koche und wasche. Aber ich bin eben keine Frau und eine Mama kann ich nicht ersetzen. Ich dachte, die macht mehr und hilft mir ein bißchen.”

Der Norddeutsche kratzte sich an seinen dürftigen, semmelblonden Haarbüscheln über den Ohren, zog hörbar die Nase hoch und sagte: “Nu’ ma’ ehrlich, Günna! Wolltest Du die alte Schabracke als Mama hier haben?”

”Ach was! Bloß nicht! Also jetzt so für mich, igitt, die schwammige Punschpflaume kannste mir nackig auf den Bauch binden… bäh, nee… Aber so irgendwie helfen… Die könnte doch das Frühstück machen oder den Kindern die Betten machen oder mal den Tisch abräumen oder irgendwas, ich weiß doch auch nicht. Aber bloß so da sitzen und nur in ihr Vokabelheft schreiben, was soll denn das bitteschön sein?”

Leo nickte: “Du hast ja Recht. Das sieht mehr nach einer Kontrolle aus als nach Hilfe.”

So ging das tagein tagaus und immer mehr wurde das Erscheinen der immer nach süßem Maiglöckchenparfüm riechenden Frau zur Selbstverständlichkeit. Tatsächlich schien sie sogar inzwischen so etwas wie eine Zuneigung zu den Kindern zu empfinden, denn sie begann, kleine Schokoladentäfelchen, Kekse und Abziehbilder mitzubringen.

Günther mochte die dicke Frau nicht. Sein Frauentyp waren eher kleine, zierliche Frauen, so der südländische Typ, möglichst mit Locken aber vor allem mit blauen Augen. Ob die Birnbaumer-Nüsselschweif überhaupt Augen hatte, konnte Günther gar nicht sagen, meist guckte sie ihn nämlich mit zusammengekniffenen Augen an und außerdem war sie blutarm, hell und teigig. Ihren recht massigen Körper trugen zwei doch vergleichsweise dünne Beine, die aber in das mündeten, was Günther immer Schweinsfüße nannte. Dicke, speckige Füße in etwas zu engen, halbhohen Pumps mit dicken Absätzen. Ihr ständiges Maiglöckchenparfüm konnte Günther schon nicht mehr riechen, ihm verursachte das ein Stechen in der Stirn.

Nach etwa drei Wochen hatten die beiden Mädchen sogar so etwas wie eine Beziehung zu ihr aufgenommen und Günther war einen Morgen ganz erstaunt, als er, nachdem er Thomas vorne an der Straße zum Kleinbus des Behindertendienstes gebracht hatte, wieder in seine Villa Kunterbunt zurück kam.
Die beiden Mädchen saßen einträchtig neben dem dicken Maiglöckchen und Günther hatte sogar das Gefühl, daß sie bei seinem Erscheinen etwas überhastet von ihr abrückten.

Stirnrunzelnd nahm Günther das zur Kenntnis, dann mußten die Mädchen in die Schule und ziemlich wortlos verschwand auch die Frau im wallenden Mantel.
Den ganzen Vormittag dachte er über die Situation vom Morgen nach, dann schüttelte er alle bösen Gedanken ab und beschloß, seine Abneigung gegen die Füllige hintenan zu stellen. Es war doch klar, die Mädchen vermißten ihre Mutter und wahrscheinlich begannen sie in der erstbesten verfügbaren weiblichen Person eine Art Mutterersatz zu suchen. Das konnte er ihnen nicht verdenken. Er würde mit den Mädchen darüber sprechen müssen, das war ihm klar, aber er würde ihnen keinen Vorwurf machen. Sie mußten ihren Anflug von Zuneigung zu dieser Frau nicht vor ihm verstecken. Natürlich hatte er auch schon mal im Beisein der Kinder heftig über die Birnbaumerin geschimpft, so wußten die Mädchen nur zu gut, was er von dieser Frau hielt und um ihn nicht zu verletzen, rückten sie eben, wenn er dazu kam, von der Frau wieder ab. Alles völlig normal, fand Günther.
Doch er würde ihnen klar machen müssen, daß die Familienhelferin nur vorübergehend kommen würde und somit als wirklicher Mutterersatz nichts taugen würde. Irgendwann würde er mit den Kindern wieder alleine sein, ein Tag auf den er sich schon freute, aber dann wäre unter Umständen das Jammern groß, wenn die Mädchen sich zu sehr an die Frau gewöhnt hätten.

Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, denn Leo kam nach kurzem Klopfen einfach herein.

”Mann!” herrschte Günther ihn an: “Was klopfst Du überhaupt an, wenn Du dann doch sofort eintrittst? Man wartet, bis jemand Herein sagt.”

”Mach ma’ keine Sprüch’, wir müssen los!”

Das stimmte, denn Günther hatte gar keine Zeit, sich ausführlich mit Frau Birnbaumer-Nüsselspeck zu beschäftigen, denn er hatte im Moment ganz andere Sorgen.

Leo hatte ihm vor ein paar Tagen erzählt, daß ein Kumpel vom Campingplatz ihm an der Trinkhalle erzählt habe, daß die Albaner wieder da seien und das hatte Leo Günther ganz aufgeregt berichtet.

”Was für Albaner? Und wo sind die wieder da?” hatte Günther gefragt.

”DIE Albaner!”

”Ja, das habe ich ja verstanden, Du Dödel.”

”DIE Albaner eben. Du weißt schon.”

”Mann, setzt Dich hin, hol mal tief Luft und dann redest Du mal in ganzen deutschen Sätzen mit mir.”

Der dürre Norddeutsche klapperte mit seinen Holzschuhen durch die Küche, schob die Zeitung beiseite, auf der die Birnbaumer-Nüsselschweif immer Platz nahm, lehnte sich, die Arme aufstützend, über den Tisch und sagte: “Dir kann man alles erzählen, Du hörst einem nie zu!”

”Mit dieser Aussage hast Du Dich als Frau qualifiziert!”

”Was?”

”So was sagen Frauen auch immer.”

”Meinetwegen, Günna, aber bei Dir stimmt das. Du hörst mir nie zu. Ich hab Dir doch schon von den Albanern erzählt.”

”Ich weiß nix von Albanern, also schieß los!”

”DIE Albaner!”

”Du kannst das Wort DIE noch so sehr betonen, ich weiß nix von Albanern!”

”Ja, also, ich hab Dir doch erzählt, daß auf dem Campingplatz Albaner waren. Als da drüben die Halle Dachpappe aufs Dach gekriegt hat, da waren die da und haben das gemacht und die haben auf dem Campingplatz gestanden mit ihrem Wohnwagen.”

”Ja und?”

”Jetzt sind die wieder da.”

”Schon und gut, aber was hat das mit mir zu tun?”

”Die waren auch da, als Deine Frau umgebracht worden ist und der Fritz vom Campingplatz hat gesehen, daß der eine bei Deiner Frau immer Würstchen und Frikadellen gekauft hat. Der soll oft ‘ne halbe Stunde oder länger bei der gestanden haben; und gelacht hätten die beiden immer.”

Günther mußte das alles erst einmal sortieren.
Als seine Frau umgebracht worden war, waren ringsherum etliche Baustellen in Betrieb gewesen. Männer aus aller Herren Länder waren dort als Arbeiter beschäftigt und so wie es aussah, war die Polizei, wenn auch eher widerwillig, alle Baustellen durchgegangen und hatte viele der Arbeiter verhört, nachdem klar geworden war, daß Günther nicht der Täter hatte sein können.

Aber diese Baustelle, die Baustelle drüben am Gartencenter, die war zu diesem Zeitpunkt schon längst abgeschlossen und fertig gewesen, die Arbeiter waren längst zu einer anderen Baustelle weiter gezogen und so hatte auch niemand mit denen gesprochen.
Günther war wie elektrisiert, als er verstanden hatte, was Leo ihm da erzählt hatte.
Jetzt waren diese Männer wieder da, weil es am Ende des Gewerbegebietes wieder ein neues Haus gab, an dem sie arbeiten mußten.
Und einer von diesen Männern soll sich mit seiner Frau gut verstanden haben. Könnte der es gewesen sein?
Wie paßte das alles zusammen?

Seit Tagen schon spielten Günther und Leo Sherlock Holmes und Dr. Watson. Dabei war Günther kein Sherlock Holmes und Leo taugte als Dr. Watson schon dreimal nichts.
Mit Günthers altem Fernglas beobachteten sie den Wohnwagen, standen schräg gegenüber der Baustelle in einem Gebüsch und observierten die Arbeiter, doch es war den beiden noch nicht einmal gelungen, herauszufinden welche von den ganzen Arbeitern die beiden Albaner sein sollten.

Nachdem sie so wertvolle Zeit verplempert hatten, schien es fast so, als sei auch diese Baustelle insoweit fertig und es bestand die Gefahr, daß die Albaner schnell wieder verschwinden würden.
Da kam Günther die erleuchtende Idee, die anderen schon viel früher gekommen wäre, und er fragte einfach bei der Wirtin eines kleinen Imbisswagens, bei der die Bauarbeiter sich ab und zu was kauften, nach den zwei Albanern.
Die lachte: “Ach Sie meinen bestimmt die beiden Brüder Rufan und Sokol! Das sind mir zwei Helden, die beiden, das sind vielleicht zwei!”

”Was für zwei sind das denn?”

”Na, der eine ist so ein ganz verschlossener, kriegt kaum die Zähne auseinander, guckt immer verschüchtert auf den Boden, so ein ganz Schmächtiger und der andere, ein behaarter Kerl, groß wie ein Baum, strahlend weiße Zähne und immer locker drauf. Meine Güte, was hat der mir schon Honig um den Bart geschmiert. Er würde mir Schlösser bauen und die Sterne vom Himmel holen und so’n Zeug.”

Günther lief es kalt den Rücken herunter.
War er auf der richtigen Spur?

Mit den detektivischen Fähigkeiten von Günther und Leo war es nicht weit her. Günther alleine hätte es wahrscheinlich recht zu einem Ergebnis gebracht, aber Leo kam immer wieder auf die abstrusesten Ermittlungstheorien und brachte Günther wieder vom richtigen Weg ab.
So ging das Tag um Tag und die beiden machten fast nichts anderes, als hinter den beiden ausländischen Brüdern hinterher zu schnüffeln.

Inzwischen hatten die beiden Mädchen zwei Wochen Ferien und erstaunlicherweise hatte sich Frau Birnbaumer-Nüsselschweif bereit erklärt, während dieser Zeit sich ausgiebiger um die Kinder zu kümmern. Günther war so im Detektivfieber, daß er nichts Böses ahnte und jeden Morgen, nachdem Thomas aus dem Haus war, mit Leo auf die Pirsch ging.

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif zeigte sich Günther gegenüber verständnisvoll und rang sich sogar hin und wieder ein gequält wirkendes Lächeln ab.
Abends berichteten die Mädchen dann mit roten Wangen, daß die Familienhelferin mit ihnen im Zoo oder im Wald gewesen war.
”So muß das sein, dafür sind solche Familienhelferinnen ja auch da”, dachte Günther und widmete sich in der freien Zeit abends hauptsächlich dem behinderten Thomas, der besonders viel Aufmerksamkeit benötigte und niemals eine Beziehung zu Frau Birnbaumer-Nüsselschweif aufgebaut hätte, zumindest nicht in kurzer Zeit.

In seinen Ermittlungen war er nur wenig weiter gekommen. Rufan und Sokoll hießen die beiden Brüder, Rufan war der Schmächtige und Sokoll der Große. Genau um diesen Sokoll ging es Leo und Günther bei ihrer Detektivarbeit.
Während Rufan sich nach getaner Arbeit noch drei, vier Bierchen in der kleinen Gastwirtschaft auf dem Campingplatz gönnte und dann in den Wohnwagen verschwand, hatte sich Sokoll von einem anderen Campingplatzbewohner einen Motorroller geliehen und fuhr jeden Abend damit weg, um erst weit nach Mitternacht zurück zu kommen.
Mit diesem Roller fuhren die beiden Brüder auch morgens zur Arbeit und zwischendurch, das hatten die beiden Hobbydetektive herausgefunden, stahl sich Sokoll ab und zu für eine halbe Stunde, manchmal auch für eine ganz Stunde von der Arbeit davon und kam immer sehr frohgelaunt wieder.

Bei all dem Ganzen entging Günther etwas Entscheidendes. Er kannte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif nicht, wußte nicht, daß sie eine Totgeburt hinter sich hatte und die Trauer um das eigene Kind nie verwunden hatte.
Überdies war die Frau von grenzenlosem Geltungsdrang beseelt und ließ keine Gelegenheit aus, um sich selbst in Rampenlicht zu stellen.

So kam es für ihn völlig überraschend, als er eines Tages gerade rechtzeitig nach Hause kam, um den behinderten Thomas in Empfang zu nehmen und dann festzustellen, daß die beiden Mädchen gar nicht zu Hause waren.
Zunächst maß er dem noch keine besondere Bedeutung bei, wahrscheinlich war die Familienhelferin noch mit seinen Töchtern unterwegs.
Aber als es dann so auf 19 Uhr zu ging, begann er sich Sorgen zu machen.

Warum, um alles in der Welt, hatte er eigentlich weder Adresse noch Telefonnummer von der Dicken?

Auch um 20 Uhr waren die Mädchen noch nicht wieder da und Günther war ratlos.
Wie konnte er die Frau erreichen? Wo waren seine Töchter?

Günther machte sich total verrückt und war drauf und dran, bei der Polizei anzurufen, um seine Töchter als vermißt zu melden. Doch dann entdeckte er einen kleinen gelben Klebezettel auf der Mattscheibe seines Fernsehers:

”Die Mädchen sind bei mir. Keine Sorge! BN”

Also waren die Mädchen bei der dicken Frau vom Schwesternhilfswerk und Günther war zumindest vom Grundsatz her beruhigt. Wenigstens waren die Mädchen nicht weggelaufen oder in die Fänge eines Unholds geraten; was hatte sich Günther nicht alles ausgemalt! Vielleicht war es spät geworden und die dicke Frau hatte die Kinder ausnahmsweise mal über Nacht zu sich genommen. “So geht das ja nicht! Das werde ich der austreiben, wenn sie morgen kommt”, dachte Günther und nachdem er Thomas die allabendlich gleiche Geschichte vorgelesen hatte, legte er sich selbst auch ins Bett und schlief unruhig und von wilden Träumen geplagt.

Aber am nächsten Morgen erschien die Familienhelferin gar nicht mehr bei Günther und nachdem er Thomas zum Bus gebracht hatte, entschied sich Günther dazu, beim Jugendamt anzurufen.
Dort gab man sich einsilbig. Das Ganze habe man an die Familienhilfe des Schwesternwerkes abgegeben und die ersten Berichte zeigten deutlich, daß auf die Betreuung durch die Familienhelferin vorerst nicht verzichtet werden könne. Weiter wisse man nichts, man arbeite schon ewig sehr erfolgreich mit den Familienhelferinnen zusammen und die Adressen und Rufnummern der einzelnen Helferinnen seien amtlicherseits gar nicht bekannt und selbst wenn sie es wären würde man einem wie Günther sie ganz bestimmt nicht herausgeben.
Er solle das doch einfach der Familienhelferin überlassen, die wisse schon was sie tue und wenn dann Ende des Monats der nächste Bericht komme, könne er ja nochmal anrufen…

”Das gibt’s doch gar nicht!” schimpfte Günther gerade, als Leo hereinkam um sich seinen Pott Kaffee abzuholen. Leo war ganz im Detektivfieber und das war letztlich auch Günthers Problem.
Eigentlich war Günther ein Mann, der recht klar bei Verstand war und der, trotz seiner Vorliebe für eine umständliche Ausdrucksweise, präzise und vernünftige Entscheidungen treffen konnte. Doch in ihm kribbelte es. Er war inzwischen fest davon überzeugt, daß der ausländische Bauarbeiter, den sie seit Tagen belauerten, etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun haben könnte.
Nun waren aber auch noch Günthers Töchter verschwunden und befanden sich in der ‘Obhut’ von Frau Birnbaumer-Nüsselschweif. Da konnte Günther gar nicht richtig einordnen, ob das nun ein Fluch oder ein Segen war.
Immerhin schienen die Mädchen ja gut versorgt und die dicke Frau hatte ja nicht den Eindruck gemacht, als ob man bei ihr verhungern müßte…
…und wenn sich die Mädchen doch gut mit ihr verstehen, warum sollte man dann die gewonnene Zeit nicht nutzen, um weiter Sokoll zu beobachten und die Wahrheit heraus zu finden.

So wischte Günther abermals alle dunklen Gedanken an die Birnbaumer-Nüsselschweif weg, verdrängte die dunklen Träume der vergangenen Nacht und wandte sich gemeinsam mit Leo wieder ihrer Detektivarbeit zu.

So saßen Leo und Günther beim Kaffee beisammen und schmiedeten die aberwitzigsten Pläne, als draußen jemand an den Holzvorbau der Veranda klopfte. Günther wußte, daß das ein Bekannter sein mußte, denn nur Eingeweihte wußten, daß man da klopfen mußte, damit er vom Küchenfenster aus sehen konnte, wer da stand. Wer direkt bis vor die Tür der Villa Kunterbunt lief, konnte nicht gesehen werden und lief Gefahr, daß Günther gar nicht öffnete. Vor allem donnerstags nicht, denn da ging der ‘Klopfer’, wie Günther den Gerichtsvollzieher nannte, in dieser Straße um.

Diesmal war es aber Günthers Freund Horst und den ließ Günther natürlich gerne herein. Wie jedesmal wenn er kam, stellte Horst ein Pfund Kaffee als Mitbringsel auf die Anrichte und nahm sich eine Tasse aus dem offenen Regal über der Kaffeemaschine. Erst roch er kurz in die Tasse hinein, spülte sie dann an der Spüle aus und nahm sich einen Kaffee aus der Kanne.
Das mit dem Riechen war keine Marotte von Horst, sondern eine Notwendigkeit. In der Villa Kunterbunt war es immer ein wenig feucht und manches dort roch etwas modrig, muffig und abgestanden.
Die Feuchtigkeit die von oben kam, die konnte Günther mit immer neuen Lagen Dachpappe bekämpfen, aber gegen die aufsteigende Feuchtigkeit von unten konnte Günther nichts tun. Die Villa Kunterbunt, wie er sie nannte, war ja ein Not- und Behelfsbau, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus Trümmersteinen gebaut worden war und stand nicht auf einem ordentlichen Fundament, sondern war direkt auf den Lehmboden des schmalen Grundstückstreifens gebaut worden.
Für ein paar Jahre, vor allem wenn man kräftig einheizte, war das Haus trocken geblieben, aber dann hatte die Feuchtigkeit begonnen, in den Ziegeln nach oben zu steigen. Deshalb wellte sich auch die gelbe, speckige Tapete überall und aus diesem Grund roch es immer auch ein wenig muffig.

Günther, Leo und die Kinder nahmen das gar nicht mehr wahr, Leo sowieso nicht. Der dürre Norddeutsche lebte ja in einem winzigen Wohnwagen, in dem er auch auf einem einflammigen Kocher ganze Mahlzeiten zubereitete. Man kann sich unschwer vorstellen, wie der Essensgeruch und der Fettdunst in seinen Klamotten und dem ganzen Wohnwagen hing.

”Was hockt ihr so trübselig beisammen?” erkundigte sich Horst und Leo sagte: “Ich bin der Herlock und Günni is’ der Sholmes.”

”Wie bitte?” fragte Horst verständnislos und schaute verwirrt von einem zum anderen.

”Leo will sagen, daß wir gerade versuchen, wegen der Wahrheit und überhaupt, diese Albaner, Du weißt schon, das muß doch mal ans Licht und die Mädchen sind auch weg”, erklärte ihm Günther in seiner gewohnt rätselhaft verwirrenden Art.

Horst wunderte sich nicht über Günthers verworrene Äußerung, so etwas war er ja von seinem Freund gewohnt. Ihn elektrisierte die Aussage ‘und die Mädchen sind auch weg’.

”Wo sind denn die Mädchen?”

”Bei dieser Familienhelferin vom Jugendamt”, antwortete Leo anstelle von Günther.

”Aha, haben sie Dir die Mädchen jetzt doch weggenommen?”

”Nee, die hat sie nur mitgenommen und wir wollen doch heute, wegen der Wahrheit…”

”Blubber nicht, Günther! Mal ganze deutsche Sätze! Und denk dran: Jeder Satz ein Gedanke!” kommandierte Horst, der das Gefühl nicht los wurde, daß das etwas ganz schön im Argen lag und daß er gerade noch rechtzeitig gekommen war.

Die menschliche Sprache ist ja eine wunderbare Sache. Sie ist dazu geeignet, selbst umfangreichste Sachverhalte in kurzen Worten von Sender zum Empfänger zu transportieren. Das galt aber nicht, wenn man es mit einen norddeutschen Wohnwagenbewohner und einem in wirren Rätseln sprechenden Günther zu tun hatte.
Mehr als einer halben Stunde und etlicher Rückfragen bedurfte es, bis Horst sich einen halbwegs vernünftigen Überblick über die Sachlage gemacht hatte. Dann glaubte er verstanden zu haben, was da lief und faßte es zusammen:
”Also, wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, dann hat man euch den Floh ins Ohr gesetzt, einer der beiden Albaner könne der Mann sein, der Günthers Frau erschlagen hat und parallel dazu macht sich hier eine Familienhelferin breit und nimmt einfach so mir nichts, dir nichts die beiden Mädchen zu sich? Und du, Günther, hast natürlich keine Ahnung, wo diese Frau wohnt und was sie mit den Mädchen vor hat? Beim Amt wollen sie dir nichts sagen und jetzt sitzt du mit Leo hier und trinkst Kaffee?
Ich fasse es nicht!”

Horst lehnte sich zurück, starrte kurz an die Decke und schüttelte langsam den Kopf. ‘Ja gut’, dachte er, ‘Günther ist wegen dieser toten Frau im Gefängnis gewesen und hatte einen Prozeß über sich ergehen lassen müssen. Klar, daß er jetzt daran interessiert ist, sich endgültig reinzuwaschen und den wirklichen Täter zu finden. Aber daß er sich keine weiteren Gedanken um seine Töchter macht…”

Das konnte Horst nicht verstehen und ziemlich unerwartet knallte er seine Kaffeetasse auf den Tisch, so das der Kaffee überschwappte und begann den beiden den Kopf zu waschen: “Ihr habt doch nicht mehr alle Senkel im Regal! Euch hat man doch ins Gehirn geschissen! Wißt ihr das eigentlich? Leo kennt den Unterschied zwischen morgen und gestern nicht und du, Günther, hängst dich an so einen dran und spielst Detektiv? Ja sach mal, bist du noch ganz bei Trost? Zu allererst müssen deine Töchter mal wieder her. Es ist doch ganz klar entschieden worden, daß sie bei dir leben dürfen. Was hat diese Frau die Kinder dann mitzunehmen?

Und nach einer kurzen Pause fügte Horst noch hinzu: “Und eins will ich Euch, aber ganz speziell Dir Günther, noch sagen: Deine Frau ist tot. Sie ist das Opfer eines Verbrechens geworden und Dich hat man für den Täter gehalten. Sei froh, daß Du heil aus der Sache herausgekommen bist und Deine Kinder wieder bei Dir hast. Ob dieser Ausländer das nun war oder nicht… Spielt das wirklich eine Rolle? Du hattest Deine Frau doch weggejagt, zum Teufel geschickt, rausgeworfen… Was dann alles passiert ist, das ist schrecklich, aber ist es denn jetzt Deine Aufgabe, den Täter zu ermitteln? Mal abgesehen davon, daß Du so was gar nicht kannst. Tagelang lauert und kauert ihr jetzt schon und seid kein Stück weitergekommen. Meinst Du nicht, es wäre sinnvoller, Euren Verdacht der Polizei mitzuteilen?
Die können diesen Albaner doch vernehmen und vielleicht gibt es ja irgendwelche Spuren in der Asservatenkammer, die ihn überführen könnten.
Aber ganz egal, jetzt fahren wir erst mal los und holen die Mädchen!”

Günther standen Tränen in den Augen. Es war gut, daß Horst gekommen war und ihn mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurück geholt hatte.
Vor lauter Detektivarbeit hatte er seine Töchter vernachlässigt und so der dicken Familienhelferin die Chance gegeben, immer mehr Einfluß zu gewinnen.

Jetzt war es an der Zeit, diesem Treiben ein Ende zu machen.

Was Günther nicht wußte: Die Birnbaumer-Nüsselschweif würde sich so leicht nicht geschlagen geben.

Horst ergriff nun die Initiative.

”Also, du rufst jetzt Deine Töchter auf dem Handy an!” kommandierte Horst und schob Günther sein Mobiltelefon über den Tisch. Doch Günther schaute Horst nur verständnislos an, schob ihm das Telefon wieder zurück und sagte kopfschüttelnd: “Die haben kein Handy. Kannst Du mir mal sagen, wie ich die Gebühr finanzieren sollte?”

”Aber heute hat doch jeder ein Handy!” staunte Horst, doch er bekam sofort heftigen Widerspruch, denn auch Leo winkte ab: “Ich nich, ich brau so Schietkram nich.”

”Weißt Du wenigstens, wo diese Familienhelferin wohnt?” fragte Horst seufzend. Doch auch diesmal schüttelte Günther nur den Kopf.

”Weiß Du denn irgendwas über die?”

”Nee.”

”Ja und warum nicht?”

”Tja, was soll ich da sagen? Die kommt vom Amt. Fragst Du irgendeine Amtsperson, die an Deine Tür kommt, wo sie wohnt?”

Horst sah ein, daß er so nicht weiterkommen würde und nahm nun sein Handy zur Hand. In Windeseile hatte er sich mit dem dem Internet verbunden und suchte im Telefonbuch nach dem Eintrag von Frau Birnbaumer-Nüsselschweif. Wenigsten wußte Günther diesen Namen und Horst war sich sicher, daß es außer der in Frage kommenden Person niemanden geben würde, der so heißt.

Tatsächlich fand Horst aber acht Einträge mit dem Namen Birnbaumer und jeweils nur einen Männervornamen dazu. Das enttäuschte ihn. “Mist! So kommen wir auch nicht weiter. Also rufen wir jetzt beim Amt an!”

”Das bringt doch nichts!” protestierte Günther. “Da habe ich schon angerufen, die sagen mir nichts.”

”Gut, dann rufen wir eben bei diesem Schwesternhilfswerk von der Kirche an”, verkündete Horst, tippte wieder auf seinem Handy herum und dann wählte er eine Nummer.

Als sich am anderen Ende jemand meldete, sagte Horst: “Rechtsanwalt Dr. Fleischmann, ihre Frau Birnbaumer-Nüsselschweif hatte mich um einen Rückruf gebeten… Aha… Ach so… Ja, genau, ich notiere mal…” Dann beendete er das Gespräch und grinste. “So, die Nummer und die Adresse habe ich. Die Alte heißt übrigens Luitgard mit Vornamen.”

”Lui was?” fragte Leo und Horst sagte langsam und betont: “Luitgard.”

”So eine kann eigentlich auch nur so’n Schietnamen haben…” knurrte Leo, nahm sich noch einen Kaffee, tippte sich an die nicht vorhandene Mütze und verschwand in Richtung seines Wohnwagens.

”Komm!” befahl Horst und zupfte Günther am Ärmel seines karierten Flanellhemdes. Schwerfällig erhob sich Günther und seufzte. Ihm war klar, daß das vor ihm Liegende nicht einfach werden würde.

Auf der Fahrt zum Haus der Birnbaumer-Nüsselschweif gingen Günther viele Dinge durch den Kopf. Er sah ein, daß er mit seinen stümperhaften, privaten Ermittlungen viel wertvolle Zeit verplempert hatte. Zeit, die die Polizei besser hätte nutzen können, denn es bestand ja jederzeit die Gefahr, daß die Albaner Sokoll und Raban zu einer anderen Baustelle verschwanden und wieder niemand sagen konnte, wo man sie finden würde.
Außerdem hatte die Birnbaumer-Nüsselschweif es wohl fertig gebracht, sich nicht nur intensiv um die beiden Mädchen zu kümmern und ihnen etwas Zuneigung zuteil werden zu lassen, sondern sich auch in ihr Vertrauen zu schleichen und sie problemlos mitzunehmen.

Aber das hätte ja jetzt ein Ende, da war sich Günther sicher. Sobald er dort auftauchte, würden sich die Mädchen freuen, ihren Papa wieder zu sehen und sofort mit ihm nach Hause kommen. Sie hatten sich doch immer so wohl gefühlt in der Villa Kunterbunt.

Das Haus der Birnbaumer-Nüselschweifs war eher schmucklos und grau, nicht besonders groß und als einziges in der Reihe freistehend. In der Auffahrt neben dem Haus standen ein großer BMW und direkt dahinter der Renault-Espace mit dem die Füllige immer zu Günther gekommen war.
Hinten auf dem Espace prangte das Fischli-Abzeichen, wie Günther es nannte.
Die Fenster des Hauses waren schön mit Blumen und Gardinen dekoriert, was Günther sehr gut gefiel, jedoch hatte er selbst nur nur vorne raus alte, graue Bistro-Gardinen und keine Pflanzen. Wegen des weit überhängenden Daches seiner Villa Kunterbunt war es für Pflanzen auf dem Fensterbrett zu dunkel.

Entschlossen drückte Horst den Plastikknopf unter dem Keramikschild, auf dem sich jemand ein paar naiv anmutende Gänse und aus dünnen Schlangen von Ton den Namen Birnbaumer-Nüsselschweif, aus dem künstlerischen Nirwana gequält hatte.

Zunächst passierte nichts, Horst klingelte noch einmal und dann wurde hinter einem kleinen Flurfenster an der Seite des Hauses eine Bewegung wahrnehmbar, kurz darauf öffnete es sich und ein Mann mit kurzgeschorenem Bart schaute heraus. “Was ist? Was kann ich für Sie tun? Ich sag’s Ihnen gleich, wir kaufen nichts, wir geben nichts, wir unterstützen unser eigenes Sozialprojekt, wir brauchen nichts und wir treten Ihrer Kirche auch nicht bei. Einen Staubsauger haben wir auch schon und an unserem Haus muß nichts repariert werden.”

Ob dieses Redeschwalls standen Günther und Horst nur stumm und staunend da und bevor einer von ihnen auch nur ansatzweise den Mund aufmachen konnte, ging das Flurfenster wieder zu.

”Das gibbet doch gar nicht!” schimpfte Horst und klingelte nochmals. Wieder ging das Fenster auf, dieses Mal war es aber nicht der Mann, sondern Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweif höchstpersönlich. “Ach Sie sind’s. Was wollen Sie hier?” fragte sie, als sie Günther erkannte.

”Ich will zu meinen Töchtern”, sagte Günther und rappelte an der Klinke des Tores, aber es öffnete sich nicht.

”Denen geht’s gut”, sagte die Frau und wollte sich gerade wieder zurückziehen, da mischte sich Horst ein: “Schluß jetzt! Der Mann will seine Töchter sehen und Sie schicken die Mädchen jetzt entweder heraus zu uns und zwar bei geöffnetem Tor oder sie lassen uns herein… oder…”

”Oder was?”

”Oder wir holen mal flugs ein bißchen die Polizei. Oder haben Sie etwa einen Beschluß, der es Ihnen erlaubt, die Mädchen zu sich zu nehmen?”

Das Fenster flog zu und nichts rührte sich. Günther sah seinen Freund hilflos an und zuckte nur mit den Achseln. “Und? Was machen wir jetzt?”

”Das was ich gesagt habe. Entweder wir kommen da rein oder die Mädels kommen raus oder wir rufen die Polizei.”

Kaum hatte Horst das gesagt, summte der elektrische Türöffner und Günther konnte das Tor aufdrücken.
An der Haustüre empfing sie die Birnbaumer-Nüsselschweif, die ein weites, geblümtes Hauskleid mit aufgedruckten Giraffen trug. “Also wirklich, da kommen Sie einfach so daher und stören unsere Ruhe. Sie haben Recht, die Mädchen sind hier und denen geht es gut. Denen geht es sogar so gut bei mir, die wollen gar nicht zu Ihnen zurück”, sagte sie zu Günther.

”Das ist doch Quatsch”, schimpfte dieser: “Das sind meine Töchter und die nehme ich jetzt mit zu mir nach Hause. Da gehören sie schließlich hin!”

”Nichts da! Die bleiben bei mir. Bei mir geht es denen nämlich wirklich gut und da bekommen sie alles was sie brauchen. Was haben die Kinder denn bei Ihnen? Eine feuchte, klamme Unterkunft wie im Mittelalter, ein Spülbecken in dem sie sich waschen müssen, alles dreckig, speckig und staubig. Bei mir haben sie richtige Zimmer mit Licht und Luft und Spielzeug und gutes, gesundes Essen – alles bio!”

”Ich will jetzt sofort meine Töchter sehen!” beharrte Günther und Horst fügte hinzu: Sonst rufen wir die Polizei.”

”Die Polizei? Daß ich nicht lache! Sie wollen die Polizei rufen? Ein stadtbekannter Frauenmörder! Eine Frechheit, mir mit der Polizei zu drohen!” rief die Birnbaumerin ihnen zu. Aus dem inneren des Hauses schob sich ihr Mann neben sie und sagte: “Außerdem ist das Hausfriedensbruch, was Sie da machen…”

”Halt den Mund!” herrschte die Birnbaumer-Nüsselschweif ihren Mann an, legte ihm die flache Hand aufs Gesicht und drückte ihn mit Leichtigkeit ins Haus zurück. Dann wandte sie sich wieder den beiden Freunden zu und sagte: “Aber der da hat Recht! Das IST Hausfriedensbruch. Und dafür kommen Sie beiden ins Kittchen. Sie bedrohen mich ja geradezu! Schauen Sie nur mal wie bedrohlich und gewalttätig sie bei gucken, ach, da bekomme ich arme, schwache Frau ja Angst! Ich sehe das Kindswohl als gefährdet an, da wird mir jeder Familienrichter Recht geben, so wie Sie hier auftreten, mein Gott, mich fürchtet es ja regelrecht vor Ihnen!Und riechen Sie nicht sogar nach Alkohol? Das würde mich ja nicht wundern, wenn Sie auch noch trinken würden. Habe ich da nicht sowieso eine ganze Batterie leerer Flaschen an Ihrer Gartenlaube da gesehen? So wird das nichts mit den Mädchen, die brauchen eine fürsorgliche Hand, die Hand einer liebenden Mutter, um es genau zu sagen. Ein christlich-abendländisches Umfeld mit vernünftigen und verantwortungsvollen Erwachsenen.
Ich werde alles tun, damit die armen, armen Kinderchen nicht wieder in diese klamme Kemenate zurückkehren müssen.”

Mit einem Krachen schlug die Tür zu und abermals standen Günther und sein Freund Horst sprachlos da.
Es dauerte einige Sekunden, bis Günther seine Worte wiederfand: “Meine Güte, wie ist die denn unterwegs? Das darf die doch gar nicht!”

”Nein”, bestätigte Horst: “Das darf die nicht… Aber…”

”Aber was?”

”Aber ich befürchte, die Olle kriegt sogar noch Recht, wenn die sich auf die Hinterfüße stellt. Komm, wir hauen hier jetzt erst mal ab, nicht daß die doch noch die Polizei ruft.”

”Soll sie doch!” antwortete Günther trotzig, als Horst ihn vom Grundstück schob.

”Mann, die hat kein Recht im juristischen Sinne, aber willst Du Gefahr laufen, daß zwei Streifenpolizisten hier vor Ort den Sachverhalt klären sollen und dann eventuell Fakten schaffen, die man hinterher kaum wieder gerade rücken kann?”

Mutlos kehrten Horst, Leo und Günther zu Günthers Villa Kunterbunt zurück. Als sie in die Straße bogen, sahen sie schon, daß irgendetwas nicht stimmte. Vor dem Grundstück parkte ein orangefarbener 7,5-Tonner mit Pritsche und zwei Männer mit orange-weiß-gestreiften Warnwesten luden Absperrgitter ab.

Günther sprang aus dem Wagen und rief den Arbeitern zu: “Was macht ihr denn da?”
Einer der Arbeiter deutete nur nach weiter hinten auf das Grundstück, dann ignorierten die Männer die drei Freunde.

Vor Günthers Laube standen zwei Männer in dicken Windjacken, denen man schon auf einen Kilometer Entfernung ansah, daß sie nichts Gutes verheißende Amtspersonen waren.
”Was ist hier los?” fragte Günther atemlos und schaute sich um. Rechts und links entlang seines Grundstückes hatten die Arbeiter bereits im Abstand von etwa 2-3 Metern schwere Betonklötze aufgestellt, die oben jeweils zwei Löcher hatten und in die sie nun einen Metallgitterzaun steckten, mit dem man auch Baustellen absichert.

Einer der Windjackenträger, der einen Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart trug, zückte einen Ausweis und stellte sich als Beamter der Baubehörde vor. Er präsentierte Günther einige A4-Blätter, hauchdünnes, rosafarbenes Papier und raunzte Günther an: “Haben Sie das denn nicht bekommen?”

”Was?”

”Den Bescheid von 27. vorletzten Monats?”

Günther zuckte mit den Achseln. In den letzten Wochen war nicht viel Post gekommen, aber trotzdem hatte er keinen Umschlag aufgemacht, sondern alles auf der Eckbank auf einen Stapel gelegt. Männer in seiner prekären Situation neigen dazu, vermeintlich unangenehme Post einfach durch Nichtöffnen zu ignorieren und Günther bekam schon eine ganze Zeit lang nur noch Rechnungen, Mahnungen und unangenehme Post.

”Egal”, sagte jetzt der andere Mann von der Baubehörde, der etwas älter war: “Wir reißen das Ding hier ab, das muß weg.”

Günther riß die Augen weit auf und schnappt nach Luft. Horst kam ihm zur Hilfe, denn er befürchtete, daß Günther umfallen würde, doch der fing sich schnell wieder und schimpfte: “Ihr habt doch einen Knall! Ihr könnt doch nicht mein Zuhause abreißen!”

”Ihr Zuhause?” staunte der Schnurrbartträger: “Laut unseren Unterlagen wohnen Sie aber ganz woanders.” Er blätterte die rosafarbenen Zettel durch und hielt sie Günther unter die Nase: “Hier, sehen Sie selbst!”

Günther sah, daß der Brief an seine alte Adresse gerichtet war, doch das Haus, in dem er und seine Familie einmal glückliche Zeiten erlebt hatten, das war nicht mehr seins. Der Briefträger, auch ein geschiedener Mann, wußte das und brachte Günthers Post automatisch zur Villa Kunterbunt, gleich was sie für eine Anschrift trug.
Horst fragte seinen Freund: “Hast Du Dich denn hier nicht angemeldet?”
Günther schüttelte nur den Kopf.

Die beiden Männer vom Amt lachten. Der Ältere grinste: “In so einem Schuppen kann man sich doch nicht anmelden, das ist doch als Wohnraum gar nicht zulässig. Das sind Not- und Behelfsbauten, die nach dem Krieg aus Schutt und Bombentrümmern gebaut worden sind. Vor 60 Jahren hat man da mal wohnen können, da wo es keinen Wohnraum gab, aber heute kann man so etwas allenfalls als Laube oder Geräteschuppen nutzen. Uns liegt eine Anzeige von Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und dem Jungendamt vor, daß sie hier unter menschenunwürdigen Verhältnissen hausen. Wir haben das ja oft, daß Obdachlose in irgendwelchen Gartenlauben hausen.”

”Aber ich bin doch nicht obdachlos!” protestierte Günther: “Ich wohne doch hier!”

”Hier? Nein, das geht nicht. Das ist nach unseren Unterlagen eine Laube, nicht isoliert, mit mangelhaftem Dach und in feuchtem, abrißreifem Zustand. Sie? Sie haben angegeben, daß sie da drüben wohnen, aber in dem Haus, dessen Adresse sie angegeben haben, da wohnen sie gar nicht. Und jemand, der keine Adresse hat, an der er wohnt, na, was ist der wohl? Der ist obdachlos.”

Nun schaltete sich Horst in das Gespräch ein. So gehe es ja nun wohl nicht und das sei ja wohl nur ein Mißverständnis. Horst schilderte in kurzen Sätzen das Schicksal von Günther und hoffte darauf, daß die Männer Verständnis zeigen würden. Doch die blieben unbeeindruckt.
Der mit dem Schnurrbart kramte in seiner Aktentasche, zog eine weitere Kopie des rosafarbenen Schreibens heraus und drückte sie Günther mit den Worten in die Hand: “Das Grundstück wird ringsherum abgesperrt, vorne lassen wir noch auf, sie haben 48 Stunden Zeit ihre Gartengeräte oder was auch immer sie da drin haben, rauszuholen und dann machen wir zu. Das Ding wird abgerissen.”

Das lange Grundstück war inzwischen von den beiden Arbeitern in ihren Warnwesten links und rechts entlang der langen Seiten komplett mit den Zaunelementen abgesperrt worden, auch hinter dem Haus und zwar direkt hinter dem Haus hatten sie quer eine solche Absperrung errichtet.

”Ach ja”, sagte der ältere Mann von der Baubehörde: “Falls Sie auf die Idee kommen, die Absperrungen zu entfernen, mache ich Sie schon jetzt darauf aufmerksam, daß Sie sich dann strafbar machen. Lesen Sie den Bescheid! Das Gebäude ist als unbewohnbar deklariert worden. Sie haben nur die 48 Stunden!”

Dann schnippte er mit den Fingern und nickte den beiden Arbeitern zu, Die vier Fremden verließen Günthers Grundstück.

”Das ist das Ende”, stöhnte Günther und brach in Tränen aus.

Günther, Leo und Horst saßen bei einem Kaffee in Günthers Küche.
”Moment mal, die können doch nicht einfach Dein Haus abreißen”, schimpfte Horst und Leo jammerte: “Wo schieb ich denn dann bloß meinen Wohnwagen hin?”

Günther blickte mit leeren, wässrigen Augen auf die gegenüberliegende Wand und schüttelte nur langsam den Kopf.

”Günther! Nu’ reiß Dich mal am Riemen!” Horst schüttelte Günther an der Schulter. “Das ist doch Dein Haus, Dein Eigentum, Dein Grund und Boden, da kannst Du doch nicht kampflos aufgeben!”

Der Angesprochene schloß kurz die Augen und sagte dann: “Die blöde, fette Sau. Diese scheiß Frau Birnbaumer… Das hat die geschickt eingefädelt. Holt die Mädchen hier ab und macht Gehirnwäsche mit denen. Dann reißt sie mir unterm Arsch das Haus hier weg und stempelt mich als Obdachlosen ab. So krieg ich die Mädchen nie wieder. Und wo soll ich dann mit Thomas hin? Der Junge kann Veränderungen nicht verarbeiten.”

Horst versuchte seinen Freund zu trösten: “Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Weißt Du was? Irgendwo bei der Stadtverwaltung muß es doch eine Stelle geben, wo man Hilfe bekommt. Es kann doch nicht sein, daß alles sich gegen Dich verschworen hat und alle nur gegen Dich arbeiten. Irgendjemand muß doch auch für jemanden wie Dich da sein.”

Leo, dem der ganze Sachverhalt zu kompliziert war, schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und wollte gerade auf seinen dünngelaufenen Holzpantinen den Raum verlassen, da drehte er sich noch einmal um und analysierte in seiner einfachen Art: “Das is’ großer Schiet, das kann ich Dir sagen. Die dicke Alte kennt sich ganz genau aus bei die Behördens und die weiß genau, welche Knöppe die drücken muß, damit so armen Schluckern wie uns die Lampe ausgeknipst wird.”

Günther nickte und wußte, daß der einfache Mann von der Küste Recht hatte. Frau Birnbaumer-Nüsselschweif hatte sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, seine Töchter sozusagen als eigene Kinder zu behalten. Wer weiß, was die den Mädchen über ihn alles erzählt hatte. Kinder kann man leicht beeinflussen. Und um es ihm schwer zu machen, die Mädchen wieder zu sich zu holen, versuchte sie ihm seine Lebensgrundlage abzugraben. Alles was er hatte, war die Villa Kunterbunt, sie war das Zentrum des gemeinsamen Lebens und nur weil er da keine Miete zahlen mußte, konnte er überhaupt mit den Kindern überleben.
Durch ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten kannte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif aber eine Menge Leute und wußte auch in Behördenfragen sehr gut Bescheid. Ihn jetzt als obdachlosen Penner hinzustellen war ein geschickter Schachzug. Hatte er bis vor kurzem noch das Recht auf seiner Seite gehabt und seine Töchter irgendwie irgendwann wieder zu sich holen können, so würde die Fette jetzt wieder das Zauberwort ‘Kindswohl’ in den Ring werfen und auf seiner Obdachlosigkeit herumreiten.

”Jetzt sag doch mal”, unterbracht Horst seine Gedanken: “Die Hütte hier gehört Dir doch, oder?”

”Nee, die habe ich von Frau Semmelbrot gepachtet. Die ist schon vor Jahrzehnten hier weggezogen und war froh, daß ich mich um Grundstück und Laube kümmerte. Ich muß nicht mal einen Hunderter im Jahr an Pacht bezahlen.”

”Ach, und ich dachte immer, das wäre hier Dein Eigentum. Aber vielleicht ist es so noch viel besser!” Horst lachte und klopfte Günther aufmunternd auf die Schulter. “Denn überleg doch mal! Die können doch der Frau Semmelbrot nicht einfach das Haus abreißen. Sie ist schließlich die Eigentümerin und Du hast doch einen Mietvertrag. – Du hast doch einen Mietvertrag, oder?”

Günther nickte und deutete auf den Wohnzimmerschrank nebenan: “Da in der Mitte, wo die Tür klemmt, da ist ‘ne Schachtel mit dem ganzen Kram.”

Wenig später hielt Horst den handgeschriebenen Pachtvertrag in Händen und versuchte die Adresse und Telefonnummer von Frau Semmelbrot zu entziffern: “Die rufen wir jetzt mal an, die wird sich wundern, was hier vorgeht und dann können die das Haus hier gar nicht abreißen.”

”Okay, mach Du das!” sagte Günther und war froh, daß Horst ihm das abnahm, denn er hatte fast keine Kraft mehr, um zu verhandeln, zu taktieren und zu pokern. Ihm war die Situation längst über den Kopf gewachsen. Leider ist es so, daß wenn Menschen eine Situation über den Kopf wächst, der Behördenapparat oft ein leichtes Spiel mit ihnen hat. Für fast alles gibt es Regelungen, Vorschriften und Gesetze und was im Einzelnen für ein Schicksal hinter einem Aktenzeichen steckt, das interessiert manchmal keinen und manchmal wissen die Beamten das auch gar nicht.

”Ich geh’ mal nach vorne und stell mich an die Straße, Thomas wird jetzt gleich gebracht”, sagte Günther, nahm noch einen Schluck Kaffee, zog hörbar die Nase hoch und seufzte. Langsam und nachdenklich schlurfte er nach vorne an die Straße und wartete auf den Kleinbus des Behindertenwerks.

Doch der kam an diesem Tag nicht und auch Thomas kam nicht.

Das Erste was Günther tat, war ein Anruf beim Hilfswerk, um nach dem Verbleib seines Sohnes zu fragen. Die Auskunft, die er dort bekam, war wenig erfreulich. Das Jugendamt der Stadt hatte den Jungen abgeholt und in ein Heim für behinderte Kinder und Jugendliche gebracht.

”Das können die doch nicht machen, das Gericht hat doch gesagt, daß die Kinder bei mir gut aufgehoben sind”, schluchzte Günther, als er wieder an seinem Küchentisch saß. Horst tröstete ihn mit Allgemeinplätzen wie, daß nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht werde und daß sich ganz bestimmt alles nur als Mißverständnis herausstellen werde. In Wirklichkeit glaubte Horst aber nicht daran. Denn mit einem Federstrich hatte man Günther quasi als Obdachlosen abgestempelt, der in einer Bruchbude haust, die demnächst abgerissen werden soll.
So einem Mann gibt man keine Kinder, die ja dann aus Sicht der Behörden ebenfalls obdachlos wären.

”Wir müssen jetzt endlich was unternehmen”, schlug er vor und versuchte zum wiederholten Mal, die alte Frau Semmelbrot zu erreichen. Endlich ging am anderen Ende jemand an den Apparat und Horst schilderte, was ihnen von den städtischen Beamten mitgeteilt worden war.

”Ach du meine Güte!” jammerte Frau Semmelbrot: “Ich bin ja entsetzt! Der Herr Salzner wohnt da? Meine Güte, um Himmels Willen, ach Gott, ach nein, das habe ich doch nicht gewußt! Er hat die Laube doch als Gartenhäuschen gepachtet und als vor ein paar Monaten das erste Schreiben von der Stadtverwaltung kam, habe ich gedacht, das sei vor Ort alles geklärt und die Gärten seien alle verlegt worden. Kriegen denn nicht Kleingärtner immer ein Ersatzgrundstück? Also ich habe das unterschrieben, weil ich die paar Euro für den Grund und Boden besser gebrauchen kann, als ein Grundstück, das hunderte von Kilometern entfernt liegt. Das tut mir jetzt aber sehr, sehr leid für den Herrn Salzner, sagen Sie ihm das bitte und grüßen Sie ihn ganz lieb von mir.”

”Die kann sich ihre Grüße sonstwo hin stecken”, schluchzte Günther, dem das alles zuviel geworden war. Wie viel kann ein Mensch ertragen? Horst wußte, daß sein Freund lange kämpfen konnte, aber irgendwann würde auch seine Kraft nicht mehr ausreichen und dann würde das passieren, wovor sich Horst am meisten fürchtete, sein Freund würde dann seinen Kopf in den Sand stecken und resignieren. Das mußte unbedingt verhindert werden.

Zur gleichen Zeit ließ sich Frau Birnbaumer-Nüsselschweif in Begleitung ihres Mannes und der beiden Mädchen auf dem örtlichen Handharmonika-Konzert blicken. In der ersten Reihe sitzend, genoß sie die Blicke der neugierigen Leute, denen sie zum ersten Mal ihr Familienglück präsentieren konnte.
Ach, was kümmere ich mich doch so aufopfernd um diese armen Kindlein, hoffentlich sehen das alle.

Horst hatte es erreicht, daß Günther und er am übernächsten Tag einen Termin beim Sozialamt hatten. Eine so genannte Quartierbetreuerin nahm sich Günthers Sache an. Die Stadt war vor Jahren in acht oder neun Teile, die Quartiere, aufgeteilt worden und für jedes dieser Quartiere gab es einen Sozialarbeiter bzw. eine Sozialarbeiterin, die dem Sozialamt unterstellt waren und die sich um die Problemfamilien kümmern sollten. Frau Schlick empfing die beiden Männer sehr freundlich, nahm sich reichlich Zeit Günthers Ausführungen zu lauschen, die Horst immer wieder ergänzen mußte, denn wie bereits gesagt, Günther neigte dazu, zu stammeln, sinnfreie Versatzstücke in seine Sätze einzubauen und sich etwas umständlich auszudrücken.

So gehe das ja nun gar nicht und da müsse man ja sofort etwas unternehmen und das sei ja alles ganz besonders merkwürdig und sie wolle sich auf jeden Fall für Günther einsetzen, sagte die Quartierbetreuerin und begann dann aus einem Plastikkasten mit vielen Schubladen rund ein Dutzend hübsch bunter Formulare zusammen zu suchen: “Füllen Sie das alles aus, bringen Sie mir die entsprechenden Belege und Bescheide, Kontoauszüge, Renten- und Verdienstbescheinigungen, Urteile und Unterlagen mit und kommen Sie am Montag um Elf wieder her.”

”Und was ist jetzt mit den Kindern?” wollte Günther wissen.

”Nun, da sind mir zunächst die Hände gebunden. Nach meiner ersten Einschätzung ist es ja so, daß die Mädchen in guter Obhut sind und Ihr Sohn Thomas sich ja in fachlicher Betreuung befindet. Da wird man jetzt auf die Schnelle gar nichts machen können. Ich kann und darf Ihnen auch gar nicht sagen, wo sich Thomas derzeit aufhält. Das Kindeswohl geht ja immer vor.”

Da war es wieder, dieses Zauberwort ‘Kindeswohl’, das Wort mit dem man alles durfte. Günther wollte aufspringen, doch Horst hielt ihn zurück und dann sagte auch Frau Schlick das was Horst schon einige Tage vorher zu Günther gesagt hatte: “Da braucht man Geduld, es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.”

Zwei Tage durchforstete Horst Günthers Wohnzimmerschrank, in dem sich auch alle Dokumente befanden. Allerdings waren die nicht sauber in Ordnern abgeheftet, sondern lagen stapelweise in alten Pappkartons. An die hundert nicht geöffnete Briefe fand er, stapelweise Kassenbons von Supermärkten und Gebrauchsanweisungen von Geräten, die Günther längst nicht mehr besaß. Dazwischen Lohnbescheinigungen, alte Lohnsteuerkarten und wahrscheinlich sämtliche Telefonrechnungen seit 1970, alles durchmischt mit Reklame von Faber-Lotto und Blumen-Bakker.
In diesem Sammelsurium fand Horst nur einen Teil der benötigten Unterlagen und erfuhr dann von Günther, daß dieser mal ‘aufgeräumt habe’ und die unwichtigen Sachen zum Ofenanzünden verwendet habe.

Mit Mühe und Not brachte Horst es fertig, den Wust an Formularen auszufüllen, hatte jedoch nur einen Bruchteil der geforderten Belege gefunden. Am Freitagmorgen packte er alles zusammen in eine Mappe und sagte: “Mehr haben wir nicht. Alles soweit ausgefüllt, die vorhandenen Belege dabei, jetzt können wir am Montag mal gucken, ob das der Tante da reicht. Zaubern kann ich auch nicht.”

Während er das sagte, kam Leo herein, legte die Zeitung auf den Tisch und nahm sich seinen allmorgendlichen Kaffee und ging wieder. Leo hatte seine eigenen Sorgen. Wo sollte er hin, wenn Günther das Grundstück verlor?

Günther nahm sich die Zeitung, breitete sie auf dem Küchentisch als Unterlage aus, um sich mit einer kleinen Stopfmaschine ein paar Zigaretten zu fabrizieren. Auf einmal wischte er die Tabakkrümel zur Seite und starrte auf die Zeitung.
Horst sah, daß sein Freund ganz blaß geworden war. Vorne auf der Regionalseite befand sich ein Bericht vom Handharmonikakonzert und einem Bild von Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, ihrem Mann und Günthers Töchtern.

”Ich mach die alle. Ich mach die fette Qualle tot!” brüllte Günther und fegte alles vor ihm Liegende vom Tisch.

Einige Wochen waren vergangen und als Günther an diesem Morgen aufwachte drang ihm zu allererst der Geruch von frischer Farbe in die Nase. Er schaute sich um und war, wie schon in den Tagen zuvor, hin und her gerissen.
Seine neue Zweizimmerwohnung war um Klassen besser als die Villa Kunterbunt. Alles war neu renoviert, es gab fließend warmes und kaltes Wasser, die Toilette war modern und sogar seniorentauglich und vor allem war die Wohnung dank Zentralheizung durchgehend mollig warm.
Doch er vermißte seine Gartenlaube mit den großzügigen Platzverhältnissen und hätte im Grunde viel lieber die Unzulänglichkeiten dort hingenommen, als nun “auf Etage” zu wohnen.

Es war alles ganz schnell gegangen und die Ereignisse hatten sich überschlagen, sodaß Günther gar nicht in der Lage war, dem entgegen zu treten.
Frau Schlick, die Quartierbetreuerin von der Stadtverwaltung hatte sich als doch recht tüchtig erwiesen und trotz ihrer etwas herablassenden Art alles getan, um aus ihrer Sicht das Beste für Günther zu tun.

Das Bauamt hatte Günther Druck gemacht, am Liebsten hätte man dem Mann seine Hütte über dem Kopf abgerissen, mit allem was noch drin war. Doch genau in dieser Phase war Frau Schlick zu Günther gekommen und hatte ihm ein Angebot unterbreitet.
”Das Angebot machen wir nicht jedem, Sie sollten es annehmen!” hatte sie gesagt und Günther dann erklärt, er könne als Ersatz für seine Laube eine neu renovierte Wohnung in einem erst vor vier Jahren fertiggestellten städtischen Mietshaus bekommen.
Den Umzug erledige ebenfalls die Stadt und falls er einige seiner Möbel nicht mitnehmen könne, so würde man auch dafür eine Lösung finden.

Horst hatte Günther zugeredet: “Mach das, Kerl! So eine Chance, hier aus dem nassen Loch herauszukommen, bekommst Du nie wieder. Weißt Du eigentlich was auf dem Wohnungsmarkt los ist? Am Ende reißen die die Bude hier ab und Du stehst auf der Straße.”

Frau Schlick und ein Mann vom Bauamt konnten ein Grinsen nicht verbergen, das nur für einen Augenblick über ihre Gesichter huschte, als sie sich ansahen, während Günther seine Unterschrift unter die Abmachung setzte.
Was sie Günther nicht gesagt hatten, war das er eigentlich ein Vorkaufsrecht für die Laube hatte. Günther hatte seinen einfachen Pachtvertrag mit Frau Salzmann schon seit Jahren nicht mehr gesehen, er war irgendwo im wasserfeuchten und etwas schiefen Wohnzimmerschrank zwischen anderen Unterlagen untergegangen und auch Horst hatte ihn beim Aufräumen nicht gefunden. Zuerst hatte Günther ja nur einen handschriftlichen Zettel von der alten Frau bekommen, später irgendwann, als deren Tochter sich mal um ihre Angelegenheiten gekümmert hatte, war ein maschinengeschriebener Vertrag gefolgt, in dem es hauptsächlich darum ging, daß die Familie Salzmann eigentlich gar nichts mehr mit dem Grundstück zu tun haben wollte und alle Verpflichtungen auf Günther abwälzten. Aber in diesem Schreiben hatte auch gestanden, daß Günther jederzeit die Villa Kunterbunt hätte kaufen können.

Ob diese Vereinbarungen vor Gericht Zugkraft bewiesen hätten oder ob die Stadtverwaltung mit ihrem Hauruck-Verfahren bei Gericht durchgekommen wäre… genau das wollte man wohl seitens der Kommune gar nicht ausprobieren und deshalb hatte man Günther lieber eine Ersatzwohnung angeboten und ihm den Umzug erledigt.

Und dann war alles so schnell gegangen, daß Günther gar nicht begreifen konnte, wie es ihm geschah.
An einem Morgen rückten drei Lastwagen von Primus-Fair an. Primus-Fair ist ein wirtschaftlicher Eigenbetrieb der Stadt, in dem vorwiegend Behinderte und auf dem Arbeitsmarkt schwer Vermittelbare beschäftigt werden und die Wohnungsentrümpelungen und Haushaltsauflösungen durchführen und die guten und brauchbaren Sachen in einer großen Halle im Westviertel für wenig Geld verkauften.
Die Männer von Primus-Fair langten kräftig hin und Günther mußte sie mehr als einmal bremsen, sonst hätten sie ihm alles einfach rausgeschleppt und vermutlich entsorgt. “Nein, das muß mit in die neue Wohnung”, sagte er an diesem Morgen sicher an die fünfzig Mal.
Doch irgendwann bremste ihn der Vorarbeiter: “Männeken, in die neue Wohnung geht doch gar nüscht so ville rin! Wenn ick hier auf mein Zettel kiek, dann kannste doch bei uns im Lager dir neue Möbel raussuchen. Trenn dich ma’ von dem janzen verschimmelten Plunder!”

Drei Stunden später saß Günther in der neuen Wohnung, umgeben von einem ungeheuren Stapel von Umzugskartons. Nur der Küchentisch und die Eckbank waren ihm geblieben, gleich würde Horst kommen und mit ihm zum Primus-Fair-Lager fahren.
Dort staunte Günther nicht schlecht, was man dort alles kaufen konnte. Tausende von Büchern und Geschirr- und Besteckteilen, Töpfe, Pfannen, Teppiche und alle Arten von Möbeln. Vieles für erstaunlich wenig Geld, doch alles was ein bißchen besser aussah, das war auch dort recht teuer.
Aber Horst und Günther fanden alles und brachten es fertig, aus dem fast unüberschaubaren Angebot sogar nur solche Möbel zu nehmen, die auch irgendwie gut zusammen paßten.

Schon am nächsten Tag brachten die Primus-Fair-Leute die Sachen und bauten alles auf.

Jetzt saß Günther in der frisch renovierten Wohnung mit Möbeln von deren Vorgeschichte er nichts wußte, mit wenigen seiner Habseligkeiten in Pappkartons und fühlte sich elend.
Zum ersten Mal seit Jahren hatte er eine anständige Behausung, anständig zumindest mal nach den Maßstäben, die Behörden so anlegen.
Aber tief in seinem Inneren war eine tiefe Leere. Er vermißte seine Kinder, machte sich Vorwürfe, nicht genug Kraft zu haben, etwas zu unternehmen, um die Kinder zurück zu holen und -das erstaunte ihn am meisten- er vermißte auch seine Frau.

Vor seinem geistigen Auge lief ein Film am, so wie es war, als alles noch in Ordnung war, als sie noch das eigene Haus bewohnten und die Wochenenden auf dem Gartengrundstück verbrachten. Seine Frau strahlte, lautes Kinderlachen, es war eine schöne Zeit gewesen.

Wie hatte es nur so weit kommen können?

Leo war der große Verlierer der Geschichte. Er und sein Wohnei wurden wenige Tage später recht rüde “abtransportiert”. Das von Pommesfett triefende und an einigen Stellen im Inneren wohl schimmelige Gefährt wurde sang- und klanglos auf dem städtischen Recyclinghof zerlegt und entsorgt. Seine wenigen Besitztümer packten städtische Arbeiter in ein paar Pappkartons und eine Stunde später fand sich der freiheitsliebende Norddeutsche in einem Männerwohnheim wieder, wo ihm erst einmal eröffnet wurde, daß es sowieso nur koffeinfreien Kaffee gibt und daß das Rauchen nur hinten auf dem Hof in einer Raucherecke erlaubt sei.

”Warum stecken die mich jetzt ins Gefängnis?” hatte Leo gefragt und auf die Antwort: “Aber das ist hier doch kein Gefängnis, hier ist es schön”, hatte er geantwortet: “Und Du bist doof.”

Schon eine Stunde später war Leo aus dem Männerwohnheim verschwunden, nur wenige Sachen hatte er in eine Decke eingeschlagen und zu einem Bündel geschnürt und mitgenommen. Wohin der Mann gegangen war, das interessierte in dem Wohnheim niemanden.

Günther saß tagein, tagaus in seiner Wohnung und konnte sich nicht entscheiden, ob ihm die Situation nun gefallen sollte oder nicht.
Auf der einen Seite fand er den Komfort, den die Wohnung in bescheidenem Maße bot, recht annehmlich. Warmes Wasser, eine Badewanne, Heizungswärme auf Knopfdruck und eine moder- und schimmelfreie Umgebung.
Andererseits war sein Lebensraum nun auf die paarunddreißig Quadratmeter beschränkt, der winzige Balkon im dritten Stock bot nur eine Aussicht auf eine weitere Häuserzeile der gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaft und die Nachbarschaft gefiel Günther gar nicht.
Nicht, daß er da besonders anspruchsvoll gewesen wäre, aber über ihm wohnte ein Farbiger, der offenbar irgendeinen fliegenden Handel betrieb und zu dem ständig irgendwelche Leute, auch alles Afrikaner, kamen und was insgesamt eine permanente Treppenlauferei und Türenknallerei sowie das Gelärme bei den recht ausufernden Begrüßungen im Treppenhaus mit sich brachte.
Viel schlimmer aber noch fand Günther seinen Nachbarn zur Rechten, der offenbar den ganzen Tag sehr lautstark Heavymetal-Musik hörte und aus dessen Wohnung ein ununterbrochenes, dumpfes Bumm Bumm Bumm durch die Wand drang.
Irgendjemand im Haus schien ständig faule Kohlsuppe oder Giraffenfüße zu kochen, weshalb Günther die Fenster nicht öffnen mochte, weil der fettige Küchendunst ausgerechnet auf seiner Fensterseite am Haus emporstieg.

”Ja, ja, man darf halt nicht anspruchsvoll sein, wenn man so eine arme Sau ist, wie ich”, sagte er zu Horst, der sich alle Mühe gab, Günther die Situation schön zu reden.
Horst war auch derjenige, der anfing, Günthers Umzugskartons auszupacken und die Sachen in den Schränken zu verstauen.

”Mir ist das doch eigentlich egal, wo ich wohne. Ob die da unten jeden Tag Elefantenarsch kochen, ob der Neger da oben noch zehnmal mehr Besuch bekommt oder ob der Typ nebenan noch lauter Musik hört. Ich muß ja eigentlich zufrieden sein, daß die sich so schnell um eine Wohnung für mich gekümmert haben. Von meinen kümmerlichen Einkünften hätte ich mir weder den Umzug, noch so eine Wohnung leisten können. Aber ist dir mal klar geworden, daß die mir hier eine Zweizimmerwohnung aufs Auge gedrückt haben.”

”Ja und?”

”Wie, ja und? Kapierst Du es nicht?”

”Nee.”

”Die ziehen damit einfach einen Schlußstrich unter meine Vaterschaft. Das Gericht hat gesagt, daß die Kinder bei mir sein dürfen. Das ist gerichtlich so festgelegt. Und dann kommt diese fette Stinkschachtel und nimmt mir einfach die Mädchen weg; und Thomas haben sie in ein Heim gesteckt. Ich möchte gar nicht wissen, wie es dem geht. Der kann sich doch an neue Umstände und eine Veränderung seines Tagesablaufs gar nicht gewöhnen. Tja und nun? Nun geben die mir großzügig eine Zweizimmerwohnung und setzen damit fest, daß die Kinder jetzt auch nicht zu mir kommen können. Wo sollten die denn hin? Hier ist Platz für einen und dieser Eine, der bin ich.”

Horst nickte und ärgerte sich insgeheim, daß er diesen Aspekt selbst nicht bedacht hatte.

”Günther, wir machen da was, Du kannst auf mich zählen, ich kümmere mich und helfe Dir. Aber erst lebst Du Dich hier mal richtig ein.”

”Nee, ich will zumindest Thomas mal sehen, will sehen, wie’s dem geht.”

”Okay, dann machen wir das jetzt. Es gibt ja nicht so viele Heime in der Nähe wo er sein kann, die klappern wir jetzt ab. Da drüben in der Schublade, da sind Deine Dokumente, also zumindest mal die, die ich bisher gefunden habe. Oben im roten Ordner sind die ganzen Sachen von Gericht und Polizei. Nimm den Bescheid vom Gericht mit und wir fahren los.”

”Und meinst Du, daß ich Thomas dann wieder bekomme?”

Horst wollte Günther keine falschen Hoffnungen machen und sagte: “Glaub’ ich jetzt eher nicht, aber wenigstens müssen Sie Dich dann mal zu ihm lassen.”

Schon im zweiten Heim wurden die beiden fündig. Der Pförtner verwies sie recht wortkarg an die Verwaltung im ersten Stock und dort studierte eine junge Dame mit Brille ausführlich die mitgebrachten Unterlagen.
Dann gab sie die Blätter an Günther zurück, lehnte sich in ihrem Sessel weit vor und sagte: “Herr Salzner, wir haben Wochen gebraucht, um überhaupt Zugang zu Thomas zu bekommen. Jetzt hat er sich gerade an die Situation und die Abläufe hier gewöhnt. Erstens glaube ich mal nicht, daß das Jugendamt dem zustimmen würde, wenn Sie Thomas mitnehmen wollten, aber das sage ich nur der Form halber. Denn im Gegensatz zum Jugendamt kümmern wir uns wirklich um die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Und nach meiner Einschätzung ist Thomas hier sehr gut untergebracht.
Wollen Sie meine Meinung hören? Ich sag’s Ihnen. Thomas braucht seinen Vater und Thomas braucht seine Schwestern. Schaffen Sie ein ordentliches Umfeld, in dem alle Kinder mit Ihnen eine Familie sein können und dann denken wir darüber nach, wie wir Thomas Ihnen wieder zuführen können.”

Günther wollte aufbrausen, doch die junge Frau stand einfach auf, hielt den beiden Männern die Tür auf und sagte: “Kommen Sie und schauen Sie selbst!”

Von einem Fenster am Ende des Flurs konnte Günther dann seinen Sohn sehen, der lachend mit einem anderen Jungen Tischtennis spielte.

”Der hat noch nie Tischtennis gespielt”, staunte Günther.

”Der hat vieles noch nicht gemacht. Thomas hat es bei Ihnen gut gehabt und er wird es bei Ihnen auch gut haben. Daran habe ich keinen Zweifel. Sie sind bestimmt ein guter Vater. Aber sie haben Thomas immer so genommen, wie er war und sind auf seine Eigenheiten einfach in der Form eingegangen, daß sie alles akzeptierten und nur ja nichts an den Abläufen veränderten. Das hat ja auch viele Jahre funktioniert.
Aber unsere Aufgabe ist auch die Therapie. Und das können Sie daheim einfach nicht leisten. Wir arbeiten jeden Tag mit dem Jungen, wir versuchen auch auf ihn einzugehen und ihm seine Rituale und Abläufe zu belassen. Aber wir stellen ihn auch täglich behutsam vor neue Herausforderungen und das tut dem Jungen gut.
Herr Salzner, wollen Sie Thomas da jetzt raus reißen?”

Günther schüttelte langsam dem Kopf und dicke Tränen kullerten über seine Wangen. Er mußte einsehen, daß Thomas im Moment wirklich besser im Heim untergebracht war, als bei ihm.

In Horsts Auto weinte er noch eine ganze Weile und dann sagte Horst: “Komm, Kopf hoch, Alter, wir packen das schon. Dem Jungen geht’s doch wenigstens gut, davon hast Du Dich doch jetzt überzeugen können. Packen wir lieber die fette Wachtel mal richtig bei den Eiern und sehen zu, was mit den Mädchen ist.”

”Jau, die Dicke schlachten wir”, sagte Günther und der Gedanke ließ ihn sogar wieder lächeln.

Monate waren vergangen. Frau Birnbaumer-Nüsselschweif hatte viel Zeit in unermüdliche Mutterarbeit investiert, um die beiden Mädchen Monika und Ute unter ihre mütterlichen Fittiche zu nehmen. Ute war inzwischen 9 Jahre alt geworden, Monika hatte erst vor einigen Tagen ihren zehnten Geburtstag gefeiert und keines der beiden Mädchen hatte an seinem Geburtstag auch nur eine Sekunde an seinen Vater Günther gedacht.
Wer glaubt, die beiden Mädchen würden erbärmlich unter der Trennung von ihrem Vater leiden, der täuscht sich.

Frau Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweif hatte alles daran gesetzt, die Kinder davon zu überzeugen, daß ihr Vater ein schwer krimineller Säufer und Obdachloser ist. Nur unter ihrer Obhut könnten sie in eine gute Zukunft blicken und damit Günthers Töchter nicht auf andere Gedanken kamen, installierten sich die Birnbaumer und ihr Mann als die perfekten Eltern. Anfangs war den Mädchen jeder Wunsch von den Augen abgelesen worden und die dicke Luitgard hatte fast das gesamte örtliche Spielwarengeschäft leergekauft.
Nach etlichen Wochen war die überbordende Schenksucht, die sich für die Mädchen anfühlte wie Dauerweihnachten, einer behutsamen Strenge gewichen. Zuwendung und Zärtlichkeiten, Aufmerksamkeit und familiäre Gemütlichkeit gab es nur noch in homöopathischen Dosen und zwar stets nur als Gegenleistung für die deutlich geäußerte Anerkennung des Ehepaars Birnbaumer-Nüsselschweif als Papa und Mama.

Auch wenn die Mädchen sich vor der Hand hatten davon überzeugen lassen, daß der Aufenthalt bei den Pflegeeltern für sie das Allerbeste sei, und auch wenn sie immer weniger an ihren eigentlichen Vater dachten, war es ihnen anfangs sehr schwer gefallen zu der Dicken Mama sagen zu müssen.
Aber der Alltag verschliff diese innere Hürde. Andere Kinder sprachen von Mama und Papa oder von “Vadda” und “Mudda” und Ute und Monika wurde es irgendwann auch mal zu viel, immer von Pflegeeltern zu sprechen oder den umständliche Nachnamen der Zieheltern mitsamt der dazugehörigen Erklärungen nennen zu müssen.

Sagten sie brav Mama, gab es ein Lächeln oder eine Streicheleinheit und zum Essen einen leckeren Nachtisch.
War eins der Mädchen grüblerisch oder traurig und hatte die Birnbaumer-Nüsselschweif das Gefühl, es könne Gedanken an frühere Zeiten nachhängen oder an den Vater oder den Bruder denken, so herrschte sofort eine kühle Atmosphäre, die auch schnell in einen barschen Ton umschlagen konnte und nicht selten damit endete, daß eines der Mädchen ohne Abendessen aufs Zimmer geschickt wurde.

Mit Bedacht hatte die Birnbaumer-Nüsselschweif für die Mädchen zwei getrennte Zimmer ausgewählt.
”Ihr seid doch schon so groß, da braucht doch jede von euch ihren eigenen Freiraum”, hatte sie freudestrahlend zu den Mädchen gesagt und als Monika und Ute ihre frisch renovierten und hübsch dekorierten Mädchenzimmer bestaunten, glaubten sie, im Siebten Himmel zu sein.

”Na, dann lebt euch erst mal richtig in euren neuen Zimmern ein”, hatte die Dicke mit einem mildtätig, gütigen Lächeln zu ihnen gesagt und war mit ihrem Mann nach unten gegangen.

Der war gar nicht so begeistert davon: “Daß ich mein Arbeitszimmer jetzt auf der Mansarde habe, das gefällt mir überhaupt nicht. Warum können die Muschen nicht in einem Zimmer wohnen?”

”Weil sie sonst stundenlang miteinander reden. Kapierst Du das nicht? Die sitzen doch sonst nur zusammen und tuscheln und jedesmal kommt die Erinnerung hoch. Das will ich nicht. So wie es jetzt ist, so ist es am Besten, da habe ich sie besser unter Kontrolle.”

”Und warum habe ich nicht den trockenen Raum im Keller haben können? Da hast du ja auch schon einen Schrank, ein Regal und ein Jugendbett liefern lassen. Willst du etwa auch noch den Jungen, diesen Thomas holen?”

”Den Krüppel? Das Ärmele? Den Deppen? Gott behüte! O Gott, Du Allmächtiger, schicke meinem Mann Hirn und Schmalz und dann schüttele ihn, bis Hirnschmalz draus geworden ist!”

”Ja und was soll das dann mit dem Zimmer im Keller?”

Die Birnbaumer-Nüsselschweif wollte schon etwas sagen, schürzte dann aber nur die dicken, feuchten Lippen, überlegte kurz und sagte dann nur: “Ach, das ist doch nur ein Ausweichquartier, so eine Art Refugium, falls eines der Mädchen mal eine Auszeit braucht.”

”Versteh’ ich nicht. Die haben doch ihre eigenen Zimmer um sich zurückziehen zu können.”

”Ja, das verstehst du nicht, weil du einfach nicht diese warmen, mütterlichen Gefühle entwickeln kannst, wie ich es als Frau eben kann. Du bist eben nur ein Mann.”

”Was hat das mit Mann und Frau zu tun? Ich bin doch schließlich der Vater von denen; sagst Du doch immer.”

”Ja, und wehe, Du läßt es den Gören durchgehen, daß die einmal nicht Papa oder Vater zu Dir sagen!”

”Gut, aber warum dieses Zimmer im Keller?”

”Sag ich doch: Ein Refugium.”

”Versteh’ ich immer noch nicht.”

”Sag mal, bist du so blöde oder tust du nur so? Das Zimmer im Keller ist so etwas wie die stille Treppe. Habe ich im Fernsehen gesehen. Wenn die Kinder da nicht parieren, dann kommen sie auf die stille Treppe und müssen da sitzen und nachdenken. So wie früher, als wir in der Schule in der Ecke stehen mußten.”

”Ich hab nie in der Ecke gestanden.”

”Ich schon.”

”Und die kommen dann da runter?”

”Ist ja nur für den Fall der Fälle. Die Mädchen kommen ja irgendwann auch in die Pubertät und man weiß doch wie schwierig die dann werden. Dann wollen sie mit Buben was anfangen und all so’n scheußliches Zeug. Und da ist es dann ganz gut, wenn sie zum Nachdenken mal ein, zwei Tage ins Refugium gehen.”

”Wenn Du meinst, Luitgart…”

”Nenn’ mich Mama, hörst Du! Ich will, daß auch Du mich Mama nennst!”

Günther fühlte sich in seiner neuen Umgebung nicht wohl und so war es für ihn ein großes Glück, daß er durch Zufall den alten Herrn Arbing kennen lernte, der ihm erzählte, daß er aus Altersgründen seinen Garten am alten Stellwerk aufgeben wolle.
Für Günther gab es nichts zu überlegen, keinen Grund zu zaudern und die Pacht, die Herr Arbing verlangte, tendierte gegen Null.
Ohne den Garten je zuvor gesehen zu haben, schlug Günther ein und wußte zu diesem Zeitpunkt nur, daß es sich bei den Grundstücken am alten Stellwerk nicht um DIN-genormte Schleckparzellen vereinsmeiernder Grashalmzähler handelte, sondern um völlig frei gestaltete, durch Bäume, Gebüsch und Hecken kaum einsehbare, riesengroße Gärten handelte.

Am nächsten Tag schon trafen sich der alte Arbing und Günther zur Besichtigung und das was Günther sah, verschlug ihm den Atem.
Das Grundstück hatte fast die Größe eines Fußballplatzes, etwas schmaler und etwas länger.
Vorne am Zufahrtsweg gab es ein Holztor, eingebettet in eine Hecke aus riesengroßen, alten Lebensbäumen. Dahinter folgte ein etwa 20 Meter langer Streifen mit Beeten, Kompostkisten und Bohnenstangen, dann folgte wieder eine Hecke mit einem Rosenbogen als Durchgang.
Was sich dahinter verbarg, das hatte Günther in seinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt. Dort stand ein alter Bahnwaggon und hufeisenförmig reihten sich zwei Bauwagen an.
Alles das hatte Arbing zu einer regelrechten Wohnbehausung ausgebaut, in über 30 Jahren.

Für Günther war sofort eins sonnenklar: Er würde die Wohnung, die die Stadt ihm zugewiesen hatte, nur noch für den Notfall und als Meldeadresse behalten und sofort in den großen Waggon einziehen.

Von da an verbrachte er jede freie Minute im Garten, richtete sich alles nach seinen Wünschen her und nach gut einem Monat hatte er sich alles wieder in eine neue Villa Kunterbunt verwandelt.

Horst half ihm, so gut er konnte, redete Günther ab die Idee aus, nun sogleich zum Amt zu laufen und seine Kinder wiederzuholen. Er solle sich doch nicht einbilden, daß es in der neuen Gartenbehausung in irgendeiner Weise anders laufen würde, als bei der alten Villa Kunterbunt, die inzwischen abgerissen worden war.

”Da mußt Du jetzt Geduld haben”, mahnte Horst, “gegen die Stadt und das Jugendamt kannst Du nichts machen. Guck mal, die dicke Birnentante ist in diesem kirchlichen Hilfswerk und für die Leute vom Jugendamt die perfekte Mutterfigur, bei der es Monika und Ute gut haben. Aber die Mädchen werden der Dicken doch nicht geschenkt oder Dir wirklich weggenommen. Das siehst Du nur so. In Wirklichkeit sind und bleiben das Deine Töchter, genauso wie Thomas Dein Sohn bleibt. Übrigens, der ist doch wohl im Moment im Heim wirklich besser aufgehoben, sag doch mal ehrlich!”

Günther wollte aufbrausen, hielt dann aber inne und nickte schließlich langsam. “Ja, was den Jungen anbetrifft, so hast Du vielleicht so ein ganz kleines bißchen Recht, aber die Mädchen…”

”Die Mädchen sind, so komisch das klingt, bei der fetten Wachtel besser aufgehoben. Da weißt Du wenigstens wo die sind und wie die Dicke einzuschätzen ist, das wissen wir auch. Wären die in einem Heim oder würden gar von Heim zu Heim weitergereicht, dann würdest Du irgendwann die Kontrolle ganz verlieren.
Bring Dein Leben irgendwie in Ordnung, sieh zu, daß Du ein Umfeld aufbaust, in dem die Mädchen auch leben können und dann sehen wir weiter.”

”‘ne ganz große Scheiße ist das, wenn Du mich fragst.”

Horst sah das pragmatischer. Aus seiner Sicht waren die Kinder für den Augenblick wirklich besser untergebracht als bei seinem Freund Günther. Was hatte Günther nicht alles für Schläge in der vergangenen Zeit hinnehmen müssen? Die Ehefrau unter mysteriösen Umständen verstorben, das Einfamilienhaus futsch, die Arbeitsstelle eingebüßt, finanzielle Probleme wegen des Autounfalls und dann in den letzten Wochen alle drei Kinder weg und zu guter Letzt auch noch die alte Villa Kunterbunt verloren.
Das mußte einfach zuviel für einen Menschen allein sein. Sogar der alte ‘Seemann’ Leo war verschwunden, der Günther vielleicht, trotz seiner wortkargen Art, irgendwie hätte beistehen können.

Lange konnte das mit Günther nicht gut gehen, das vermutete Horst ganz stark. Irgendwann würde sie diese Zusammenballung von Schicksalsschlägen bitter rächen und Horst hatte Angst, Günther könne eines Tages einfach zusammenbrechen.

Noch schien Günther alles schultern zu können, doch wie lange noch?

Während Horst sich noch darüber Gedanken machte und mit Günther gemeinsam einen der Bauwagen anpinselte, und zwar den, der die Toilette, eine Badewanne und einen Kohleofen für das Badewasser enthielt, flötete vor dem Gartentor jemand und Horst und Günther zuckten zusammen. Dieses Pfeifen kannten sie nur zu gut, das war Leo!

”Moin, moin, watt’n los, Jungs? Habter noch Plätzchen für son ollen Spökenkieker wich mich?”

Klar, es dauerte keine Woche und Leo hatte sich wieder bei Günther eingenistet. Im hinteren Teil des Gartens, dort wo nur noch mehrere Reihen Obstbäume standen, hatte er sich ein Zelt errichtet und davor mit zwei Bierbänken und einem Tisch seine ganz persönliche ‘Haifischbar’ eingerichtet.
Alles war fast wieder wie früher, Leos allmorgendlichen Rituale, Kaffeeholen, Toilettenbesuch, Blick in die Zeitung, liefen ab, als sei es nie anders gewesen.

Bis..
…ja bis zu dem Tag, an dem Leo morgens nicht zum Kaffeeholen kam und Günther ihn, wie friedlich schlafend, tot in seinem Zelt vorfand.

Und genau das war der Moment, als Günther wieder in mein Leben trat. Denn Günther kannte nur mich als Bestatter und das Erste was er tat, war ein Anruf in unserem Bestattungshaus.

”War der Arzt schon da?” fragte Frau Büser ganz nach Vorschrift und Günther war völlig perplex: “Sie, der braucht keinen Arzt, der ist tot, der braucht ‘nen Totengräber.”

”Aber erst muß ein Arzt den Tod feststellen.”

”Na hören Sie mal, daß der mausetot ist, das seh ja sogar ich.”

”Darum geht es nicht. Ein Arzt muß das feststellen und die entsprechenden Papiere ausstellen, ohne die läuft nichts.”

”Und dann?”

”Dann kommen wir vorbei und holen den Verstorbenen und Sie können dann zu uns kommen und alles weitere besprechen.”

Frau Büser schien sich an Günther nicht mehr erinnert zu haben, denn sie notierte seinen Namen und schrieb dazu: Bruder Leo verstorben.

Was soll ich lange erzählen? Wie das so ist, wenn jemand sich um die Bestattung eines Mittellosen kümmert und selbst mittellos ist, das habe ich schon so oft erzählt. Das Sozialamt bewilligte auf dem seinerzeit üblichen so genannten kurzen Dienstweg eine einfach Erdbestattung mit Trauerfeier und namenlosem Grab. (Allein auf die Begleichung der Rechnung warteten wir dann fast sechs Monate.)
Was bedeutete das?
Ein Reihengrab mit Holzkreuz hätte das Amt auch noch bewilligt, wenn Günther hätte nachweisen können, daß er über die Mittel verfügte, das Grab 18 Jahre lang zu pflegen. Aber das wollte Günther gar nicht, denn für ihn war eins sonnenklar: “Der Leo muß ein Seemannsgrab bekommen. Denn auch wenn der vielleicht nur Seemannsgarn gesponnen hat, wenn er von seinen Fahrten nach Sansibar und rund ums Kap Horn erzählt hat, so war das doch das feinste Seemannsgarn der Welt und so einer, na, der muß doch auch ein Seemannsgrab kriegen.”

Es war nicht schwer, den zuständigen Sachbearbeiter davon zu überzeugen, daß dies die beste Lösung sei. Unterm Strich sparte sich das Amt auf diese Weise die Trauerfeier, den einfache Erdsarg und die Kosten für das Grab. Stattdessen fielen die Kosten für einen Einäscherungssarg, die Kremierung und die einfache Seebestattung ohne Begleitung an. Das hielt sich bis auf 100 D-Mark die Waage.
Als wir die Urne vom Krematorium abgeholte hatten, kam mir die Idee, doch eine kleine Trauerfeier für Leo zu organisieren.

Inzwischen hatte ich Günther näher kennengelernt, der mir auch sofort das Du angeboten hatte, und wußte, daß er keine Geschenke annimmt und durch solche leicht in Verlegenheit zu bringen war.
Deshalb verzichteten wir darauf, eine Trauerfeier in unserer Trauerhalle abzuhalten, denn dann hätte der einfache, aber durchaus nicht dumme Mann sich brüskiert gefühlt und sich sofort Sorgen um die Kosten gemacht.

Also packten wir eine Blumensäule aus Holz, ein Stück blaues Tuch und die Urne in den Wagen und fuhren zu Günthers Gartengrundstück. Wenn ich “wir” sage, dann meine ich Sandy und mich. Sandy hatte vorher bei Günther angerufen, der seit einigen Wochen wieder ein Prepaid-Handy besaß, um draußen im Garten erreichbar zu sein. So waren Horst, Günther und einer von Leos Saufkumpanen vom Campingplatz versammelt, als wir eintrafen.
Günther hatte sich extra fein gemacht, die mittlerweile etwas struppig wuchernden Haare mit viel Wasser glatt gekämmt und Leos Campingfreund versteckte verschämt eine Bierflasche hinter seinem Rücken als er uns sah.

Schnell hatten wir das Podest aufgestellt, das Tuch darüber gelegt und die Urne darauf plaziert. Drei, vier Blümchen von einer Trauerfeier vom Vormittag hatte Sandy abgezweigt und vorne vor die Urne gelegt.

”Leo, Du warst ein großer Seemann”, begann ich die Ansprache und schon begannen bei Günther die ersten Tränen zu fließen.
”Vielleicht hast Du alle sieben Weltmeere bereist, vielleicht hast Du aber auch nur eine Hafenrundfahrt gemacht, wir wissen es nicht. Aber ganz egal, wie oft und wie weit Du aufs offene Meer hinaus gefahren bist, keiner konnte so schönes Seemannsgarn spinnen wie Du!
Und drauf kommt es schließlich an, wenn man ein richtiger Seebär sein möchte.
Nun nehmen wir also Abschied von Leo, indem wir es ihm nun ermöglichen, seine letzte Reise in die Nordsee anzutreten, in das Meer von dem er so viel erzählt hat.”

Genau in diesem Moment drückte Sandy auf den Knopf unseres CD-Players und Lolita sang das Lied “Seemann, laß´ das Träumen” und beim Refrain

”Deine Heimat ist das Meer
Deine Freunde sind die Sterne
Über Rio und Schanghai
Über Bali und Hawaii
Deine Liebe ist dein Schiff
Deine Sehnsucht ist die Ferne
Und nur ihnen bist du treu – ein Leben lang”

…ja, beim Refrain, da hatte dann auch ich ein bißchen Wasser in den Augen.

So ist Leo, der Norddeutsche, gegangen und einige Wochen später wurde seine Asche in einer stillen Zeremonie dem Meer übergeben.

Ich nehme an, daß Günther für diesen kleinen Liebesdienst, die ganz private Abschiedsfeier für Leo, sehr dankbar war. Jedenfalls kam er ein paar Tage später und brachte mir eine notdürftig eingewickelte Flasche Schnaps als Dankeschön.
Aber das war nicht alles: Er blieb fast vier Stunden sitzen und erzählte mir von seinem Schicksal.
Eigentlich hatte er mir nur erzählen wollen, wie Leo zu ihm gekommen war, aber dann war doch das Erzählen fast eines ganzen Lebens daraus geworden.
Da erst erfuhr ich, wie übel dem Mann mitgespielt worden war und empfand großes Mitgefühl für ihn. Denn auf die Kinder verzichten zu müssen, das ist etwas, was ich mir gar nicht vorstellen kann.
Na klar sind Kinder manchmal lästig, nervig, anstrengend und frech, man könnte sie hin und wieder geradezu an die Wand klatschen, wie man hier so sagt.
Aber man tut es dann doch nicht, denn man liebt sie und man ist doch derjenige, der ihnen Schutz, Unterstützung und Liebe geben muß, darauf haben Kinder doch einen Anspruch.
Sicher, das ist ein Anspruch, der auch einmal verspielt werden kann, dafür kenne ich nur allzu viele Beispiele, aber glücklicherweise ist das bei uns nicht so und ich hoffe, daß das auch so bleibt.

Wie mußte sich dieser Mann fühlen?
Was mich am meisten wurmte, war natürlich die Tatsache, daß meine Erzfeindin, die schwabbelige Frau Birnbaumer-Nüsselschweif mal wieder ihre Finger im Spiel hatte.
Wann immer es um das Thema Kinder ging, war die blöde Kuh vorne mit dabei.
Aufmerksame Leser des Bestatterweblogs wissen ja, daß sie vor vielen, vielen Jahren mal ein totgeborenes Kind hatte zu Grabe tragen müssen und darüber nicht hinweg gekommen war.
Seitdem war sie von dem Wunsch beseelt, als perfekteste Mutterfigur aller Zeiten überall dort hilfreich zu sein, wo ihre Hilfe am allerwenigsten gebraucht wurde.

Das tat sie mit einer so ekelhaften Penetranz und einem so großen Drang, sich ins Rampenlicht zu stellen, daß es einem übel werden konnte.

Und ausgerechnet die hatte nun die Töchter von Günther?

Da muß man doch was machen!

Zweimal waren die Damen und Herren vom Jugendamt beim Ehepaar Birnbaumer-Nüsselschweif zu Besuch gewesen. Das erste Mal war es nur ein kurzer Besuch, eine erste Nachschau, ob die Töchter von Günther dort grundsätzlich gut untergebracht seien. Der zweite Besuch war dann schon etwas länger und man schaute sich alle Räumlichkeiten ganz genau an, erfragte bei dem Ehepaar Dutzende von Antworten, die dann sorgfältig in Fragebogen eingetragen wurden und man unterhielt sich mit Ute und Monika, die in hübschen, gestärkten Kleidchen sittsam auf der Eckbank saßen und mit etwas scheuem Blick eher nur auf den Boden starrten.
Wenn die Frau vom Jugendamt einem der Mädchen eine Frage stellte, lachte die Birnbaumer-Nüsselschweif kurz auf, legte sofort ihre “mütterliche” Hand auf die Schulter oder das Knie des betreffenden Mädchen und antwortete an ihrer Stelle.

”Sag mal, Du fühlst Dich hier wohl und möchtest auch hier bleiben, Ute?” So lautete eine der Fragen und sofort antwortete die dicke Ersatzmutter: “Nicht wahr, Ute, Du fühlst Dich hier zum ersten Mal in Deinem Leben so richtig geborgen, das wolltest Du doch sagen?”
Und prompt nickte das Mädchen, rang sich ein Lächeln ab und wiederholte: “Ich fühle mich hier wohl und möchte hier nie wieder weg.”

”Ach, ist das nicht prima, wie sich die Kinderlein hier schon eingelebt und integriert haben?” juchzte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, klatschte in die Hände und fragte in die Runde: “Apfelkuchen?”

Nun sind ja die Leute vom Jugendamt tatsächlich daran interessiert, daß es Kindern und Jugendlichen gut geht und genau solche Kinder sahen sie vor sich. Kinder, die aus einer Ehe stammten, in der der Vater zumindest zeitweilig mal verdächtigt worden war, seine Frau umgebracht zu haben und in der das Familienleben sich in einer schimmeligen, modrigen Gartenlaube abgespielt hatte. Hier bei den Birnbaumer-Nüsselschweifs hatten die Mädchen saubere, beheizte Zimmer, der Pflegevater verdiente gut und das Haus war mit wunderfeinstem Gelsenkirchener Barock von oben bis unten ordentlich eingerichtet.

Die Sachbearbeiter hatten gerade das zweite Stück Kuchen und die zweite Tasse Kaffee zu sich genommen, da klappte die Frau vom Jugendamt den Aktendeckel zu: “Da scheint ja dann alles in bester Ordnung zu sein, wir verlängern die vorläufige Pflege auf weitere sechs Monate…”
Da unterbrach Monika ihren Satz und fragte: “Und wann kommen wir wieder….”

”Monika!” herrschte die Birnbaumer-Nüsselschweif das Mädchen an: “Du weißt doch, daß man nicht dazwischen redet, wenn Erwachsene sich unterhalten. Ich glaube, darüber müssen wir nachher noch sprechen.”

Dabei funkelten die Augen der Dicken fast schon bösartig, doch davon bekamen die Leute vom Jugendamt nichts mehr mit, Herr Birnbaumer hatte sie schon mit einem milden Lächeln auf den Lippen zur Tür gebracht und verabschiedete sie.

Die Birnbaumer-Nüsselschweif reckte den Hals, lauschte auf das Zuklappen der Haustüre und als dann auch draußen das Hoftor ins Schloß fiel, sagte sie kurz: “Monika, Keller!”

—-

Nachdem mir Günther seine Geschichte erzählt hatte, war ich voller Zorn. Die ganze Nacht hatte ich mich im Bett herumgewälzt und meinte förmlich spüren zu können, wie sich ein Magengeschwür entwickelte, daß die Form von Frau Birnenschweiß’ Gesicht hatte und sich von innen durch meine Gedärme fraß. Ich hatte die fette Kuh nur zu gut kennen gelernt und am eigenen Leib erfahren, wie bösartig diese Frau werden konnte, wenn es darum ging, irgendein notleidendes Kind unter ihre mütterlichen Fittiche zu bekommen.
In jüngeren Jahren war Frau Birnbaumer-Nüsselschweif ja bekanntlich selbst schwanger gewesen und hatte das traurige Schicksal erleben müssen, daß dieser kleine Erdenbürger viel zu früh tot zur Welt gekommen war. Für ihren Mann und ihre Familie völlig unverständlich, hatte sie am Tag der Beisetzung des Kleinen darauf bestanden, die Urne selbst zum Grab zu tragen und war dann dort auf die Knie gefallen, als der Friedhofsarbeiter die Urne in das kleine Loch hinabließ. Mit den Händen hatte sie in der lockeren Erde gewühlt und sich die Erde in die Haare und ins Gesicht gerieben.
Obwohl alle sie drängten, sich in die Hände eines erfahrenen Therapeuten zu begeben, hatte sie sich schnoddrig, abweisend und schon fast ein wenig zu traurig gezeigt. Ihr Mann hatte alles versucht, um ihr Trost und Stütze zu sein, doch sie hatte ihn schroff abgewiesen und sich fast zwei Jahre lang nur ihrer Trauer und ihrem Schmerz gewidmet. In dieser Zeit hatte sie auch den Grundstein für ihre nicht unbeträchtliche Leibesfülle gelegt.

Danach hatte sie im Mütterkreis der Kirchengemeinde eine Funktion übernommen und seit diesem Tag war sie wie besessen von dem Gedanken, Kindern Gutes zu tun.
Das hätte sie sicherlich auch auf vielfältige Weise tun können, aber leider entschied sie sich fast immer für Kinder, die anderen gehörten und eigentlich ihrer Hilfe gar nicht bedurften.

Im Grunde eines bemitleidenswerte Person. Doch seit der Totgeburt waren sicher an die 20 Jahre oder so vergangen und wenn dann nur noch Boshaftigkeit, Neid, Intriganz und krankhafte Muttersucht übrigbleiben, dann hat man das Anrecht auf Mitgefühl irgendwann auch verspielt.
Aber Frau Birnbaumer-Nüsselschweif war eine gute Schauspielerin und die Menschen in der Stadt und in der Kirchengemeinde waren ihr rundes Gesicht aus der Zeitung gewöhnt und man dachte allenthalben, es handele sich um eine ach so gute Frau, die sich aufopfere und nur Gutes tue.
Dafür hatte sie ja auch das Bundesverdienstkreuz bekommen; ich könnte heute noch würgen, wenn ich an das entsprechende Bild in der Zeitung denke.

Und ausgerechnet die sollte jetzt quasi zur “Pflegemutter der Nation” werden und Günthers Töchter auf unbestimmte Zeit behalten?

Natürlich erwachte in mir sofort der Wunsch, dagegen anzugehen und alles Menschenmögliche zu tun, um ihr ordentlich ans Bein zu pinkeln.
Doch als ich am nächsten Morgen mit meiner Frau darüber sprach, die zwar selbst sehr temperamentvoll sein kann, in manchen Situationen aber auch einfach ein sehr guter Gegenpol zu mir ist, mußte ich erkennen, daß sich so viele Möglichkeiten zum Birnbaumer-Anpinkeln gar nicht boten.
Was hätte ich denn tun sollen?
Die Situation war eindeutig: Günther hatte in der alten “Villa Kunterbunt” zwar genügend Platz gehabt, aber die Bude war unbewohnbar und inzwischen abgerissen. Die kleine Ersatzwohnung bot gerade mal ihm selbst und den vielen Umzugskartons Platz und von der neuen “Villa Kunterbunt”, der Wagenburg auf dem Gartengelände am anderen Ende der Stadt wußten die Behörden nichts – und ich glaube, das war auch besser so.

Wenn man Günther hätte helfen wollen, dann hätte man ihm eine größere Wohnung besorgen müssen und eventuell einen Job, das sagte ich auch zu meiner Frau.

”ja, dann mach das doch!” sagte sie. “Du hast doch immer diese soziale Ader, Du wirfst doch oft genug das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinaus, kaum daß da jemand auch nur ein Tränchen vergießt und kaum, daß Du das Gefühl hast, jemandem könne es schlecht gehen. Wer ist denn da immer der Hilfsbereite? Das bist doch Du! Also steck jetzt mal nicht so malerisch den Kopf in den Sand und sieh zu, daß Du dem armen Kerl da hilfst!”

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif glaubte sich auf dem Gipfel ihres Mutterwunsches und sogar die Gemüsefrau, die in letzter Zeit sehr zurückhaltend geworden war, seitdem Stadtrat Kletsch sie wegen Verleumdung verklagt hatte, schnaubte voller Zorn: “Wie die sich aufplustert! Wenn ich schon höre, wie die immer sagt: ‘Meine Töchter’. Die hat gar keine Töchter, die hat die beiden Mädchen nur in Pflege. Pflege is’ mal eins und Töchter sind was anderes. Das ist doch sowieso nur vorübergehend.”

Zweimal war Günther zum Haus der Birnbaumer-Nüsselschweif gefahren und beide Male waren Ute und Monika ganz zufällig nicht da gewesen. Herr Birnbaumer hatte Günther am Tor abgefertigt und ihm versprochen die mitgebrachten Süßigkeiten abzuliefern.
Bekommen haben die Mädchen die Sachen nie, wahrscheinlich hat der Mann die Sachen gleich in die Mülltonne geworfen oder, was Sandy ja vermutet, die Birnbaumer-Nüsselschweif hat sie selbst gegessen.

Wir hatten in der Firma hin und her diskutiert und Manni hatte sich spontan bereit erklärt, die Birnbaumer-Nüsselschweif mit einem Sack über dem Kopf direkt ins Krematorium zu fahren: “Ich pack die in den Adenauer-Sarg, da hört man niemanden schreien, so dick ist der. Bis da der Amtsarzt kommt, ist die mullo, aber sowas von mullo.”
Sandy meinte, sie könne sich ja selbst beim Jugendamt als Erzieherin und Pflegemutter melden, doch Antonia tippte sich nur an die Stirn. “Du wohnst auf einer alten Burg, abgelegen auf ‘nem Gipfel, Du siehst aus, wie die schwarze Hexe vom Zillertal und schläfst mit Frauen und Männern gleichzeitig. Dir geben sie so Kinder sowieso nicht.”

”Gleichzeitig nicht, aber abwechselnd”, gab Sandy zurück, mußte aber einsehen, daß Antonia Recht hatte.
Dann war es aber auf einmal ganz ruhig und alle im Raum drehten sich zu Frau Büser um. “Genau”, sagte Sandy, “was ist eigentlich mit Ihnen? Ihre Kinder sind doch aus dem Haus, könnten Sie nicht…?”

”Ich? Um Himmels Willen, geht mir weg mit so was, ich bereite mich so langsam auf meinen Ruhestand vor, noch ein paar Jährchen und ich lege nur noch die Füße hoch. Da fange ich doch jetzt nicht noch mal mit Kindern an.”

”Sie sollen die Kinder ja auch nicht selbst auf die Welt bringen”, gab ich zu bedenken.

Wir lachten und gingen weiter scherzend auseinander.

Doch die Idee ließ mich nicht mehr los. Wenn das Jugendamt doch offensichtlich einfach nur froh war, daß die Mädchen irgendwo untergebracht sind, wäre es da nicht egal, ob sie bei der Birnbaumer-Nüsselschweif oder bei einem anderen geeigneten Ehepaar leben würden?

Günther verfolgte einen anderen Plan. Er begann sich in die Idee zu verrennen, er müsse nur das Gartengrundstück super ordentlich herrichten, alle Wagen, Waggons und Hütten neu anstreichen und alles picobello aufräumen, dann müsse das Amt ihm die Kinder wiedergeben.
Horst versuchte vergebens ihm das auszureden, fand aber, daß es dennoch nicht schaden könnte, wenn Günther Beschäftigung hätte und ermutigte ihn deshalb trotz seiner Skepsis, mit dem Aufräumen und Anstreichen weiter zu machen.
Er befürchtete nämlich, daß Günther irgendwann den Kopf in den Sand stecken könnte und depressiv werden könnte.

Ich besuchte Günther auf seinem Gartengrundstück, die Neugierde hatte mich dorthin getrieben. Er war gerade dabei, einen alten Traktor wieder flott zu machen. “Ich brauche unbedingt was Fahrbares”, sagte er und wischte sich mit ölverschmierten Fingern den Rest seines Haarwuchses aus der Stirn.
Horst kam kurz darauf ebenfalls und nahm mich zur Seite: “Ich bin ja froh, daß der jetzt an der alten Karre bastelt, das lenkt ihn ein bißchen ab. Wissen Sie, was der vor hat? Der will dann den grünen Bauwagen wieder flott machen und an den Traktor hängen, dann will er sich seine Kinder holen und mit denen dann mit dem Bauwagen nach Italien abhauen.”

”Als ob die den da nicht finden würden!” gab ich zu bedenken und schüttelte fassungslos den Kopf.

Horst legte seine Hand auf meinen Arm, knipste ein Auge zu und meinte leise: “Wenn Sie sich den Bauwagen mal anschauen, dann werden Sie sehen, daß das Jahre dauert, bis der Müllhaufen wieder fahren würde. Da wird sowieso nichts draus. Aber lassen wir ihn, so hat er wenigstens etwas zu tun.”

Ich merkte an Günthers Eifer, wie verzweifelt der Mann war und hoffte nur inständig, daß er keine Dummheit machen würde.

Dabei konnte ich ihn gut verstehen. Seine Frau hatte ihn betrogen, das allein bringt manchen Mann schon um den Verstand. Dann war diese Frau, die er trotz allem ja wohl noch geliebt hatte, umgebracht worden; ein Schicksalsschlag, der so außerordentlich ist, daß man alleine daran hätte zerbrechen können, aber es war noch schlimmer gekommen, man hatte ihn auch noch des Mordes bezichtigt.
Spätestens nachdem ihm seine Kinder weggenommen worden waren, wäre doch vermutlich jeder dritte andere Mann dem Alkohol verfallen und vielleicht auf der Straße gelandet. Und dann? Dann hatte ihm die Stadtverwaltung auch noch seine “Villa Kunterbunt” quasi überm Kopf abgerissen.
Gelandet war er in einer von der Stadt zur Verfügung gestellten Zweiraumwohnung mit sehr beengten Verhältnissen. Großzügig schien dieses Angebot der Stadt zu sein, war es aber doch bloß ein Beruhigungsbonbon, denn auf diese Weise hatte man sich ja quasi Günthers Haus und Grundstück erschlichen.
Nun hatte Günther aber gehofft, in der neuen Wohnung seine Kinder wieder zu sich nehmen zu können, aber daß das schon aus Platzgründen nicht ging, war dem Mann in seiner ersten Euphorie entgangen.
Wenigsten hatte er sich ein abgelegenes Gartengrundstück mit etlichen Lauben und Bauwagen verschaffen können, um wenigstens die gewohnte Freiheit und den dringend benötigten Freiraum wieder zu erlangen, aber auch dort waren ja die Wohnverhältnisse nicht so, daß man ihm die Kinder zurück gegeben hätte.
Denn die befanden sich ja, nach Ansicht des Jugendamtes, in bester Obhut. Der behinderte Junge Thomas war in einem guten Heim untergebracht und Günther hatte wohl, was Thomas anbetraf, inzwischen eingesehen, daß der dort ganz gut versorgt und betreut wurde.
Anders war das bei seinen Töchtern Monika und Ute. Die waren bei meiner alten Haßgegnerin, Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, als Pflegekinder untergebracht. Eine durchaus als vorübergehend anzusehende Maßnahme, was aber die Birnbaumer völlig anders sah.

Wo immer sie in Begleitung der beiden Mädchen auftauchte, sprach sie nur noch von ihren Töchtern und hatte die Mädchen auch dazu gebracht sie Mama zu nennen.
Über das, was bei den Birnbaumer-Nüsselschweifs zu Hause geschah, konnte man ja nur Mutmaßungen anstellen und man hatte keine guten Gefühle dabei, wenn man die Mädchen anschaute. Blaß sahen sie aus, verängstigt und scheu wirkten sie und hielten ihre Blicke stets gesenkt. Kein fröhliches Kinderlachen, keine strahlenden Augen, kein Glücksempfinden, nun doch in einer richtigen Familie untergekommen zu sein.

Was dort aber wirklich los war, das sollte ich später ganz genau erfahren, und wie es dazu kam, das erzähle ich auch noch.

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif hatte ganz eigene Vorstellungen von Erziehung und dem Umgang mit Kindern. Es wird wohl lange noch ein Streit bleiben, ob man Kinder mit etwas elterlichem Druck erziehen soll oder ob man sie alles tun läßt und sie nur fördert und begleitet.
Doch für die Birnbaumer war es klar: Kinder mußte Zucht und Ordnung erleben, man mußte sie an die kurze Leine nehmen, jeden Schritt überwachen und bei Nichteinhaltung streng bestrafen. So war sie wahrscheinlich selbst erzogen worden.

Ob das schon vorher so gewesen ist, das weiß ich nicht, aber spätestens seit dem Einzug der Mädchen Monika und Ute herrschte im Hause Birnbaumer-Nüsselschweif eine bigotte Frömmelei. Über jeder Tür des Hauses hing ein Kruzifix und es wurde erwartet, daß jedes Familienmitglied sich beim Überschreiten der jeweiligen Schwelle bekreuzigte.

Die Mädchen wurden jeden Tag um 4.30 Uhr geweckt, durften sich dann im Bad kurz die Zähne putzen, um dann in der Küche die Morgenlesung zu empfangen. Wie eine Matriarchin saß Frau Birnbaumer an der schmalen Seite des Küchentisches, während ihr Mann, je ein Mädchen rechts und links, in der Küchenmitte stehen mußten. Ein Kapitel aus der Bibel und eine langatmige Tageslosung trug die dicke Matrone vor, dann wurde ein Wechselgebet gesprochen, bei dem die Kinder an den richtigen Stellen auswendig gelernte Sätze aufsagen mußten.
Eine knappe Stunde dauerte das, erst dann gab es Frühstück.

Anschließend fuhr Herr Birnbaumer zur Arbeit und nachdem die Mädchen den Frühstückstisch abgeräumt hatten, ging es in die Badezimmer, wo Frau Birnbaumer-Nüsselschweif den Toilettengang und die Morgenwäsche der Mädchen persönlich überwachte.
Das war den Mädchen anfangs nicht merkwürdig vorgekommen, weil es auch bei ihrem Vater in der Villa Kunterbunt nur eine Waschgelegenheit gegeben hatte und es ihnen ganz natürlich vorgekommen war, sich vor anderen zu entkleiden und zu waschen, aber diese Anderen, das waren Vater, Schwester und Bruder gewesen und ihr Papa war sowieso immer mehr damit beschäftigt, den wasserscheuen Thomas zu bändigen und anzukleiden.
Aber hier stand eine fremde Frau mit großen neugierigen Augen dabei und beide Mädchen hatten sich schon im Geheimen darüber unterhalten, daß sie das Gefühl hatten, die Frau starre besonders auf die sich gerade mal so eben zeigenden Ansätze ihrer Brüste und auf ihren Schambereich.
Besonders unangenehm war den Mädchen aber, wenn samstags gebadet wurde und Herr Birnbaumer dann immer mal wie zufällig hereinschaute.
Obwohl ansonsten im Haus fast alle Türen immer abgeschlossen wurden, vor allem die Außentüren seitlich und hinten am Haus, gab es ausgerechnet für die Toiletten und Badezimmer keine Schlüssel.

Angefaßt oder zu ihrer Nacktheit irgendeinen Kommentar abgegeben, das hatte bislang nie jemand. Aber die Mädchen schämten sich einfach, sich oft so nackt präsentieren zu müssen und beobachtet zu werden.

Überhaupt hatte sich ihre Stimmung gewandelt.
Anfangs hatten sie gedacht, die Unterbringung bei der Dicken sei eine kurzfristige Maßnahme, so etwas wie eine Kur oder ein Erziehungsurlaub, bis Papa wieder eine richtige Wohnung hat. Deshalb hatten sie auch alles getan, um der Frau mit dem dicken Hintern und dem Bauch, der größer war als ihr Busen, zu gefallen. Sie fühlten sich gut behandelt und gut versorgt, Hauptsache man steckte sie nicht in ein Heim.
Deshalb nahmen die Mädchen auch die merkwürdigen Lebensumstände im Hause Birnbaumer-Nüsselschweif hin, ertrugen die überbordende Fürsorglichkeit und Strenge der Dicken, und beteten, gingen zur Messe und spielten die Rolle, die offenbar als Preis für die gute Behandlung von ihnen erwartet wurde.
Es war ja nur für kurze Zeit.

Doch mehr und mehr zeigte sich, daß die fette Frau gar nicht daran dachte und auch nicht mehr davon sprach, daß die Mädchen eines Tages zu ihrem Vater zurückkehren könnten. Alles wurde gefestigt und worauf das hinauslaufen könnte, bemerkten die Ute und Monika vor allem an dem Tag, als das Ehepaar ziemlich streng und keinen Widerspruch duldend, von ihnen verlangte, Mama und Papa zu ihnen zu sagen.

Richtig schwer war ihnen das nicht gefallen. Pflegeeltern sind ja auch Eltern und zu der ganzen Strenge kam ja auch der süße Zuckerguß, mit der Frau Birnbaumer-Nüsselschweif das alles überzog.
Das Lächeln, die milde Art, die Fürsorglichkeit, alles das stand der Strenge gegenüber. Außerdem wurde das Ehepaar nicht müde, den Mädchen immer wieder klar zu machen, daß ihr Vater ein ganz, ganz böser Mann sei.

Strenge und das, was Frau Birnbaumer-Nüsselschweif als “das Befolgen der heiligen Regeln” bezeichnete, waren fast immer von einem süßlich-milden Gesichtsausdruck und einem aufgesetzten Lächeln begleitet.
Um nichts in der Welt hätte die dicke Frau den Eindruck zugelassen, sie sei keine liebevolle Mutter, nach innen nicht und vor allem nicht nach außen.

Die Zimmer der Mädchen waren angefüllt mit Spielzeugen und sogar einen eigenen Fernseher hatte jedes Mädchen, jedoch waren die Apparate abgestellt und nur wenn Herr Birnbaumer unten im Wohnzimmer ein Programm für die Mädchen einstellte, konnten sie es sehen. Die meisten Sender waren verpönt, erlaubt waren Unterhaltungssendungen mit volkstümlicher Musik, der Heimat wegen, und Sendungen wie “Sehen statt hören”, Tiersendungen und vor allem Beiträge und Predigten diverser Missionswerke.
Einzige Ausnahme war der Samstag, da durften die Mädchen im Kreise der ‘Familie’ die Unterhaltungssendung im Ersten gucken und mußten erst nach dem ‘Wort zum Sonntag’ ins Bett.

Die Sonntage liefen immer nach dem gleichen Schema ab, da durfte ausgeschlafen werden, denn die morgendliche Hausandacht entfiel zugunsten des Gottesdienstes in der Kirche, wohin man besonders früh aufbrach, um stets einen Platz in der ersten Reihe zu bekommen.
Zu Hause wurde dann im Kreis sitzend die Lesung des Tages noch einmal durchgesprochen und dann durften die Mädchen der Mutter des Hauses bei der Zubereitung des Mittagessens helfen.
Nach dem Essen wurde eine Stunde geruht und dann folgte jeden Sonntag, gleich bei welchem Wetter, ein Ausflug in die Natur. Davon wurde niemals abgewichen.
Bis zum Beginn der Sendung “Lindenstraße”, die immer gemeinsam angeschaut wurde, mußte man wieder zu Hause sein, dann hieß es für die Mädchen “ab ins Bett” und die neue Woche begann am Montag wieder um 4.30 Uhr mit der Morgenandacht.

So ganz reibungslos, wie sich das hier liest, funktionierte das aber nicht. Ute und Monika waren Kinder, die es gewöhnt waren, viel Freizeit draußen im Garten und mit Freundinnen und Freunden zu verbringen. Und so war es nur eine Frage der Zeit bis sich mal die eine, mal die andere, manchmal auch alle beide gegen die Birnbaumers auflehnten. Sie verweigerten manchmal stur die Teilnahme an der Morgenandacht, mal wollte Ute sonntags nicht mit in die Kirche, ein anderes Mal hatte Monika im Badezimmer einen Hocker von innen vor die Tür gestellt.
Solchen Ungehorsam der undankbaren Kinder bestraften die Birnbaumers in erster Linie durch Nahrungsentzug und sofortiges Einschließen ins Kinderzimmer.
Blieb eines der Mädchen stur, kam es in den Keller.

Dort hatte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif jenen Raum eingerichtet, den sie “das Refugium” nannte. Es war ein trockener Raum, durch eine Wand abgeteilt von der Waschküche, fensterlos, mit einer nackten Leuchtstoffröhre an der Decke. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch und eine Kommode mit einer Waschschüssel und einem Krug, mehr gab es dort nicht.
Mit anderen Worten: der Raum glich einer Gefängniszelle.

Monika hatte schon zweimal dort drei Tage zugebracht und Ute einmal zwei Tage.

”Das hilft Euch beim Nachdenken! Wenn die Welt zu viele bunte Anreize liefert, können Menschen, vor allem junge Menschen, auch schon einmal den Blick auf das Wesentliche verlieren; und dann hilft es, wenn man die Regeln der heiligen Klosterväter beachtet und sich in ein Refugium in Klausur begibt. Lest in der Bibel, reinigt Eure Seele und ihr werdet gute Menschen werden”, lautete beispielsweise einer der Vorträge, die die Mädchen zu hören bekamen, wenn sie eingesperrt wurden.

Herr Birnbaumer nannte es “die Muschen füttern”, wenn er jeden Abend, häufiger gab es nichts, einen frischen Krug Wasser und einen Teller Brote ins ‘Refugium’ brachte. Er nannte die Mädchen überhaupt nur ‘die Muschen’ wenn sie nicht dabei waren.

Das Leben im Hause der Birnbaumer-Nüsselschweifs kam Ute und Monika vor wie ein surrealer Traum, wie eine Art seltsamer Abenteuerurlaub, von dem sie dachten, er sei irgendwann einfach wieder vorbei und gehe vielleicht sogar schneller vorüber, wenn sie sich nur möglichst genau an die Anweisungen der Dicken hielten. Trotzdem fühlten sie sich wohl und waren irgendwann sogar für jede Freundlichkeit dankbar und froh, wenn “Mama” nicht schimpfte und strafte.

Kann man sagen, daß Kinder aus jeder Situation das Beste machen?
Es ist schwer zu verstehen, daß die Mädchen einerseits unter der Situation litten und ihren Vater und das freie Leben in der Villa Kunterbunt vermißten, andererseits aber oft wochenlang überhaupt nicht mehr an früher oder an ihren Vater dachten.

Günther hatte es sich auf seinem Gartengrundstück gemütlich gemacht. Monatelang hatte er dort geackert und alles so hergerichtet, wie er es haben wollte.
Die Wohnung, die die Stadtverwaltung ihm besorgt hatte, benutzte er nur bei extrem schlechtem Wetter und das auch nur so lange, wie er brauchte, um an dem Bauwagen in seinem Garten eine entsprechend große Laube anzubauen.
Darüber hinaus diente ihm die Wohnung eher als Postadresse und als Alibi den Behörden gegenüber.

”Und? Bist Du jetzt zufrieden?” fragte sein Freund Horst ihn eines Tages.

”Ja sicher, mir gefällt’s antwortete Günther und setzte sich auf die neu gebaute Veranda, die die beiden Freunde am Vortag angestrichen hatten.

”Nee, ich meine das anders und Du weißt, wie ich das meine.”

”Wie jetzt?”

”Na komm! Du machst das hier doch alles für die Kinder. Du kommst doch von dem Trip nicht runter, daß eines Tages Deine Kinder wieder bei Dir wohnen können.”

Gedankenverloren rührte Günther in seiner Kaffeetasse herum und wiegte dann seinen Kopf bedächtig hin und her:

”Stimmt schon irgendwie und stimmt irgendwie auch wieder nicht.”

”Wie meinst Du das?”

”Na hör mal, meinst Du ich bin blöd? Ich weiß genau, daß die mir meine Kinder nicht wiedergeben. Nicht, so lange ich keinen geeigneten Wohnraum habe. Die haben mir meine Villa Kunterbunt weggenommen und mich in diese Sozialbauwohnung gesteckt, die einfach viel zu klein ist. Da können die Kinder unmöglich mit einziehen. Und hier? Hier darf man offiziell gar nicht wohnen, das sind Gartengrundstücke.”

”Und warum rackerst Du Dich dann hier ab?”

”Die Hoffnung stirbt zuletzt”, sagte Günther und hatte Tränen in den Augen.

Im Hause der Familie Birnbaumer-Nüsselschweif hatte sich in den letzten Wochen und Monaten eine Stimmung eingeschlichen, die der dicken Frau Birnbaumer gar nicht paßte.
Die anfängliche Euphorie der Dicken, jetzt endlich ihre Mutterrolle ausleben zu können, war verflogen und sie hatte einsehen müssen, daß zwei pubertierende Mädchen mitunter (d.h. 24 Stunden am Tag) recht anstrengend sein können.
Vor allem aber war es Herr Birnbaumer-Nüsselschweif, der die “Muschen”, wie er die beiden Mädchen nannte, inzwischen leid geworden war.

Am Anfang hatten sich die beiden Mädchen Monika und Ute bei den Birnbaumer-Nüsselschweifs recht wohl gefühlt. Seit Jahre wieder ein geordnetes Familienleben, regelmäßige Mahlzeiten, schöne Zimmer und auch gewisse finanzielle Möglichkeiten, das hatte sie gereizt.
Vor allem aber hatten sie anfangs das Ganze wie eine Art besonderes Abenteuerurlaub gesehen und im Grunde immer nur im Kopf gehabt, irgendwann zum Papa zurückkehren zu können. So wie es war, so war es eben, aber das würde sich ja ändern, so dachten sie.

Doch das bigotte Getue der Dicken und das ständige Starren und Begaffen durch den Mann ging den beiden Mädchen schon nach wenigen Wochen arg auf die Nerven.
Wie selbstverständlich hatten sie beispielsweise nach dem Baden oder Duschen nur einen der weichen Frotteemäntel übergeworfen und dann am Abendessen teilgenommen, doch ihnen war aufgefallen, daß Herr Birnbaumer-Nüsselschweif, den sie jetzt ‘Daddy’ nennen sollten, dann auffallend oft aufstehen und noch etwas aus dem Kühlschrank holen mußte. Dabei beugte er sich dann immer von hinten über die Mädchen, um das eben Geholte auf den Tisch zu stellen und schaute ihnen in den Ausschnitt.
Auch wenn sie badeten oder duschten, betrat der Mann oft unvermittelt das Badezimmer, was in den Mädchen große Scham auslöste.
Trotz aller Fürsorge war ‘Daddy’ eben doch nur ein fremder Mann.

Wenn die Dicke Montagabends zum Mütterkreis ging, erwartete Herr Birnbaumer-Nüsselschweif die Mädchen zum gemeinsamen Filmegucken im Wohnzimmer. Das fand immer direkt nach dem abendlichen Baden oder Duschen statt und an einem Abend legte ‘Daddy’ wie beiläufig seine Arme um die beiden neben ihm sitzenden Mädchen und drückte sie an sich.
Kinder brauchen Zärtlichkeit, Kinder brauchen Nähe und Zuwendung und bei Monika und Ute war das nicht anders. Sie fühlte sich anfangs in dieser Situation recht wohl, es gab auch immer Süßigkeiten an diesen Abenden.
Am Montag darauf erwartete Birnbaumer-Nüsselschweif die Mädchen schon und wieder kuschelten sie sich in seine Arme. Doch an diesem Abend war es anders. Der Mann hatte einen Film aufgelegt, in dem es recht freizügige Szenen gab und kommentierte diese beispielsweise mit den Worten: “So machen das die Muschen, schaut nur genau hin, ihr kleinen, frühreifen Früchtchen!”
Dabei lachte er meckernd und zog die Mädchen näher an sich. Wie zufällig rutschten seine Hände dabei in die Ausschnitte ihrer Bademäntel. Er faßte sie nicht weiter an, ließ bloß seine Hände unterhalb ihrer Schultern, oberhalb ihrer Brustansätze liegen, mehr nicht.
Verstohlen schauten sich die beiden Mädchen an, sagten aber nichts.

Schon eine Woche später, die Dicke war wieder auf dem Mütterabend, rutschten die Hände des Mannes etwas tiefer und dieses Mal berührte er die Brüste der Mädchen, die fast gleichzeitig zusammenzuckten. Doch er sagte nur, zufrieden seufzend: “Ihr seid ja so liebe Mädchen und ihr ahnt gar nicht, was ich alles für Euch tun würde, wenn ihr nur recht schön brav seid zu Eurem Daddy.”
Monika versuchte, unter seiner Berührung etwas abzurücken, doch er griff beherzt zu, hielt eine ihrer kleinen Brüste ganz fest.

Ute bemerkte als Erste, daß ihr Daddy eine Erektion hatte und so war sie es, die den Mann zuerst wegstieß und sogleich tat es ihr Monika gleich. Von der Situation völlig überfordert, wußten die beiden Mädchen nicht, wie sie sich verhalten sollten. Sie entschieden sich, nach oben zu laufen und in ihre Zimmer zu gehen.
Kurz darauf war der Mann bei ihnen. “Was habt ihr denn? Meine Güte stellt Euch doch nicht so an! Ich wollte es uns doch nur gemütlich machen. Ihr seid zwei ganz verdorbene Luder! Ihr dreckigen Muschen! Einen harmlosen Mann so auszunutzen. Erst hier halbnackt durch die Wohnung rennen, daß einem Hören und Sehen vergeht und dann bei ganz normaler väterlicher Zuwendung gleich einen auf mißbraucht machen. Aber wartet nur, Ihr werdet Euer Fett noch abbekommen, das schwöre ich Euch!”

Als er wieder nach unten gegangen war, saßen die Mädchen noch in Utes Zimmer eine Weile zusammen und gingen dann ins Bett.

Aufgeregt wartete Birnbaumer-Nüsselschweif auf seine Frau und berichtete ihr von dem Vorgefallenen und zwar in einer solchen Lautstärke, daß die Mädchen oben alles mitbekamen.

”Stell Dir vor! Die beiden kleinen Schlampen sind nach dem Baden halbnackt hier ins Wohnzimmer gekommen und haben sich an mich geschmiegt. Ich habe mir das gefallen lassen, ich weiß ja auch nicht, wie man sich als Vater da verhält. Ich dachte, es wäre das Beste, wenn man das einfach ignoriert, das ist ja schließlich etwas ganz Natürliches. Aber dann haben sie sich in ihren halboffenen Bademänteln so an mich gekuschelt, daß ich sie dann nach oben geschickt habe.
Wenn Du also jemals von den beiden Muschen auch nur ansatzweise hörst, ich hätte die belästigt, dann weißt Du, daß die es darauf angelegt haben und uns was anhängen wollen.”

Wutentbrannt stampfte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif die Treppe hoch und veranstaltete mit Monika und Ute mindestens eine halbe Stunde lang ein Riesentheater. An diesem Abend sperrte sie beide Mädchen im Keller ins Refugium.

Der Tag hatte für Günther schlecht begonnen. Er war nämlich von einem Tropfen Wasser geweckt worden, der auf seine Nase getropft war, während er noch schlief.
Mit aufgerissenen Augen starrte er an die Decke seines Bauwagens und sah dort eine ganze Ansammlung von Tropfen. Er erkannte, daß es sich um Kondenswasser handelte und während er noch verärgert aus dem Bett krabbelte, beschloß er, neben dem kleinen Fenster an der Stirnseite des Anhängers einen elektrischen Lüfter einzubauen.

Inzwischen hatte Günther nämlich auch eine richtige Stromleitung mit Zähler und allem Drum und Dran. Bis dahin gab es zwar die Möglichkeit, vom Nachbargrundstück mittels eines Verlängerungskabels gelegentlich mal Strom zu holen, aber die meiste Zeit mußte ein altersschwacher Benzingenerator für die nötige Energie sorgen, den Günther in einem entlegenen Winkel seines Grundstücks in eine kleine Hütte verbannt hatte, damit er das durchgängige Brummen nicht hören mußte.
Eines Tages hatte sich aber die Gelegenheit geboten, direkt vom Schaltkasten, der nicht weit vom Eingang zu seinem Garten stand, einen eigenen Anschluß zu bekommen.
Ein Arbeiter von der Stadt hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß bald der Weg neu asphaltiert würde und jetzt doch eine gute Gelegenheit wäre, einen Antrag auf einen Hausanschluß zu stellen.
800 Euro hatte Günther sich von Horst geliehen und zwei Wochen später hatte Günther eine eigene Abnahmestelle mit Zähler, ein Glücksfall, wie sich noch zeigen sollte.

Denn, um es genau zu erzählen, hatte Horst Günther das Geld nicht geliehen, sondern die beiden hatten den Stromanschluß auf Horsts Namen schreiben lassen. Immer noch hatte Günther Angst, das Jugendamt oder eine andere Behörde könne Wind davon bekommen, daß Günther nicht wirklich in der zur Verfügung gestellten kleinen Wohnung wohnte, sondern in seinem Garten.

Eines Tages kam Horst zu Günther in den Garten und hatte einen mit dem Daumen aufgerissenen Briefumschlag dabei.

”Hier, die haben wir die Rechnung geschickt, wegen dem Stromanschluß. Kannst ja mal schauen, ob das alles seine Richtigkeit hat”, sagte er und warf Günther den Umschlag über den Tisch hinweg zu.

Günther kratzte sich am Kopf, rückte seine Brille zurecht und begann die Blätter zu studieren.

”Nö, scheint alles in Ordnung zu sein”, sagte er nach einer Weile und fügte hinzu: “Das Geld kriegste wieder, versprochen!”

Horst nickte nur und lächelte. “Na klar.”
Dabei wußte Horst, daß er vielleicht die erste Rate von Günther nehmen würde, damit dieser sein Gesicht nicht verliert, dann würde er ihm aber, wie schon so oft zuvor sagen: “Laß mal, ist schon gut so.”

Die beiden Freunde quatschten noch über dies und das und tranken ein paar Flaschen Bier, was für Günther schon etwas Außergewöhnliches war, denn ansonsten trank er so gut wie gar nichts.
Gerade hatten sie sich dem Thema Erdbeeren und Tomaten zugewandt, da stockte Günther plötzlich mitten in der Unterhaltung und forderte den verdutzten Horst auf: “Gib mir nochmal den Umschlag!”

Horst gab Günther den Brief, den er bereits wieder eingesteckt hatte, zurück und schaute zu, wie Günther diesen drehte und wendete, den Absender studierte, den Briefkopf betrachtete und dann hielt Horst es nicht mehr aus: “Was ist denn Günther? Los sag schon!”

”Du, guck mal Horst! Dieser Brief ist nicht von den Stadtwerken gekommen, sondern von den Stromwerken der Nachbarstadt.”

”Stimmt!” staunte Horst, nachdem er sich die Unterlagen genau angesehen hatte.

”Ja und weißt Du, was das bedeutet?”

”Nee.”

”Das bedeutet”, erklärte Günther, “daß hier nicht die Stadt zuständig ist, wo ich gemeldet bin, sondern die Nachbarstadt.”

”Wie jetzt?”

”Ja, keine Ahnung, aber für mich sieht das aus, als ob das hier alles schon zur anderen Stadt gehört.”

”Das können wir ja schnell herausfinden”, sagte Horst und zog Günther am Hemdsärmel mit sich aus dem Bauwagen. Am Gartenzaun stieß Horst einen gellenden Pfiff aus und rief so den Gartennachbarn von Günther herbei.

”Du, sag mal, was ist das hier? Sind wir mit dem Garten hier in A.-Stadt oder schon in B.-Stadt?”

”A.-Stadt?” sagte der Nachbar spöttisch, wir sind doch keine A.-Städter hier, wir sind stolze B.-Städter! Sagt bloß ihr wißt das nicht? Da vorne, da wo die Trauerweiden stehen, wo der asphaltierte Weg beginnt, da fängt B.-Stadt an. Wo gibt’s denn sowas, hat hier einen Garten und weiß nicht wo er ist!”

Wenig später saßen Horst und Günther auf einer Bank am alten Eisenbahnwaggon und Horst fragte: “Und was fangen wir jetzt mit dieser Erkenntnis an? Ich meine, okay, du hast einen Garten in B.-Stadt und hast das bisher gar nicht gewußt, weil das alles hier direkt an deine Stadt angrenzt. Aber warum macht dich das so verrückt?”

”Mensch, Horst, kapiert Du das denn nicht?”

”Was denn?”

”Wenn das hier B.-Stadt ist, dann muß ich mich hier nur anmelden und dann ist ein ganz anderes Jugendamt für mich und die Kinder zuständig!”

”Was?”

”Ein anderes Amt, andere Sachbearbeiter, neues Spiel, neues Glück!”

”Moment, Moment, Moment!” bremste Horst Günthers überschwengliche Reaktion etwas ab: “Zuerst einmal glaube ich nicht, daß Du Dich hier auf einem Gartengrundstück anmelden kannst und dann ist doch gar nicht mal klar, daß das neue Jugendamt nicht genau so entscheidet, wie das von A.-Stadt.”

”Mal ehrlich, Horst, hast Du schon mal gehört, daß eine Behörde genau so entscheidet wie eine andere?”

”Immer, die entscheiden immer gleich, da hackt doch eine Krähe der anderen kein Auge aus.”

”Mag ja auf normale Behörden zutreffen, aber bei den Jugendämtern arbeiten doch nur so Sozialfuzzis und die wollen doch sowieso alles besser wissen. Wenn ich es schaffe, daß die sich hier alles angucken und bewerten, bevor die die Akten aus A.-Stadt zu Gesicht bekommen, dann habe ich doch gute Karten.”

”Na ja”, blieb Horst skeptisch, “einen Versuch wär’s wert.”

Herr Sondermann übererfüllte Horsts Vorstellungen von einem Sozialarbeiter. Wollstrümpfe in Jesuslatschen, ein Peace-T-Shirt und lange, wallende graue Haare, die sich nur widerspenstig in einer Art zipfeligem Pferdegeschwänz am Hinterkopf des hageren Endvierzigers zusammenfinden mochten.
Die kreisrunden Gläser der Nickelbrille vergrößerten die Augen von Herrn Sondermann in fast schon grotesker Weise und diese Augen gingen hin und her, schienen alles ganz genau zu untersuchen, abzuschätzen und einzuordnen.

Günther saß auf einem kleinen, leeren, alten Weinfaß und kaute, was er sonst nie tat, nervös an seinen Fingernägeln.

Vor einem Monat hatte Günther sich umgemeldet. Beim Gemeindeamt der Nachbarstadt hatte er sein Gartendomizil als Erstwohnsitz angegeben und die Wohnung in der anderen Stadt als Zweitwohnsitz.
Was hätte ihm passieren können? Horst hatte ihn davor gewarnt, daß die Stadt das nicht mit sich machen lassen würde. “Die geben Dir doch keine Wohnung im Eilverfahren, damit Du nicht auf der Straße sitzt und dann wohnst Du da gar nicht richtig.”

”Und? Was sollen die machen? Mich jetzt auf die Straße setzen?” hatte Günther gesagt und Horst wandte abermals ein: “Und ob Du hier in Deinem Garten überhaupt wohnen darfst, das muß sich auch noch herausstellen.”

”Da vorne, zwei Wege weiter, da wohnt dieser Künstler, der diese gräßlichen Frösche und Elfen aus Zement formt und verkauft. Der wohnt da schon siebzehn Jahre mit seiner Frau. Wenn das bei dem geht, warum dann nicht bei mir?”

”Du bist ein Sturkopf!”

”Mag sein, aber in erster Linie bin ich ein Vater, der seine Kinder wieder haben möchte. Du, ich hab in dem ganzen Scheiß meine Frau verloren, meine Villa Kunterbunt verloren und das Einzige was mir geblieben ist, sind meine Kinder. Die will ich jetzt bei mir haben.”

”Auch Thomas?”

Günther war ganz still geworden, als Horst den Namen des behinderten Sohns ausgesprochen hatte. Nach einer Weile des Nachdenkens hatte Günther gesagt: “Ich weiß es nicht. Ich habe ihn vorgestern besucht und es geht im so gut in der Einrichtung. Ob ich ihn da aus seinem Umfeld wieder rausreißen soll? Ich weiß es einfach nicht. Er wohnt jetzt in einer betreuten Wohngruppe mit anderen Behinderten und einer Fachkraft zusammen und scheint sich da wirklich wohl zu fühlen. Nee, ich weiß nicht. Aber die Mädchen, die hol ich mir zurück!”

Horst hatte gemerkt, daß er seinem Freund diese Idee nicht ausreden konnte und so starrten sie beide auf Herrn Sondermann, der auf einem Schreibbrett immer wieder Notizen machte. Herr Sondermann war nicht alleine gekommen, er hatte noch eine Kollegin mitgebracht, eine kleine, sehr junge Frau jungenhaft kurz geschnittenen roten Haaren. Die hatte sich zuerst ein wenig umgeschaut und war dann verschwunden, um das ‘nachbarschaftliche Umfeld zu erkunden’. Herr Sondermann war geblieben und untersuchte Günthers Bauwagen, Hütte und den Bahnwaggon ganz genau.

Nach über einer Dreiviertelstunde blieb der Sozialarbeiter vom Jugendamt der Nachbarstadt vor Günther stehen, machte weiterhin Notizen auf seinem Schreibbrett und sagte dann nur: “Ja nee”.
Günther zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen: “Wieso nee?”

”Was?” fragte Herr Sondermann irritiert zurück und bemerkte, daß Günther die Zornesröte ins Gesicht stieg. “Zwischen zusammengepreßten Lippen stieß Günther hervor: “Warum jetzt nee?”

”Nee, nix nee. Ich meine, nee, da spricht nix dagegen. Ihre Bauwagen und vor allem der Waggon sind ausreichend isoliert. Sie haben Strom und fließend Wasser. Die Sanitäranlagen sind verbesserungswürdig, aber intakt und hygienisch. Für jedes Kind gibt es einen genügend großen Raum und wenn wir hinten am Rohrberg-Viertel die alternative Wagenburg genehmigen, dann können wir Ihnen nicht versagen, hier mit ihren Kindern und ihrem Lebensgefährten zu wohnen. Ich lebe auch mit meinem Mann zusammen.”

Bei dem Wort ‘Lebensgefährte’ zuckte Horst zusammen und fuhr herum, reflexartig wollte er sagen, daß Günther und er kein Paar seien und der Mann sich hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung irre, aber dann biß er sich lieber auf die Zunge, hielt den Mund und warf Günther einen warnenden Blick zu. Hoffentlich würde der auch die Klappe halten, denn offensichtlich hatte Herr Sondermann aus eigener Anschauung und eigenem Antrieb ein besonders großes Herz für homosexuelle Partnerschaften mit Kindern. Egal wie es wirklich war, man mußte es dem Mann vom Jugendamt ja nicht auf die Nase binden.

Doch Günther hatte die Bemerkungen gar nicht mitbekommen, sondern nur die Essenz wahrgenommen. Man wollte ihm nicht mehr verbieten, seine Kinder hierher zu sich zu holen.

Die junge Frau kehrte zurück und sprach kurz mit ihrem Kollegen. Dann klappte Herr Sondermann sein Schreibbrett zu und steckte den Kugelschreiber wieder weg.

”Also, wie gesagt. Aus unserer Sicht spricht überhaupt nichts dagegen, daß ihre Kinder hierher kommen. Meine Kollegin hat festgestellt, daß die nächste Bushaltestelle in akzeptabler Entfernung liegt, die Kinder müssen ja auch zur Schule kommen und sollten möglichst den öffentlichen Personennahverkehr nutzen können, noch mehr Abgase wollen wir ja nicht produzieren. Außerdem wird die Anlage hier, das geht aus den Unterlagen hervor, schon seit wenigstens 40 Jahren auch zum Wohnen genutzt. Verboten ist das also grundsätzlich nicht; es ist zwar auch nicht ausdrücklich so vorgesehen, aber wir haben es hier ja nicht mit einer reglementierten Kleingartenanlage zu tun, sondern mit Grundstücken auf denen in gewissem Umfang auch Bebauung zugelassen ist. Ich sehe da keine Hindernisse.
Das läuft jetzt so ab: Wir werden ihre Kinder jetzt besuchen und mit ihnen sprechen. Wenn die auch den Wunsch äußern, wieder bei Ihnen leben zu wollen, dann steht dem nichts im Wege. Sie bekommen von uns dann Bescheid.”

”Die wollten schon immer bei mir wohnen”, warf Günther ein und Herr Sondermann runzelte die Stirn. “Also nach den Unterlagen unserer Kollegen vom Jugendamt in der anderen Stadt wollen die Mädchen gar nicht mehr zu ihrem Vater zurück sondern fühlen sich sehr wohl bei dieser Frau, warten Sie mal, wie hieß die doch gleich…”

”Birnenarsch!” brüllte Günther.

”Genau, Birnbaumer-Nüsselschweif. Wie gesagt, wir sprechen mit den Mädchen und dann mit dem Jungen.”

”Nee, nee”, wehrte Günther ab: “Nur mit den Mädchen! Der Junge soll erst mal in der Einrichtung bleiben, da isser doch gut aufgehoben. Thomas verträgt keine Veränderungen.”

”Auch gut. Sie hören von uns.”

Das war’s. Günther konnte sein Glück kaum fassen und umarmte Horst. Dieser sagte: “Das hast Du sowieso nur mir zu verdanken, nur weil ich so eine tolle Braut bin.”

”Was? Braut? Spinnst Du?”

Horst klärte Günther über die Zusammenhänge auf und Günther wäre Herrn Sondermann am liebsten hinterher gelaufen, um das richtig zu stellen. Doch Horst hielt ihn zurück: “Halt doch den Mund! Mensch, laß die doch glauben, was sie wollen, solange es Dir nützt! Was willste denn jetzt irgendwas richtigstellen? Wir haben nie behauptet schwul zu sein, aber vielleicht ist es gerade der Umstand, daß der Sozifuzzi meint, wir seien warme Brüder, die endlich eine Familie sein wollen, gerade ausschlaggebend für seine wohlwollende Meinung.”

”Okay”, sagte Günther, “aber Du kommst mir nicht in mein Bett, egal was passiert!”

Unterdessen hatte sich die Situation im Hause des Ehepaares Birnbaumer-Nüsselschweif zugespitzt.
Frau Birnbaumer-Nüsselschweif war dazu übergegangen, die Mädchen nun auch mitten in der Nacht zu einem Gebet zu wecken. Ihre Bigotterie trieb sie auf die Spitze, indem sie den Mädchen dann mit Asche einen Punkt auf die Stirn malte und sagte, das sei das Kainsmal der Sünderinnen und nur durch ein Gebet könnten sie sich auf der Stelle reinwaschen.
Herr Birnbaumer-Nüsselschweif hatte in den letzten Wochen zuvor, von seinen merkwürdigen Bemühungen um die Mädchen etwas abgelassen, jedoch hatte er nun eine wöchentliche, immer Mittwochabends stattfindende, so genannte Beichtstunde eingeführt.
Mittwochs war seine Frau immer beim Mütterkreis der Kirchengemeinde und so nutzte er die Gelegenheit, um die Mädchen auf seine Weise zu bearbeiten. Getrennt voneinander mußten Monika und Ute zu ihm ins Wohnzimmer kommen. Bei zugezogenen Vorhängen und nur zwei brennenden Kerzen mußte sich das jeweilige Mädchen vor ihm hinknien, während er eine, so nannte er das, ‘innerliche Reinigung’ an dem Mädchen vornahm.
Dabei hielt er seine Hände über dem Kopf des Mädchens ausgestreckt und befragte es nach seinen Träumen.

”Im Traum da kommt das Böse und Du träumst doch auch immer schlimme Sachen.”

”Nein, das tue ich nicht!” protestierte Ute einmal und er antwortete: “Hör auf zu lügen, Du kleine Sünderin! Du hast was ganz Böses geträumt, das tun alle Mädchen in Deinem Alter. Du hast von nackten Menschen geträumt und von dem was die miteinander machen; und davon mußt Du mir erzählen, sonst wirst Du eines Tages im ewigen Fegefeuer brennen.”

Ute hatte keine solchen Träume gehabt. Ja, irgendwann einmal hatte sie schon einmal davon geträumt, nackt gewesen zu sein. Aber das war für sie ein ganz schrecklicher Traum gewesen. Sie hatte geträumt, mit ihrer Schwester und ihren Schulfreunden im Freibad zu sei und dann auf einmal nackt auf dem Sprungbrett zu stehen. Das war ihr so peinlich und unangenehm, daß sie davon erschreckt aufgewacht war.
Herr Birnbaumer bohrte weiter: “Ich sehe doch, daß Du schlimme Sachen träumst. Du träumst davon was so kleine Muschen wie Du mit sich selbst anstellen, wenn keiner zuschaut. Das mußt Du jetzt alles beichten, sonst kommst Du ins Refugium, bis es Dir wieder einfällt.”

Ute blieb nichts anderes übrig, als ihm einfach die Geschichte vom Schwimmbad zu erzählen. Der Mann schien zufrieden zu sein, aber er fragte nach: “Und wie war das, als Du nackt warst? Hast Du das genossen, da wo die anderen Dich angeschaut haben? Wo haben die denn hin geguckt? Los, erzähl mir, welche Stellen die angeguckt haben!”

Ute blieb stumm und Herr Birnbaumer schien wohl zu hoffen, ihre Schwester könne ergiebiger Auskunft geben und entließ Ute: “Du kannst jetzt ins Bett gehen und drei Vaterunser beten, schick mir Deine Schwester herein, damit ich auch sie reinigen kann!”

Monika war die Situation besonders peinlich, weil Herr Birnbaumer ihr die Hände nicht über den Kopf hielt, sondern auf die Schultern legte. Während er sprach, rutschten seine Hände immer etwas tiefer, bis sie kurz über ihren Brüsten lagen. Dabei plapperte er ununterbrochen vom Fegefeuer, so als ob sein Verhalten völlig normal sei.

”Los, reinige Dich und sage mir Deine schlimmen Gedanken! Wann hast Du Dich das letzte Mal selbst angefaßt? Erzähle es mir haargenau, sonst wirst Du unendliche Schmerzen im Feuer der Hölle erleiden!”

Bei jedem Wort bewegte Herr Birnbaumer seine Hände ein wenig hin und her und wie zufällig berührten seine Daumen die Stelle, wo er die Brustwarzen des Kindes vermutete.
Monika lehnte sich etwas weiter zurück, sodaß er auf seinem Sessel etwas nach vorne rücken mußte und dann duckte sich das Mädchen, sodaß er nur noch ihre Schultern erreichen konnte ohne vom Sessel zu rutschen.
Das was er hören wollte, mochte Monika ihm nicht erzählen und schwor auf die Bibel und den Heiland, sie sei ein reines, keusches Kind ohne Makel und Sünde. Dabei wiederholte sie eigentlich nur geschickt die Worte, die sie immer von Frau Birnbaumer-Nüsselschweif zu hören bekommen hatte.

Enttäuscht und etwas wütend schickte Herr Birnbaumer auch Monika ins Bett und löschte zornig die Kerzen. “Blöde Muschen, blöde!” schimpfte er leise vor sich hin und schaltete den Fernseher ein.

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif genoß ihre Rolle als fürsorgliche Mutter und hatte das an sich strenge, durch religiöse Übungen geprägte, Programm der Mädchen sogar ein wenig gelockert. Abgesehen vom nächtlichen Wecken begannen die Tage jetzt nicht mehr ganz so früh und die Andachten und Bußübungen fielen auch immer kürzer aus. Wahrscheinlich war es der Dicken selbst alles etwas zuviel geworden.

Doch die Mädchen empfanden nichts mehr für die beiden.
Hatte anfangs noch die Freude über die schönen Zimmer und das große Haus und die zunächst nette Art und Weise des Ehepaars überwogen, so war das inzwischen vor lauter Angst und Einschüchterung einer kühlen Ablehnung gewichen. Die Mädchen wollten nur noch eins: Zurück zu ihrem Vater. Und dieser Wunsch wuchs mit jedem Tag, den sie bei den Birnbaumer-Nüsselschweifs verbringen mußten.

Doch dann erreichte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif ein Brief vom Jugendamt.

Mit großem Elan ging Günther sofort daran, noch mehr frische Farbe aufzutragen und die kleinen Fenster der Bauwagen mit sehr ungelenk selbst gefertigten Gardinen zu schmücken. Alles sollte perfekt sein, wenn bald seine Töchter zu ihm kommen würden.
Horst bremste seinen Elan etwas und wollte vermeiden, daß Günther in ein großes schwarzes Loch der Enttäuschung fallen würde, falls alles doch nicht so laufen würde, wie sein Freund es sich vorstellte.
Außerdem hatte er seit Tagen eine bittere Nachricht für Günther, hatte sich aber nicht getraut, es ihm zu sagen.
Als sie eines Abends bei einem Bier am Lagerfeuer saßen und kleine, auf Stöcken aufgespießte, Würstchen ins Feuer hielten, begann er vorsichtig: “Du, du weißt doch, daß ich Dein bester Freund bin, oder?”

”Ja klar, wieso?”

”Nur so…”

”Nee, nix nur so, sach endlich, was is?”

”Meine Mutter…”

”Wie, Deine Mutter?”

”Ja, meine Mutter, die ist jetzt fast neunzig.”

”Schönes Alter, ich werd’ wohl nicht so alt.”

”Also, meine Mutter, die kommt alleine nicht mehr klar.”

”Ach du Scheiße, muß die ins Heim, oder was?”

”Heim? Nee, das kann ich mir eigentlich gar nicht leisten. Und so schlimm ist es auch nicht. Sie ist ja kein Pflegefall, sie kommt nur alleine nicht mehr klar. Meine Cousine Brunhilde kümmert sich ja hin und wieder um sie, aber die Bruni muß auch 198 Kilometer fahren und hat mir jetzt gesagt, daß es nicht reicht, sich nur alle paar Wochen mal um Mutti zu kümmern.”

”Wo wohnt Deine Mutter denn?”

”In Wolfratshausen.”

”Wo?”

”In Wolfratshausen, das ist so ‘ne knappe halbe Stunde hinter München.”

”Ach du Kacke, wie kommt die denn da hin? Ich dachte immer, ihr kommt irgendwo hier aus der Gegend.”

”Ja, ja, stimmt ja auch. Ich habe das elterliche Haus hier überschrieben bekommen, also zur Hälfte mit meinem Bruder. Meine Eltern sind schon vor vielen Jahren nach Wolfratshausen gezogen, weil Papa in München gearbeitet hat. Als der vor zwölf Jahren gestorben ist, ist Mutti da wohnen geblieben.”

”Und? Holste die jetzt zu Dir?”

”Nee.”

”Wie, nee?”

”Ich geh zu ihr. Einen alten Baum verpflanzt man nicht.”

”Wann kommste denn wieder?”

”Irgendwann mal, auf Besuch.”

”Wie jetzt?”

”Na, das soll heißen, ich zieh da hin. Ganz, wahrscheinlich für immer.”

”Nee, oder?”

”Doch.”

”Kacke!”

”Jau.”

”Und was machste da?”

”Also, mein Bruder will das Haus hier ganz übernehmen und will mich auszahlen. Das ist nicht gerade wenig Geld für mich. Ich will mit dem Geld an einer Entwicklung arbeiten, ich habe da seit Jahren so eine Idee im Bereich der kunststoffverarbeitenden Industrie, die will ich umsetzen und vielleicht zum Patent anmelden. Das Geld gibt mir über Jahre die notwendige Unabhängigkeit. Ich werde bei meiner Mutter wohnen, kann mich um sie kümmern und übrigens ist es da auch schöner als hier in der Stadt.”

”Du ziehst weg?”

”Ja.”

Stumm starrten die beiden Männer in die Glut, ihre Würstchen waren inzwischen verkohlt und sie hatten sie längst an die Seite gelegt. Keiner von beiden hatte jetzt noch Lust, etwas zu essen.

”Du kannst mich doch nicht alleine lassen!” maulte Günther in gespielter Hilflosigkeit. Er wußte, daß das Leben solche Überraschungen bereit halten konnte und er war bislang wahrlich von solchen nicht verschont geblieben. Doch er kannte seinen Freund zu lange und zu gut, um zu wissen, daß der sich seine Entscheidung nicht leicht gemacht hatte.
”Wann hauste denn ab?”

”So in 14 Tagen etwa.”

”Aber manchmal kommste vorbei, oder?”

”Manchmal schon.”

”Gut.”

Mehr gab es nicht zu reden, Horst ging bald darauf nach Hause und Günther legte sich auf eine Pritsche vor dem Bahnwaggon und genoß die laue Nacht mit dem klaren Sternenhimmel; Schlaf fand er keinen.

Auch Frau Birnbaumer-Nüsselschweif fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Schon seit zwei Wochen wälzte sich die dicke Frau schnaubend und ächzend in ihrem Bett herum, während ihr Mann mit spitz emporgereckter Nase und leicht geöffnetem Mund leise schnarchte.
”Halt’s Maul!” zischte sie und schlug ihm ihr kleines Kuschelkissen ins Gesicht.

Kurz schreckte er hoch, blickte orientierungslos im schwachen Schein der LED-Anzeige seine Weckers umher, und als er begriff, was passiert war, strich er sich seinen Bart glatt, sagte nur: “Ich liebe Dich auch” und legte sich wieder hin; Sekunden später schlief und schnarchte er wieder.

Die Dicke schnaubte vor Zorn. Zu gerne hätte sie genau in diesem Moment mit ihrem Mann abermals alles durchgesprochen, so wie sie es seit dem Eintreffen des Briefes vom Jugendamt schon an die hundert Mal gemacht hatte.
‚Erneute Überprüfung der Pflegeunterbringung’ hatte über dem Brief gestanden und dann war da die Rede gewesen von einer ‘abschließenden Überprüfung und einem Gespräch mit den betroffenen Kindern Monika und Ute Salzner in neutraler Umgebung zwecks Rückführung der Kinder in die familiäre Umgebung’.
So ganz genau konnte sie nicht mehr wiedergeben, was im Brief gestanden hatte, denn nach dem ersten Lesen hatte sie ihn wutschnaubend in Dutzende kleiner Fetzen zerrissen. Zwar hatte ihr Mann den Brief mit etwa 20 Metern Tesa-Film wieder zusammengesetzt, aber trotzdem war er in Teilen unlesbar geblieben.

Ute und Monika wußten von dem Brief, von dem die Birnbaumer-Nüsselschweifs ihnen nichts gesagt hatten, aber die Mädchen hatten eine Auseinandersetzung des Ehepaares mitbekommen.
War es anfangs mal so gewesen, daß sie sich im Hause Birnbaumer-Nüsselschweif wohlgefühlt hatten, war dieses Gefühl längst der Angst und einer tiefen Ablehnung gewichen. Mehr als einmal hatten die Kinder schon heimlich darüber gesprochen, von dort wegzulaufen, aber stets hatten sie von ihrem, manchmal bis in Detail geplanten, Fluchtgedanken abgelassen, denn sie fürchteten, dann wieder ins Heim zu müssen und eventuell gar nicht mehr zu ihrem Vater zurückkehren zu können.

Die Birnbaumer-Nüsselschweif hatte alles unternommen, um den Mädchen einzubleuen, ihr Vater sei ein schlechter, krimineller Mensch und ein asozialer Penner, doch die Kinder glaubten der Dicken schon lange nichts mehr.
Ihr Haß richtete sich auch vornehmlich gegen Frau Birnbaumer-Nüsselschweif. Ihrem Mann brachten sie fast nur Mitleid entgegen. Der wurde von der Dicken herumkommandiert, schikaniert und wie ein kleiner Laufbursche behandelt. Daß er anzügliche Bemerkungen machte, immer wieder erfolglos versuchte, die Mädchen zu begrapschen und versuchte, sie zu beobachten, empfanden sie als eklig und widerwärtig, standen jedoch soweit fest im Leben, daß sie seine diesbezüglichen Bemühungen eigentlich als lächerlich ansahen, denn sie hatten sich schon oft darüber unterhalten, daß man im Hause Birnbaumer-Nüsselschweif niemals auch nur den geringsten Anhaltspunkt dafür bemerken konnte, daß zwischen dem Ehepaar irgendetwas lief.

Da die Dicke sowieso nicht schlafen konnte, beschloß sie, die Mädchen zu einer Gebetsrunde zu wecken. Verschlafen und mit verquollenen Augen folgten Ute und Monika der Frau ins Wohnzimmer, wo diese aus einem Buch die Tageslosung verlas und dann einen langen Psalm rezitierte.
Doch diesmal waren die Mädchen nicht bei der Sache, gähnten unverhohlen, rieben sich die müden Augen und weckten so den Zorn der Dicken. “Ihr kleinen ungezogenen Nichtsnutze! Essen, trinken, wohnen, viel Wäsche machen, das könnt ihr, aber Gottes Wort hören, das wollt ihr nicht! Ich bin von der Vorsehung dazu ausersehen, Euch eine gute Mutter zu sein. Eure Mutter ist ja tot, umgebracht von Eurem kriminellen Vater. Ihr solltet mir und meinem Mann, eurem neuen Papa, dankbar sein, daß ihr unter meinem Dach wohnen dürft und so eine nette und liebe Familie habt. Aber was macht Ihr? Ihr gähnt und seid unaufmerksam, wenn ich mit Euch bete. Meint Ihr, mir macht es Spaß, nachts hier mit Euch für Euer Seelenheil zu beten und auf meinen wertvollen Schlaf zu verzichten? Ihr seid die Sünderinnen, die reingewaschen werden müssen, nicht ich! Gott wird euch eines Tages strafen!”

”Mein Papa ist kein Krimineller”, wagte es Ute zu sagen und die Dicke zuckte zusammen, reckte sich zu voller Größe auf und brüllte: “Kein Krimineller? Im Gefängnis war der! Gut, daß Ihr bei mir seid und es Euch erspart bleibt, bei dem Penner leben zu müssen! Ihr würdet doch auch früher oder später auf der Straße landen.”

Mit angewidertem Gesicht fügte sie hinzu: “Auf dem Straßenstrich womöglich! Und dann im Knast, jawohl im Knast!”

”Daß wir bei Ihnen sind, damit ist ja bald Schluß”, rutschte es Monika heraus und Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, die bei ihren vorangegangenen Worten mit ihrem Gesicht ganz nahe an Utes Gesicht herangekommen war, fuhr herum, als habe sie ein bissiges Insekt gestochen: “Was? Was sagst Du da? Womit ist es vorbei? Ihr bleibt bei mir, das ist so festgelegt, ich bin jetzt Eure Mutter und dabei bleibt es, basta!”

”Wir kommen bestimmt bald zu Papa zurück”, sagte Monika und bemühte sich, der Dicken gegenüber keine Angst zu zeigen.

”Ha!” brüllte diese: “Das werde ich zu verhindern wissen! Ihr packt jetzt sofort Eure Sachen zusammen, aber sofort!”

Noch in der gleichen Nacht packte Frau Birnbaumer drei große Reisetaschen, trieb die Mädchen schimpfend und schnaubend an, ebenfalls das Nötigste zusammen zu packen und erst dann weckte sie ihren immer noch friedlich schlafenden Mann.
Der war recht schnell Morpheus Armen entrissen und wehrte sich heftig gegen die Pläne seiner Frau. Zu gerne hätte er die Mädchen noch im Haus behalten, hatte er doch gerade erst bei einer Elektronik-Firma winzige Funkkameras bestellt, die er in die Rauchmelder an der Decke der Zimmer einbauen wollte, um die Mädchen besser beobachten zu können. Doch daraus sollte nun nichts werden, seine Frau hatte beschlossen, mit den Kindern in die Sommerfrische zu fahren.

Im nahe gelegenen Mittelgebirge besaß das Ehepaar Birnbaumer-Nüsselschweif ein Wochenendhaus, das Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, wie so manches andere auch, nach aufopferungsvoller Pflege und Hinwendung von einer alten Dame in der Kirchengemeinde geerbt hatte.

Es wurde gerade hell, als der Wagen der Birnbaumers mit knirschendem Geräusch auf dem Kiesweg vor dem gedrungen wirkenden Haus zum Stehen kam. Obwohl es sich um ein Fertighaus aus den späten 70er Jahren handelte, hatte der Architekt dem Haus die Anmutung einer Waldhütte aus den Alpen gegeben. Weit herabreichendes Dach, beschwert mit dicken Steinen, viel nachgemachtes Holz außen herum und an den mächtig wirkenden, aber sehr schmalen Balkonen.
Allgäu-Kitsch aus Preßspan.

Von der Existenz dieses Hauses wußte in der Stadt kaum jemand etwas. Frau Birnbaumer-Nüsselschweif hatte stets darauf geachtet, es nicht zu erwähnen. Niemand sollte eine Ahnung davon haben, daß sie eventuell doch ein kleines Vermögen zusammengeerbt hatte, das wäre ihrer Lieblingsrolle als aufopfernde Gemeindemutter mit Bundesverdienstkreuz nicht gut bekommen.
”Ich hasse diesen Muff der vergangenen Jahrhunderte”, meckerte ihr Mann, als er die Vorhänge aufriß und zuerst einmal alle Fenster weit aufmachte.
Daraufhin fing er sich einen Tritt in den Hintern ein und Monika und Ute, die mehr verängstigt als ehrfurchtsvoll über die vielen barocken Heiligenfiguren und die über und über mit Gemälden und Pendeluhren behängten Wände gestaunt hatten, mußten leise lachen, als Herr Birnbaumer durch den Tritt seiner Frau beinahe ins Stolpern geraten wäre.

”Das ist kein Muff, das ist antik”, blökte die Dicke und streichelte mit Verzückung in den Augen über das Haupt eines grimmig dreinschauenden fetten Mönches aus dunklem Holz.

”Ihr da, ihr geht nach oben, auf der rechten Seite ist ein Zimmer, da könnt ihr euer Zeug reinpacken”, kommandierte die Dicke und schnippte mit den Fingern.

”Puh, hier stinkt’s nach Mottenpulver”, meldete sich Herr Birnbaumer zu Worte und wedelte hilflos mit einer Zeitung herum, als könne er damit die wirklich muffig riechende Raumluft schneller hinauswedeln.

”Das sind die Teppiche”, sagte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif mit gerecktem Kinn und stampfte mit den Füßen auf. Davon war aber nichts zu hören, denn die doppelt und dreifach übereinander liegenden Teppiche, Brücken und Läufer schluckten jedes Geräusch.

In diesem Haus hatte die dicke Gemeindemutter und stets hilfsbereit sich um alle Alten und Kranken kümmernde Selbstlose alles angehäuft, was ihr in den letzten Tagen, die einem Alten kurz vor dem Sterben so bleiben, alles aus Dankbarkeit geschenkt worden war. Darunter befanden sich auch Gegenstände, die eher leicht zu transportieren waren und bei denen das Schenken von den Sterbenden manchmal gar nicht wahrgenommen worden war.
Oftmals hatten auch die Angehörigen nach dem einen oder anderen Möbelstück oder Schmuckstück gefragt, doch stets hatte die Birnbaumer-Nüsselschweif es verstanden, achselzuckend auf die bereits eingesetzte Verwirrtheit der Alten hinzuweisen und die Vermutungen der Hinterbliebenen auf voreiliges Verschenken an dritte Unbekannte zu lenken. Ein paar Mal hatte sie auch Andeutungen in Richtung der oft aus Polen stammenden Pflegekräfte gemacht.

Nachdem die Mädchen nach oben gegangen waren, fing Herr Birnbaumer in ungewohnter Opposition erneut an: “Ich weiß gar nicht, was wir mit dem ganzen Krempel hier sollen.”

”Krempel? Ja sag mal, spinnst Du? Das hier ist ein echter Hoffmann und die Büste da ist von Professor Gleisbritzner aus Königsberg. Der Teppich, auf dem du stehst, ist ein echter Isfahan, allein der dürfte 20.000 wert sein. Du spinnst wohl. Wenn man wie ich, sich sein ganzes Leben für andere aufopfert, sich keine Sekunde Ruhe und Mußte gönnt und sich förmlich aufreibt, um den Armen und Schwachen und vor allem den hilflosen Kinderlein zu helfen, dann hat man eben hinterher wenn man alt ist, keine gute Rente und von was sollen wir leben? Von Deiner jämmerlichen Pension? Das hier…”, und dabei machte sie eine weit ausholende Bewegung mit beiden Armen, sodaß die dicken Fettfalten unter ihren Oberarmen aus ihrem wallenden Kleid hervorschwappten, “…das hier ist unsere Altersversorgung!”

”Und jetzt? Wie geht es jetzt weiter? Bleiben wir jetzt mit den Mädchen hier untergetaucht oder was hast du vor? Ich meine, bis jetzt lief doch alles gut und wir waren eine schöne Familie, Vater, Mutter und zwei Kinder, so wie du es immer gewollt hast. Aber jetzt? Wo soll das hin führen?”

”Papperlapapp! Sabbel nicht immer so’n dummes Zeug daher! Mir sind die Kinder zugesprochen worden und die bleiben auch bei mir. Ich bin nämlich eine gute Mutter und erst durch die Mädchen ist mein Mutterglück perfekt. Da lasse ich mir doch durch irgendeine inkompetente Sachbearbeiterin beim Jugendamt in einem Anflug von Behördendenken nicht meine Familie kaputt machen. Wir bleiben jetzt erst mal übers Wochenende hier, das kann uns ja niemand verdenken, wenn wir mal den Mädchen etwas frische Waldluft gönnen. Das fördert ihre Gesundheit und treibt die schlechten Triebe aus. Hast du nicht bemerkt, daß die kleinen Muschen sich sogar über Jungens unterhalten haben? Hier in der Abgeschiedenheit werden sie sich besinnen, bei frischer Luft und bei Gebeten.”

”Ich habe da kein gutes Gefühl. In der Schule wird man sie vermissen und eines Tages stehen die vom Jugendamt hier vor der Tür!”

”Ach was! Ich habe mit kaum einem über das Haus hier gesprochen.”

”Mit kaum einem? Also doch mit jemandem! Mit wem denn?”

”Nicht der Rede wert.”

”Mit wem, los sag’s schon!”

”Mit der Gemüsefrau.”

”Nicht der Rede wert! Mit der Gemüsefrau! Das ist ja wohl die Höhe! Da hättest Du es auch in die Zeitung schreiben können.”

”Nee, nee, die sagt nichts. Die tut nur immer so abweisend und hartherzig mir gegenüber, aber in Wirklichkeit spekuliert die auf den heiligen Christopherus.”

”Auf wen?”

”Auf die Figur da drüben. 17. Jahrhundert, feine klösterliche Arbeit, geschätzt auf 8.000 Euro.”

”Und von der hast Du ausgerechnet der Gemüsefrau erzählt?”

”Du weißt doch, daß ihr Mann nebenher mit Trödel und Antiquitäten handelt. Die sind ganz wild auf einige von den Figuren und vor allen auf die Wanduhren. Und wenn wir die Sachen irgendwann mal zu Geld machen wollen, dann brauchen wir auch jemanden, der das Zeug für uns verkauft. Oder willst Du Dich hinsetzen und den ganzen Scheiß fotografieren, beschreiben und bei Ebay verkaufen? Kennst Du dich etwa mit so etwas aus? Weißt Du, was so Sachen wert sind? Nee? Tuste nicht! Und deshalb mußte ich denen das sagen.”

”Wenn das mal kein Fehler war!”

”Halt’s Maul, Du Idiot!”

Am Morgen des gleichen Tages bekam Günther Besuch. Von seinem Bauwagen aus konnte er sehen, daß zwei Herren in Windjacken von dem Tor seines Gartens standen und das verhieß nichts Gutes. Männer in beigefarbenen oder grauen Windjacken sind immer von einer unangenehmen Behörde, schlimmstenfalls von der Polizei. Und ausgerechnet zur Polizei hatte Günther, seitdem man ihn unschuldig eingesperrt hatte, kein besonders gutes Verhältnis mehr.
Den Gerichtsvollzieher kannte er, der fuhr immer dienstags herum und der kam auch nie in Begleitung.

Ein paar Sekunden zögerte er und überlegte, ob er einfach nicht hingehen und aufmachen sollte, wie er es schon so oft getan hatte. Die Leute warfen dann meist einen unangenehmen Zettel ein, in dem sie ihren Besuch für den Soundsovielten ankündigten und bei Nichtöffnen dies oder das Unangenehme machen würden…

Doch einer der Männer hüpfte etwas auf und ab und konnte über das Tor blicken und rief: “Herr Salzner, machen Sie doch mal auf!”

Obwohl der Mann Günther gar nicht gesehen hatte, fühlte dieser sich entdeckt und schlurfte dann doch zum Tor und öffnete.

”Gräbert und Koslowski vom Wohlfahrtsverband”, stellte der in der grauen Jacke sich und seinen Kollegen vor. “Ich bin Berthold Gräbert, Sozialarbeiter, und das hier ist Dr. Martin Koslowski, er ist Psychologe. Dürfen wir mal kurz?”

Der in der beigefarbenen Jacke schüttelte Günther mit einem strahlenden Lachen die Hand und schon waren die beiden Wohlfahrenden am verdutzten Günther vorbei in Richtung der Hütten, Lauben und Bauwagen gegangen.

Günther schloß langsam das Tor, blickte den beiden hinterher und grummelte: “Aber selbstverständlich, herzlich willkommen, kommen Sie doch rein…”

”nee, jetzt mal im Ernst, Herr Salzner, so geht das nicht”, begann der, der sich als Gräbert vorgestellt hatte und Günther befürchtete schon Schlimmes, denn auch Dr. Koslowski schüttelte den Kopf und stimmte zu: “Das kann ja so nicht sein.” Dabei machte er auch noch eine ausladende Handbewegung und deutete auf die Hütten und Wagen.

”Setzen Sie sich doch!” forderte Günther die beiden auf und schob ihnen zwei Campingstühle an einen Holztisch. “Wollen’se nen Kaffee?”

”Och jo”, freute sich Gräbert und auch Koslowski nickte.

”Milch hab ich aber keine, nur Zucker”, rief Günther noch und die beiden Männer riefen unisono: “Schwarz!”

Günther machte sich sogar die Mühe und wischte ein Tablett sauber, um den Kaffee, den er in Porzellantassen mit Untertassen servierte, zu den Männern ins Freie zu bringen. Er selbst trank seinen Kaffee aus einer blau-weiß emaillierten Blechtasse.

”So, und was wollen Sie?” fragte er gespannt und setzte sich auf einen Hocker zu den Männern in Windjacken.

”Also, wie ich schon sagte”, begann der Beige: “Wir sind vom Jugendamt eingeschaltet worden und da muß auch schon mal jemand da gewesen sein, egal, auf jeden Fall haben wir uns die Akten angeschaut und es geht ja nicht, daß hier eine Familie auseinandergerissen wurde. Sehen Sie mal, die Kinder haben gerade ihre Mutter verloren, das ist ja schon mal schlimm genug. Da brauchen die doch aber eine feste Bezugsperson, jemanden aus dem familiären Umfeld.”

Und der Graue ergänzte: “Das kann ja nur ein Verwandter sein, idealerweise der Vater. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, weshalb man die Kinder in eine Pflegefamilie gegeben hat. Das wäre eine Maßnahme für eine Woche, für ein paar Tage, ja längstens für einen Monat gewesen, bis sie sich gefestigt haben, Herr Salzner, aber doch nicht für eine so lange Zeit!”

”Ich krieg meine Kinder wieder?” Günthers Mund stand offen und es raubte ihm fast den Atem.

Gräbert nickte: “Die Mädchen, ja, die sollen sofort wieder zu Ihnen. Sie haben hier fließendes Wasser, Sie haben hier Heizmöglichkeiten und genügend Raum. Wir schauen uns hier nochmal genau um, vielleicht können wir vom Wohlfahrtsverband da noch die eine oder andere Hilfe leisten, falls es irgendwo an irgendetwas mangelt. Dem Jugendamt sind da ja oft die Hände gebunden. Wenn Sie mich fragen: Alles Korinthenkacker! Aber die können oft gar nicht anders, die Buchstaben des Gesetzes sind da sowas von wachsweich und die haben so viel Ermessensspielraum und manchmal entscheidet eine 29jährige Alleinstehende über das Schicksal von Familien.”

”Das spielt ja jetzt keine Rolle”, unterbrach ihn Dr. Koslowski, der es offensichtlich als unangenehm empfand, daß sein Kollege so über die Behörde sprach. Und Koslowski war es, der dann die erlösenden Worte sprach: “Herr Salzner, wenn Sie wollen, fahren wir heute noch, gemeinsam mit Frau Ströttinger vom Jugendamt, zu der Pflegefamilie und holen ihre Töchter ab.”

”Und was ist mit Thomas?” fragte Günther aufgeregt.

Die beiden Männer schauten sich an und Günther merkte sofort, daß das nichts Gutes verhieß.

”Tja, das ist so eine Sache…”, begann Gräbert und Koslowski fuhr fort: “Sie wissen doch selbst, wie schwer es ist einen autistischen Jungen von einem Umfeld ins andere zu transferieren. Jetzt hat er Fuß gefaßt in seiner Gruppe, lebt seine Rituale, hat seinen Rhythmus. Da wollen wir ihn ungern herausziehen.”

”Ungern?” hakte Günther nach, der ja insgeheim wußte, daß die beiden Recht hatten.

”Nun ja, ungern beinhaltet nicht die Option auf irgendetwas.”

”Häh?”

”Herr Salzner, Sie sind doch ein Mann klarer Worte und so will ich auch klar und deutlich mit Ihnen sprechen”, sagte Gräbert: “Wenn Sie die Mädchen jetzt zurück haben wollen, bedeutet das, daß Thomas in seiner Gruppe bleibt. Basta. Punkt, Schluß. Aus.”

Koslowski milderte sofort etwas ab: “Vorerst mal, also bis auf weiteres, mal die nächste Zeit, so ein, zwei Jahre, dann sehen wir weiter.”

Günther stellte wie in Zeitlupe seine Blechtasse auf den Tisch und fast synchron nahmen Gräbert und Koslowski nun ihrerseits ihre Tassen an sich und während sie tranken, schlug Günther die Hände vor sein Gesicht und begann zu weinen. Es war als ob ein Wolf heulte. Der bärtige Mann wurde von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt, immer wieder hob er die Hände, schaute ohne Blick in den Himmel, schüttelte wieder und wieder den Kopf. Die ganze Last der letzten Monate fiel mit einem Schlag von ihm ab, endlich sah er, daß sein Hoffen und Sehnen nicht umsonst gewesen war, daß er wirklich eine Chance hatte, seine Mädchen wieder zu sich nehmen zu können.

”Wir müssen noch über einige Details…”, versuchte Herr Gräbert das Gespräch wieder aufzunehmen, doch Günther ließ ihn nicht weiter reden und fragte mit tränenerstickter Stimme: “Wann?”

Koslowski schaute auf die Uhr: “Nun, es ist noch sehr früh. Bis die Papiere drin im Amt fertig sind und Frau Ströttinger keinen Publikumsverkehr mehr hat, na ja, da wird es so kurz nach Zwölf, oder sagen wir besser kurz nach Eins. Es ist ja dann auch noch Mittagspause.”

Spontan wollte Günther etwas über Beamte, das Wort ‘Mahlzeit’ und die Mittagspause sagen, die ihm und seinem Glück jetzt noch im Wege standen, aber er schluckte das herunter; schließlich waren die beiden Windjackenmänner mit einer überaus guten Nachricht zu ihm gekommen und viel schneller als er es je erhofft hatte, würde er seine Kinder, zumindest mal Ute und Monika in die Arme schließen können. Da war es besser, jetzt einfach die Klappe zu halten.

”Wie ist das denn mit dem anderen Jugendamt?” erkundigte sich Günther, nachdem er mit einem sehr großen Stofftaschentuch seine Tränen halbwegs getrocknet hatte. “Ich meine, die wollten mir die Kinder doch eher für immer wegnehmen…”

Gräbert nickte verstehend und legte Günther eine Hand aufs Knie: “Machen Sie sich da keine Sorgen. Jetzt ist das beim Jugendamt dieser Stadt, dort liegen jetzt die Akten und der Bericht und das Gutachten werden in der Akte bleiben, ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendein Jugendamt nunmehr anders entscheidet, als es jetzt der Fall ist, solange sich die Verhältnisse nicht gravierend ändern. Sagen wir es mal so: Da hatte sich jemand auf sie eingeschossen und wollte von seiner Meinung nicht ablassen. Jetzt ist das, sagen wir mal, neutraler betrachtet worden und, na sind wir mal ehrlich, auch aus Kostensicht neu bewertet worden. Wozu Pflegegeld an eine wildfremde Familie zahlen, wenn es einen Vater gibt?”

Günther hatte sich geduscht, seine vormals wirren Haare mit dem Langhaarschneider seines Rasierapparates mehr schlecht als recht über den Ohren etwas gestutzt und den Rest mit viel Wasser zu einer sauberen Frisur gescheitelt.
Etwas zu stark nach Rasierwasser riechend und in einen etwas zu engen Anzug gezwängt lief er vor seinem Bauwagen schon seit zwei Stunden, eine Zigarette nach der anderen rauchend, auf und ab. Immer wieder blickte er auf die alte Kuckucksuhr vorne an der einen Gartenlaube und konnte gar nicht glauben, wie langsam die Zeit verging. “Meine Fresse, ich sterb’ gleich vor Nervosität”, murmelte er und dann fiel sein Blick auf seine Hände.
Vom Rauchen waren seine Finger in den letzten Wochen gelb geworden. So wollte er seinen Mädchen nicht unter die Augen treten und beeilte sich, in der Küche im Bauwagen nach etwas Brauchbarem zu suchen, mit dem er seine Finger säubern konnte.
Scheuermilch funktionierte, die Behandlung war aber mühselig und dauerte zu lange. Also griff er nach Zitronensaft. Auch das ging ganz gut benötigte aber auch viel Zeit. Dann fiel sein Blick auf eine Flasche mit Chlor und damit bekam er seine Finger in Windeseile sauber, nur Sekunden dauerte es, bis die Finger wieder hell und sauber waren, als habe er nie geraucht und als seien sie nie nikotingelb gewesen.

Da hupte es.

Nun nicht nur nach Rasierwasser, sondern auch frisch nach Schwimmbad riechend rannte der sonst doch eher gemütlich-behäbige Mann zum Gartentor, wo ein silbergrauer Opel-Kombi auf ihn wartete.
Vorne saßen Gräbert am Steuer, eine junge Frau auf dem Beifahrersitz, die sich als Frau Ströttinger vorstellte und hinten saßen bereits Dr. Koslowski und ein weiterer Mann, der von Koslowski als Herr Sack vom Jugendamt vorstellt wurde.
Für Günther wurde es etwas eng auf der Rückbank und nachdem er sich in das Auto gezwängt hatte, was ihn ins Schwitzen gebracht hatte, sagte er: “Moment mal! Der Wagen ist doch jetzt voll. Wo sollen denn Ute und Monika hin?”

Die vier anderen sahen sich vielsagend an.

Günther stockte für einen Moment der Atem und sein Herz schien kurz auszusetzen, als die vier Leute vom Amt sich anblickten.
Lag da etwas im Argen? Würde es doch nicht dazu kommen, daß er Monika und Ute zurückbekommen würde?
Er hatte doch alles schon vorbereitet, die Betten der Mädchen frisch bezogen, Milch, Limonade, Cornflakes und Brot eingekauft. Was nun?

Doch Frau Ströttinger brach das kurze Schweigen, das Günther so in Angst versetzt hatte: “Herr Salzner, Sie glauben doch nicht allen Ernstes daß das alles ohne Papiere und Formulare funktioniert. Zunächst einmal fahren wir ins Amt, erledigen den Papierkram und dann holen wir die Mädchen. Da nehmen wir dann den VW-Bus, keine Sorge.”

Das sah Günther natürlich auf der einen Seite ein, auf der anderen Seite machte ihm diese weitere Verzögerung, diese erneute Hürde, dann doch zu schaffen. Er hatte sich vorgestellt, jetzt gehe alles reibungslos und doch war wieder erst ein Behördengang notwendig. Das bereitete ihm Unbehagen, wie ihm alles behördliche, aus verständlichen Gründen, Unbehagen verursachte. Er wünschte sich, Horst könnte ihm zur Seite stehen, aber der war vermutlich schon in Umzugsvorbereitungen oder weg; er wäre sogar mit dem Hanseaten Leo als Unterstützung zufrieden gewesen, aber Leo war tot. Auf einmal wurde ihm bewußt, daß er ganz alleine vor dieser Aufgabe stand. Nicht nur der Behördengang, nein, in einer Stunde oder so würde er ganz alleine mit seinen beiden Töchtern ein neues Leben beginnen.
Es war nicht das erste Mal, aber während dieser kurzen Fahrt ins Rathaus dachte Günther auch an seine ermordete Frau und stellte fest, daß der ursprüngliche Zorn, die erste Hitze der Wut längst verflogen waren und er in eine Phase gekommen war, in der er nur noch voller Wehmut und Trauer den erlittenen Verlust als Schmerz in seinem Herzen spürte.

Bis zu jenem Tag, als er seine Frau mit einem anderen Kerl überrascht hatte, war für ihn die Welt einfach in Ordnung gewesen. Abgesehen von den üblichen Streitereien des Alltags hatten er und seine Frau in Harmonie gelebt, waren sie alle eine glückliche Familie, die sich allmählich etwas aufgebaut hatte und eigentlich sorgenfrei leben konnte.
Seitdem hatte sich viel verändert. Die Frau ermordet, die Arbeit verloren, die geliebte Villa Kunterbunt abgerissen, ein Spielball willkürlicher Behörden geworden und vor aller Welt als Mörder gebrandmarkt. Mit alledem wäre er fertig geworden, wenn man ihm nicht auch noch die Kinder weggenommen hätte. Und jetzt, da es kurz bevorstand, die Kinder wieder zurück zu bekommen, wurde ihm schmerzlich bewußt, wie sehr ihm eigentlich auch alles andere fehlte.
Gut, die schmalen Einkünfte schreckten ihn nicht, er hatte sich damit abgefunden, daß er nur mit Hilfe der Sozialunterstützung leben konnte und für die Kinder würde er ja auch was bekommen. Anstelle der Villa Kunterbunt hatte er jetzt sein Bauwagengrundstück und bei rechtem Licht betrachtet, war das sogar noch etwas besser als die fußfeuchte Schuttbaracke.

Dieserlei Gedanken kreisten in Günthers Kopf und in die gespannte Erwartung mischten sich Selbstmitleid, Angst und Trauer.

Die drei Männer und die Frau, die mit ihm im Wagen saßen, sprachen die ganze Zeit über Belanglosigkeiten, Preise für Handytarife, geplante Urlaubsreisen und die Anzahl ihrer Überstunden.
Günther merkte, für diese Leute war es ein Arbeitstag, vielleicht kein ganz normaler Arbeitstag, aber eben doch nur Bestandteil ihres Berufes und sie ahnten nicht, wie sehr ihm die ganze Angelegenheit zusetzte und wie stark ihn das alles belastete.

Als der Opel von der Straße auf den Schlagbaum zusteuerte, der die Zufahrt zum Innenhof des Verwaltungskomplexes absperrte, die Schranke sich hob, das Schiebetor zur Seite fuhr und sich dann wieder hinter ihm schloß, drückte es Günther fast die Kehle zu. Zu sehr erinnerte ihn das an die Fahrt ins Gefängnis, wo er unschuldig und zur Untätigkeit verdammt, auf seinen Nachnamen und Paragraphen reduziert worden war.

”So, jetzt hüpfen wir mal eben rein und erledigen das”, strahlte ihn Frau Ströttinger an und Dr. Koslowski schlug ihm jovial mit der flachen Hand auf die Schulter: “Das wird schon!”

In der Tat, es dauerte wirklich nicht lange. Es war zwar ein Haufen Papiere und Frau Ströttinger und ihr Kollege Sack überschütteten ihn förmlich mit Ratschlägen, Papierdurchschlägen und Hinweisen auf das weitere Vorgehen.
Der einfache Mann nahm das alles nur wie durch eine Nebelwand wahr und verstand nur Satzfetzen. “Bis zur endgültigen Klärung…” “…mit Hilfe unseres Sozialdienstes…” “…selbstverantwortlich aber unter Aufsicht des Jugendamtes…”
Einmal kurz horchte Günther auf, als Gräbert ihm die finanzielle Seite zu erläutern versuchte. Günther würde aus einer Stiftung für ein halbes Jahr eine Zusatzleistung für die Eingliederung seiner Töchter bekommen, die würde aber zum Teil auf die Sozialleistung angerechnet, aber insgesamt sollte er doch ganz gut auskommen. Was Günther allerdings in diesem Moment aufregte, war die nebenbei, aus einer Unterhaltung zwischen Herrn Gräbert vom Wohlfahrtverband und Herrn Sack vom Jugendamt, herausgehörte Information, daß das Ehepaar Birnbaumer-Nüsselschweif insgesamt doppelt so viel bekommen hatte, wie er nun bekommen würde.

Günther schüttelte die schlechten Gedanken ab, freute sich über einen Pappbecher mit Automatenkaffee, den er, obwohl der Kaffee ziemlich heiß war, wie ein Verdurstender trank.

”So, dann is’ ja alles unter Dach und Fach”, flötete Frau Ströttinger mit aufgesetzt guter Laune und klappte den grünen Aktendeckel zu. “Schreiten wir zur Tat und holen wir die Mädchen!”

Günther schloß kurz die Augen, holte einmal tief Luft und trank den letzten Schluck Kaffee. Dann stand er auf, rieb sich die Hände und sagte: “Endlich!”

Dr. Koslowski stieg nicht mit in den graublauen VW-Bus, er entschuldigte sich mit anderen Termin, wünschte viel Erfolg und alles Gute und schob die Schiebetür des Wagens zu.
Die Fahrt vom Rathaus zum Haus der Familie Birnbaumer-Nüsselschweif würde etwa 20 Minuten dauern und Herr Gräbert fragte die beiden Leute vom Jugendamt: “Wissen die Birnbaumer-Nüsselschweifs denn Bescheid?”

Herr Sack zückte wieder die grüne Aktenmappe, blätterte darin und nickte dann: “Ja, am Dreiundzwanzigsten haben die ein Schreiben bekommen.”

Gräbert runzelte die Stirn: “Und haben Sie da noch mal angerufen?”

Herr Sack reckte sich in seinem Sitz etwas auf und sagte leicht beleidigt klingend: “Ja, was denken Sie denn? Gestern habe ich angerufen, da lief der Anrufbeantworter mit der Mitteilung ‘Wir sind mal eben nicht da’ und da habe ich denen aufs Band gesprochen.”

Günther hatte bei dieser Unterhaltung gar nicht zugehört, ihm war es viel zu warm in diesem Auto, sein Kragen wurde ihm viel zu eng und das Atmen fiel ihm schwer; Schweißperlen standen auf seiner Stirn und es war ihm übel. “Sind Sie aufgeregt, Herr Salzner?”, erkundigte sich Gräbert, dem das nicht entgangen war.

Günther nickte und Gräbert, der neben ihm saß, legte ihm seine Hand aufs Knie. “Wird schon werden.”

Ute und Monika sahen sich in dem Zimmer im oberen Stockwerk des Wochenendhauses des Ehepaares Birnbaumer-Nüsselschweif um. Eine ausgestopfte Eule, die schon seit vielen Generationen Staub angesetzt und manche Feder eingebüßt hatte, thronte steif und mit starren, schielenden Glasaugen auf einem an die Wand genagelten Ast. Die Wände waren mit Nut- und Federbrettern in dunklen Holz verkleidet und die niedrige Holzdecke mit den dunklen Balken schien sich wie das Oberteil einer alten Druckerpresse auf die Mädchen herabzusenken. Das ganze Zimmer war vollgestopft mit übergroßen Blumenvasen voller künstlicher Blumen, antiken Möbeln aller Stilrichtungen und Gemälden jeglicher Art.
Alles in allem wirkte die Atmosphäre des Raums bedrückend auf die Mädchen und sie trauten sich kaum, ihr Gepäck abzustellen.

Doch dann kam Frau Birnbaumer-Nüsselschweif herein, strahlte über das ganze Gesicht, klatschte in die Hände und rief: “Na, isses nicht schön hier? Hat die Mama das nicht fein für Euch gemacht? Schaut mal, da ist sogar geblümte Bettwäsche auf dem Bett! Na, isses nicht schön?”

”Zum Kotzen!” entfuhr es Monika und die Birnbaumer, die gerade die Bettdecken aufschüttelte, fuhr herum: “Was?”

”Ich sagte, es ist ein wenig protzig”, log Monika und die Birnbaumer war sofort wieder versöhnt. Mit zuckersüßen Unterton meinte sie, während sie den Mädchen über die Köpfe streichelte: “Für meine süßen Kleinen ist mir doch nichts zu schade. Los, packt aus, macht Euch hübsch, zieht schon mal was Leichtes an, wir gehen heute nicht mehr raus, am besten Eure Nachthemden. Ich backe später Pfannkuchen und dann liest Papa Birnbaumer noch eine spannende Geschichte aus dem Alten Testament. Das wird gemütlich, ach was wird das gemütlich! Husch, husch!”

Was die Mädchen nicht ahnen konnten, war, daß Herr Birnbaumer im Moment alles andere im Kopf hatte, nur nicht das Alte Testament. Während seine Frau nach unten stapfte, beobachtete er die Mädchen oben vom Zimmer nebenan durch ein Loch in der Wand und wartete darauf, daß diese sich auszogen. Was aber er nun auch wieder nicht ahnen konnte, war, daß Ute und Monika es sich besonders in den letzten Tagen zur Angewohnheit gemacht hatten, in der Hühnersprache miteinander zu sprechen. Diese einfache Silbenversatzsprache hatten sie von ihrem Vater gelernt und es war immer ein Riesenvergnügen gewesen, wenn sie sich mit ihm so unterhalten konnten und kein Mensch etwas verstand, obwohl sie doch eigentlich ganz normales Deutsch sprachen und nur die Silben zerlegten und Unsinnssilben dazwischenfügten.
Wenn sie beispielsweise das Wort Autobus sagen wollten, dann zerlegten sie das Wort Autobus in die drei Silben Au, to, und bus. Jede einzelne Silbe wurde nun einmal richtig gesagt, einmal mit einem H am Anfang, einmal mit einem V oder F am Anfang und dazwischen sagte man die nutzlose Silbe “di”.
Autobus, Au – to – bus, Au hau di vau to ho di vo bus hus di vus.
Ich fahre mit dem Autobus hieß dann also: Ichhichdivich fahhadiva rehedife mithitdivit demhemdivem Auhaudivautohodivobushusdivus.

Sie wußten, daß es von dieser Hühnersprache viele Varianten gab, fanden diese aber am besten und hatten das so gut gelernt, daß sie schnell und fließend so sprechen konnten.
Und während Birnbaumer hinter seinem Guckloch lauerte, taten die Mädchen so, als würden sie ihr Gepäck auspacken, und plapperten dabei schnell und für ihn unverständlich in der Hühnersprache, was er für eine alberne Phantasiesprache ohne Sinn hielt. Doch so ganz ohne Sinn war das, was die Mädchen scheinbar spielerisch besprachen nicht, denn sie schmiedeten einen folgenschweren Plan.

Unterdessen war ihr Vater mit Herrn Gräbert vom Wohlfahrtsverband und Frau Ströttinger und Herrn Sack vom Jugendamt auf dem Weg zum Haus des Ehepaars Birnbaumer-Nüsselschweif in der Stadt.
Herr Gräbert machte sich Sorgen um Günther, der ganz bleich geworden war und mit dem Zeigefinger versuchte seinen Kragen weiter zu machen, obwohl der ihn gar nicht einengen konnte. “Es ist ja so heiß in dem Wagen hier und die Luft ist so stickig”, keuchte er und Herr Gräbert schüttelte nur den Kopf: “Nein, Herr Salzner, die Klimaanlage läuft, sogar das Fenster ist etwas offen, es ist nicht warm hier drin. Brauchen Sie einen Schluck Wasser?”
Günther nickte und Frau Ströttinger, die das im Spiegel gesehen hatte, steuerte den Wagen an den Straßenrand, wo sich ein Kiosk befand.
Dankbar trank Günther aus einer Flasche stilles Mineralwasser.

”Können wir weiterfahren?” erkundigte sich Herr Sack, doch Günther winkte ab: “Lassen Sie mich ein paar Minuten frische Luft schnappen, das ist alles ein bißchen viel für mich.”
Die drei anderen schauten sich an, Gräbert zuckte mit den Schultern, nickte ihm zu und schob die Schiebetür des Wagens auf. “Los, gehen Sie ein paar Schritte oder setzen Sie sich da drüben auf die Bank. Hat ja keinen Zweck, wenn Sie uns jetzt vor Aufregung umkippen.”

Etwa zur gleichen Zeit schimpfte die Gemüsefrau laut vor sich hin. Auch sie fuhr in einem VW-Bus. Zweimal in der Woche belud sie ihren altersschwachen Diesel mit Obst und Gemüse und belieferte Stammkunden.
”Diese Drecksschwuchtel, dieser Gemüsewichser mit seinen Schrumpelkarotten, dem soll’t man sei’ Möhre in de’ Arsch schiebe!” schimpfte die kurzbeinige Frau, als sie die Straße entlang fuhr, in der das Haus der Birnbaumer-Nüsselschweifs lag.
Was ihren Zorn erregte, waren die blauen Kisten von Axel. Axel Mehrinsberghausener betrieb seit Jahren einen schwungvollen Handel mit Bio-Gemüse, das er im Abonnement verkaufte. Man buchte bei ihm eine bestimmte Kistengröße und einmal in der Woche brachte er eine entsprechende Menge saisonalen Gemüses und Obstes vorbei.
Überall in der Straße standen seine blauen Boxen vor den Türen und die Gemüsefrau schimpfte wieder: “Blöder Kotstecher, Simpel, Depp!”
Mit ihrer derben Wortwahl wollte sie zum Ausdruck bringen, daß sie Herrn Mehringsberghausener für einen Homosexuellen hielt. Das war der vierfache Vater allerdings mitnichten, trug jedoch einen Zopf, hatte eine Vorliebe für rote Jeans und, was am allerschlimmsten war, er hatte in jedem Ohrläppchen einen dicken Ohrring.
Aber er hätte auch einen Maßanzug und kurzgeschnittene Haare haben können, die Gemüsefrau hätte den Konkurrenten so oder so gehaßt.

Inzwischen hatte Günther sich etwas erholt und auch der VW-Bus des Jugendamtes steuerte in die Straße, in der sich gerade die Gemüsefrau aufhielt.
Es kam, wie es kommen mußte, genau vor dem Haus der Birnbaumer-Nüsselschweifs trafen die Gemüsefrau und der kleine Trupp um Günther aufeinander.

Viele Kilometer entfernt rief die Dicke nach ihrem Mann, der immer noch durch das Loch in der Wand lugte und ganz enttäuscht war, daß die Mädchen keine Anstalten machten, sich ihm nackt zu zeigen.
Schnell verstopfte er das Loch, hängte ein Bild darüber und huschte auf den Gang hinaus. “Liebling, ich suche noch nach der richtigen Bibelstelle”, rief er und ging die Treppe hinunter.

”Ich bin froh, daß wir hierher gefahren sind”, sagte die Dicke zu ihrem Mann, “Hier geht uns wenigstens keiner auf den Sack. Wir sind eine Familie und die Familie wird vom Gesetz in besonderer Weise geschützt. Sie steht auch unter dem Schutz Gottes und der Heiland wird seine schützenden Hände über uns halten.” Dabei bekreuzigte sie sich, aber ihr Mann wiegte den Kopf und gab zu bedenken: “Hättest besser die Klappe gehalten, ausgerechnet der Gemüsefrau mußtest Du von diesem Haus hier erzählen. Weißt Du, wie oft es mich schon gejuckt hat, mal einigen Kollegen davon zu erzählen? Immer habe ich das Maul gehalten.”

”Ja ja, Du bist ja auch ein Idiot, Du hättest Dich bestimmt verplappert. Ist schon besser daß Du nichts gesagt hast. Ich hingegen kann sehr wohl unterscheiden, wem ich was sage und wem nicht. Die Gemüsefrau, die wird kein einziges Sterbenswörtchen sagen, das garantiere ich!”

”Die Birnbaumer-Nüsselschweifs sind nicht da!” krähte die Gemüsefrau quer über die Straße, als sie sah, daß Frau Ströttinger an dem Haus klingelte. “Die sind weggefahren. Hab ich von der Frau Müller gehört. Mit Sack und Pack und den Mädchen. Wenn Sie mich fragen, dann sind die in ihr Wochenendhaus gefahren, das ist im Lindenweg 6 oben im Wald, draußen in Möhringshausen.”

Herr Sack und Frau Ströttinger schauten sich an und tuschelten dann kurz miteinander. Dann nickte Frau Ströttinger, wandte sich an Günther und sagte: “Da kann man jetzt nix machen, Herr Salzner, das ist ja schon ein anderes Bundesland. Da sind uns die Hände gebunden.”
Herr Gräbert konnte nicht glauben, daß seine Mitstreiter jetzt aufgeben wollten und drehte sich zu Günther um, gerade noch rechtzeitig um ihn aufzufangen, denn Günther sank mit glasigen, starren Augen zu Boden.

”Ach du Scheiße, ich glaub’ der stirbt uns!” rief er.

Am späteren Nachmittag schauten gleich mehrere Leute verdutzt aus der Wäsche.

Zunächst war da der fromme Herr Birnbaumer, der mit seiner speckigen Bibel unter dem Arm in das im Obergeschoß seines Wochenendhauses liegende Gästezimmer ging und Ute und Monika zur Lesestunde herunterholen wollte. Doch er fand das Zimmer leer vor, die Mädchen waren weg.
Und dann schaute Günther ziemlich erstaunt, als er im St. Agnes-Krankenhaus auf der Intensivstation wieder zu sich kam und sich an piepsende und blinkende Geräte angeschlossen sah.
Ebenfalls dumm schaute zur gleichen Zeit Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, als die Gemüsefrau auf ihrem Handy anrief und ihr brühwarm erzählte, die “Griminolbolizei wär’ an ihrem Haus gewese’ und da wär’ ä Mann gestorbe’, direkt vor der Tür, einfach tot umgefalle”.
Auch Frau Ströttinger guckte ziemlich belämmert, als Dr. Koslowski sie in ihrem Büro im Jugendamt anrief und ihr mitteilte, daß man sehr wohl tätig werden könne, er habe sich nach dem Bericht seines Kollegen Gräbert nämlich erkundigt und maßgebend sei nicht der Aufenthaltsort, sondern der Ort an dem die Mädchen gemeldet seien. Man könne sich nun der Hilfe der zuständigen Polizei versichern und die Kinder des Herrn Salzner selbstverständlich in Möhringshausen abholen.

Frau Ströttingers Kollege Sack verzog den Mund und brummte: “Hab’ ich doch gleich gesagt.”

”Was du auch immer alles weißt. Mir ist es lieber, wir schauen immer erst nach der Rechtslage, bevor wir was Falsches machen und ein Verwaltungsakt hinterher ungültig ist oder angefochten werden kann”, rechtfertigte sich die Frau vom Jugendamt.

”Auch egal, ich wollte ja nicht meckern, aber was machen wir jetzt? Fahren wir nochmal los und holen die Mädchen?”

”Du bist gut. Wo sollen die denn hin? Der Vater liegt im Krankenhaus. Wenn wir sie jetzt abholen, müßten wir sie ins Heim bringen und gerade das soll ja nicht sein. Genau deswegen sind sie ja beim Ehepaar Birnbaumer-Nüsselschweif.”

”Und jetzt?”

”Ach, weißt du was? Wir telefonieren nochmal mit dem Wohlfahrtsverband. Die beiden Typen scheinen den Salzner ja zu kennen und zu mögen, vielleicht fällt denen was ein.”

Im Krankenhaus schaute ein grün gekleideter Pfleger nach Günther. “Sie haben aber nochmal richtig Glück gehabt. Haarscharf am Infarkt vorbeigeschrammt.”

”Kein Infarkt?” keuchte Günther, dem das Sprechen schwer fiel.

”Nein, aber eine schwere Herzattacke. Damit ist nicht zu spaßen.”

”Ich muß aber meine Töchter abholen.”

”Sie müssen jetzt gar nichts, Sie müssen nur hier im Bett liegen und brav machen, was wir Ihnen sagen, sonst kippen Sie uns doch noch mit einem Infarkt direkt in den Sarg, und das wollen wir doch alle nicht, oder?”

”Und wie lange muß ich hier bleiben?”

”Das entscheidet der Oberarzt. Dr. Pflaumrieder kommt nachher noch zu Ihnen, vielleicht können Sie heute am späten Abend schon auf Station, aber jetzt bleiben Sie erst einmal hier. Immer mit der Ruhe.”

Günther wollte noch etwas sagen, aber dazu fehlte ihm die Kraft, kurz darauf sank er wieder in einen traumlosen Schlaf.

Monika und Ute hatten alle ihre Sachen in dem düsteren Eulenzimmer gelassen und nur ihre Anoraks mitgenommen. Sie waren einfach auf den Balkon gegangen, dann über die Brüstung geklettert und von dem Sims daneben konnte man bequem auf den Anbau springen und von dort auf einen Stapel mit Brennholz, schon war man am Boden.
Da sich die Mädchen in der Gegend nicht auskannten und es schon anfing zu dämmern, beeilten sie sich, auf den Weg zu gelangen, über den sie mit dem Auto gekommen waren.

Monika hielt Utes Hand, zog sie mit sich und sagte:
”Da habe ich eine Kreuzung gesehen, wo es so grüne Wanderpfeile gibt. Wir müssen rennen, denn die Fette und der olle Bibelheini kommen ganz bestimmt mit dem Auto hinterher. Wenn wir da am grünen Pfeil aber in den Wanderweg abbiegen, dann können die nicht mit dem Auto hinterher und wir müssen nur den Pfeilen folgen. Du weißt doch was Papa uns gesagt hat, solche Pfeile führen immer irgendwie auf einen Rundweg und man kommt ganz bestimmt sicher irgendwo an. Dann steigen wir einfach in einen Bus und fahren nach Hause.”

”Hoffentlich wird es nicht vorher dunkel”, jammerte Ute.

Doch es wurde dunkel und zwar schneller als die Mädchen es gedacht hatten. Da waren sie aber schon auf den Wanderweg abgebogen und fühlten sich sicher, daß weder die Birnbaumer-Nüsselschweif, noch ihr bigotter Mann ihnen folgen konnten.

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif tobte und schrie ihren Mann an: “Mein ganzes Lebenswerk zerstörst Du! Was habe ich mich all die Jahre im Mütterkreis krumm gelegt und was habe ich nicht alles über mich ergehen lassen müssen, um diese beiden Mädchen zu kriegen. Endlich haben die vom Amt erkannt, daß ich eine perfekte Mutter bin, die so viel Liebe in sich hat, und dann paßt Du nicht richtig auf die kleinen Muschen auf. Wir hätten sie in den Keller sperren sollen. Kinder sind aufsässig, Kinder sind wie ungehobelte Edelsteine, die muß man schmieden, so lange das Wachs weich ist! Du hast alles versaut, Du dummer Erpel!”

Herr Birnbaumer knallte die schweinslederne Bibel auf den Tisch, was fast wie ein Schuß klang und brüllte zurück: “Dann setz’ Dich doch in Bewegung und fang sie wieder ein!”

”Ich? Du glaubst ja wohl kaum, daß ich jetzt in die Dunkelheit renne und die Muschen auch noch suche!”

”Dann fahre ich eben los und suche die. Weit können die ja noch nicht sein, es sind wenigstens 20 Minuten zu Fuß bis in die Ortschaft, wenn sie die Straße nehmen.”

”Du? Du bist doch zu blöd, um die zu bewachen, da wirst Du kaum der Richtige sein, um die im dunklen Wald zu finden. Die hören und sehen Dein Auto doch schon von weitem und wenn sie sich dann hinter einen Baumstamm ducken, fährst Du Kübelkopf doch garantiert dran vorbei.”

”Dann fahr doch selbst!”

”Ja meinst Du, die ducken sich bei mir nicht?”

”Und was machen wir jetzt?”

”Gar nichts! Die kommen nicht weit. Draußen ist es inzwischen dunkel, es wird nachts schon empfindlich kalt, da können wir sie morgen hungrig und zitternd aus dem Wald auflesen, wie zwei nasse Wildschweinferkel.”

”Streiflinge heißen die!”

”Wer?”

”Wildscheinferkel nennt man in der Jägersprache Streiflinge.”

”Hab ich Dir eigentlich schon mal gesagt, daß Du ein Doofmann bist? Das weiß doch jeder, daß man die Frühlinge nennt! Der Keiler und die Bache haben Frühlinge”, sagte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und hatte sich dabei in voller, bedrohlicher Größe und Breite vor ihrem Mann aufgebaut, der unwillkürlich einen Schritt zurück wich.
”Du hast Recht, Luitgard, Du bist ja so klug”, sagte er mit weinerlichem Ton und zog den Kopf zwischen seine Schultern.

Zufrieden lächelnd tätschelte die dicke Frau ihrem Mann den Kopf. “Los, hol Holz rein und mach Feuer! Und morgen früh gehen wir um fünf Uhr los und suchen die Muschen.”

Kurz bevor es völlig dunkel geworden war, hatten die Mädchen erkennen müssen, daß es aussichtslos war, noch an diesem Abend die Ortschaft zu erreichen. Vom Wanderweg aus sahen sie zwar die Lichter der Häuser, aber die lagen weit entfernt unter ihnen und der Weg führte nur noch weiter nach oben.

”Zurück können wir nicht gehen”, sagte Monika, “Wir müssen weiter, irgendwann geht der auch wieder runter der Weg. Aber jetzt müssen wir uns hier verstecken.”

”Ich habe Angst”, jammerte Ute.

Obwohl Monika mit ihren fast elf Jahren nur ein Jahr älter war als Ute, war sie körperlich weiter entwickelt, ein ganzes Stück größer und hatte automatisch die Rolle der Anführerin und Beschützerin für ihre kleinere Schwester übernommen.

”Du brauchst keine Angst zu haben, Ute. Die kriegen uns nicht!”

”Davor habe ich auch keine Angst, wenigstens mal jetzt nicht wo es dunkel wird, aber wenn’s dann ganz dunkel ist… Du weißt doch, daß ich Angst im Dunkeln hab’.”

”Brauchste nicht zu haben, wir sind doch beisammen. Komm, da vorne ist ein Holzstapel mit so’ner grünen Plane drüber, da bauen wir uns ein Zelt!”

Eine halbe Stunde später war es völlig dunkel geworden und in der ungewöhnlichen Umgebung des Waldes klang selbst das Knarren eines Baumes, der sich in seiner Rinde dehnte, wie von einem gräßlichen Monster. Auch Monika hatte Angst, zeigte das Ute aber nicht.
Die Mädchen hatten die grüne Gewebeplane, die Waldarbeiter über ein paar Raummeter Holz gebreitet hatten, auseinandergezogen und vom Holzstapel bis zu einem Baum gespannt. Das gab ihnen wenigstens einen notdürftigen Schutz.

”Du, Monika?”

”Ja, Ute?”

”Ich kann gar nicht verstehen, daß wir zu der Dicken mal Mama und zu ihrem Mann Papa gesagt haben.”

”Ich auch nicht.”

”Am Anfang war ich sogar froh, daß wir bei denen waren. Ist das schlimm?”

”Nee, ich war auch ein bißchen froh. Besser als im Heim.”

”Ist unsere Mama jetzt im Himmel?”

”Ja, Ute.”

”Ich will die Mama und den Papa wieder haben. Die richtigen, meine ich.”

”Ich auch. Ich will, daß alles wieder so wird wie früher.”

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Am nächsten Morgen erwachte Günther in einem Dreibettzimmer auf einer ganz normalen Station des St. Agnes-Krankenhauses.

”Auch schon wach?” krähte ein etwa 40jähriger lockenhaariger Mann vom anderen Ende des Zimmers und zog sich an der über ihm baumelnden Plastiktriangel in seinem Bett hoch. “Was haste denn Kollege? Auch die Pumpe?”

Günther schaute sich um und versuchte sich über seine Lage klar zu werden. Nur allmählich baute sich das an den Vortagen Geschehene wieder in seinem Hirn zusammen. Man hatte ihm etwas zur Beruhigung gegeben, damit er zur Ruhe kommen und von der Aufregung etwas los lassen konnte.
Er sah, daß das dritte Bett im Zimmer leer und mit dünner Folie überzogen war und außer ihm und dem Lockenkopf war niemand da.

”Auch bißchen was?” fragte der andere und holte eine Bierflasche aus dem Nachtschränkchen neben seinem Bett.

”Nee, laß mal, ist noch zu früh”, murmelte Günther und entdeckte auf dem Nachtschränkchen neben sich ein Tablett mit einer grauen Plastikhaube. Ihm knurrte gewaltig der Magen und das Knurren wurde noch lauter, als Günther sich vorstellte, was unter der Haube verborgen sein könnte.
Etwas enttäuscht nahm er dann zur Kenntnis, daß man ihm zwei Scheiben Brot, eine Scheibe Käse, die sich schon am Rand nach oben bog, und eine Scheibe glibberiger Sülzwurst gegönnt hatte. “Nicht gerade üppig”, sagte er zu sich selbst, begann aber trotzdem mit Appetit zu essen.

Auch den Mädchen im Wald hatte morgens der Magen geknurrt und Monika hatte Ute davon abgehalten rote Beeren von einem Busch zu essen. “Wir wissen nicht, ob man die essen kann, laß uns lieber schnell weitergehen, ich bin froh wenn ich unten in der Ortschaft bin!”
Hand in Hand waren sie los gelaufen.

Nicht ganz so harmonisch verlief der Morgen im Wochenendhaus der Birnbaumer-Nüsselschweifs.

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif hatte sich ein Kopftuch umgebunden und dadurch daß ihr etwas strohiges, dickes Haar nun eng an den Kopf gepreßt wurde, sah sie irgendwie aus, wie eine Birne. Das fand zumindest ihr Mann, der es aber nicht wagte, ihr das zu sagen.
In aller Eile hatten die beiden alles gepackt und auch das zurückgelassene Gepäck der Mädchen in den Kofferraum des Wagens geworfen.
”Wenn wir jetzt losfahren und uns unten im Ort an der Tafel postieren, wo die Wanderwege angeschrieben sind, dann müssen uns die Muschen irgendwo über den Weg laufen”, verkündete sie ihren Mann und trieb ihn an: “Mensch, jetzt mach doch mal hinne!”

”Das Weib sei dem Manne untertan!” rezitierte dieser, zog aber sogleich wieder den Kopf zwischen die Schultern und huschte hinter das Steuer des Wagens.

Ächzend nahm seine dicke Frau neben ihm Platz und dann fuhren sie los.

Doch sie kamen nicht weit. Etwa auf halbem Weg kam ihnen ein blaugrauer Opel entgegen, gefolgt von einem grün-weißen Polizeiwagen.

”Scheiße!” schimpfte die Birnbaumer-Nüsselschweif, die sich ausrechnen konnte, weshalb die beiden Wagen gekommen waren.

”Und was mach ich jetzt? Kannste mir das mal sagen?” jammerte ihr Mann, trat auf die Bremse und schaute seine Frau hilflos an: “Soll ich jetzt Harakiri machen und mich todesmutig mit dem Auto in die Tiefe stürzen?”

”Arschloch, das wäre kein Harakiri sondern Katzkami”, schnaubte die Dicke und stieß die Tür des Wagens auf.

Sofort hatte Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweif das breiteste Lächeln auf dem Gesicht, das man sich vorstellen kann. Mit ausgebreiteten Armen ging sie auf Frau Ströttinger, Herrn Gräbert und Herrn Sack zu, die ebenfalls angehalten hatten und ausgestiegen waren. Auch die zwei uniformierten Polizisten stiegen aus und setzten ihre Mützen auf, als die Dicke den Entgegenkommenden zurief: “Gut, daß sie kommen! Wie gut, wie gut! Die Gemüsefrau hat mich schon angerufen. Sie müssen von der Kriminalpolizei sein, nicht wahr? Ist ja gut, daß wir uns gestern schnell in Sicherheit gebracht haben und mit meinen Pflegetöchtern hierher gefahren sind. Wie ich höre, ist dieser Frauenmörder und Penner ja vor unserem Haus gewesen…”

”Wir sind nicht von der Polizei”, unterbrach Herr Sack die aufgeregt plappernde Dicke. “Von der Polizei sind die beiden Herren da hinten. Wir kommen vom Jugendamt und wollen die beiden Mädchen Ute und Monika Salzner abholen. Sie haben unser diesbezügliches Schreiben erhalten?”
Ohne eine Antwort abzuwarten sprach er weiter: “Wo sind die Mädchen eigentlich?”

Die Birnbaumer-Nüsselschweif war einen Schritt zurückgewichen, als Sack gesagt hatte, daß er die Mädchen abholen will. “Die Mädchen… Ja nun… Das ist so eine Sache… Das war ja jetzt auch alles sehr aufregend für die… Nicht wahr?… Also, das ist jetzt so….”, stammelte die Dicke und nun fragte Herr Gräbert: “Sagen Sie mal, sehe ich das richtig, daß die Mädchen nicht bei Ihnen sind?”

”Nee, jetzt nicht so direkt.”

Frau Ströttinger interpretierte die Sachlage falsch und winkte sofort die beiden Polizeibeamten herbei: “Es besteht dringender Tatverdacht, daß die beiden den Mädchen etwas angetan haben.”

Sie hatte schon zu viel erlebt und zu viel gehört, als daß sie etwas anderes hätte annehmen können. Für die Frau vom Jugendamt war nicht auszuschließen, daß die Birnbaumer-Nüsselschweifs nun, da ihr Familienglück zu scheitern drohte, den Kindern wirklich etwas angetan hatten, nur um niemand anders es zu gönnen, die Mädchen bei sich zu haben.

Die Polizisten, einer groß und breitschultrig, der andere etwas kleiner, älter und gemütlich dreinschauend, kamen näher und schoben sich zwischen die drei anderen und das Ehepaar.
Während der Größere sich darauf beschränkte, böse zu gucken und die Hand auf die Waffe an seinem Gürtel zu legen, rieb sich der kleine Ältere die Hände, weil es recht frisch war und dann beugte er sich etwas vor und forderte: “Nu’ aber raus mit der Sprache! Was ist jetzt mit den Mädchen Jutta und Monika?”

”Ute und Monika!” berichtigte Frau Ströttinger aus dem Hintergrund.

Inzwischen war Herr Birnbaumer-Nüsselschweif mit in vorauseilendem Gehorsam erhobenen Händen aus dem Auto geklettert und hatte die Hände, so wie er es in Krimis gesehen hatte, hinter dem Kopf verschränkt. “Die sind uns weggelaufen!” jammerte er und begann zu weinen.

”Du Weichei, Du Saftwurst!” schimpfte seine Frau.

”Also raus mit der Wahrheit! Wo sind die Kinder!”

”Wir wissen es nicht, die sind uns wirklich gestern Abend weggelaufen”, gab Frau Birnbaumer-Nüsselschweif zu und warf ihrem Mann einen haßerfüllten Blick zu. “Weil der da nicht aufgepaßt hat!”

”Warum mußte Ihr Mann denn aufpassen?” fragte der ältere Beamte, während sein Kollege an die Seite getreten war und versuchte mit seinem Funkgerät eine Verbindung herzustellen, was ihm nicht gelang und weshalb er dann mit entnervter Miene zu seinem Handy griff und telefonierte.

”Ja, aufpassen ist so nicht das richtige Wort”, suchte die Birnbaumerin nach einer glaubhaft klingenden Erklärung. “Das war ja mehr wegen der Aufregung. Wegen dem Theater. Wir haben die beiden Musch… äh, Mädchen ja hier mehr oder weniger in Sicherheit gebracht, vor diesem Frauenmörder und Pennbruder.”

”Sie wußten, daß wir kommen würden und wollten die Mädchen nicht hergeben!” schimpfte Herr Sack vom Jugendamt und zu den Polizisten gewandt fügte er hinzu: “Wer weiß, ob die Mädchen wirklich weggelaufen sind, so wie die beiden herumstammeln. Meine Kollegin hat Recht, da könnte auch was passiert sein.”

”Nee, da is’ nix passiert”, heulte Herr Birnbaumer mit weinerlicher Stimme: “Die sind wirklich weggelaufen, ganz ehrlich, ich schwör’!”

Der jüngere Beamte flüsterte seinem Kollegen etwas zu, der nickte kurz zur Bestätigung und drehte sich dann zu Frau Ströttinger um: “Die Mädchen sind unten in der Ortschaft. Zwei Pilzsucher haben sie vor einer halben Stunde beim Touristenbüro abgeliefert. Die wollen nach Hause zu ihrem Papa.”

Erleichterung machte sich auf den Gesichtern von Gräbert, Sack und Frau Ströttinger breit. Der Polizist fuhr aber zu den Birnbaumer-Nüsselschweifs herum: “Sie Tünnes, nehmen Sie endlich die Hände runter und hören Sie auf zu weinen, das ist ja nicht mit anzusehen. Eine Schande für alle Männer dieser Welt ist das!”

”Sehen Sie, es ist genau so wie ich es gesagt habe”, mischte sich Frau Birnbaumer-Nüsselschweif ein: “Wir haben die Mädchen in Sicherheit gebracht. Ohne uns wären die ja in die Hände von dem Frauenmörder gefallen. Die müssen so eine Angst gehabt haben, daß der auch noch hierher kommt, daß sie sich lieber im Wald versteckt haben. So Mädchen brauchen eine liebende und fürsorgliche Mutter wie mich. Wo kann ich sie abholen?”

”Sie? Sie holen niemanden ab. Die Mädchen gehen jetzt mit den Herrschaften vom Jugendamt mit und Sie beide, sie dürfen freundlicherweise hinten in unserem schönen Auto Platz nehmen”, sagte der Polizist, trat galant an die Seite und machte eine gespielt höfliche Verbeugung. Als Herr Birnbaumer mit immer noch erhobenen Händen zitternd an ihm vorbei ging, zischte der Polizist ihn leise an: “Mann, nimm die Flossen runter!”

Ute und Monika waren dem bigotten Ehepaar Birnbaumer-Nüsselschweif weggelaufen und waren auf ihrer Flucht schließlich Pilzsuchern begegnet, die die beiden Mädchen hinunter in die Ortschaft gebracht hatten. Ein dicker Polizist, dem aufgrund seiner Körperfülle zumeist der Innendienst überlassen wurde, hatte die Kinder mit lauwarmem Kakao versorgt und seinen Kollegen oben im Wald Bescheid gegeben.

Aus Angst vor Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und weil Ute und Monika befürchteten, sie müßten sogleich wieder zu der dicken Ziehmutter zurück, hatten sie es nicht gewagt, zu erzählen, wie Herr Birnbaumer ihnen immer wieder auf die Pelle gerückt war, wie falschfromm die Dicke sie behandelt hatte und auch vom Refugium, dem nächtlichen Wecken zum Gebet und allem anderen erzählten die Mädchen nichts. Kindern würde man sowieso nicht glauben, hatte ihnen Frau Birnbaumer-Nüsselschweif immer eingebleut.

So war es Frau Ströttinger vom Jugendamt, die sich direkt zwischen die fette Matrone und die Mädchen schob, als die ganze Gruppe aus dem Wald ins Polizeirevier kam. Denn sofort hatte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif auf das Fürsorgeprogramm umgeschaltet, ein zuckersüßes Lächeln aufgesetzt und wollte auf die Mädchen losstürmen: “Ach Gottchen, ach Gottchen, meine armen, lieben Kinderlein, was müßt ihr für eine Angst gehabt haben, so allein im Wald. Gell, verirrt habt ihr euch, nicht wahr. Jetzt kommt mal schön wieder im Mamas Arme!”

Auch Herrn Sack war der fast nicht herauszuhörende aber doch vorhandene warnende Unterton bei den Worten ‘Gell, verirrt habt ihr euch’ aufgefallen. Er grinste: “Sie brauchen jetzt gar nicht erst versuchen, die Mädchen schon wieder zu beeinflussen, Frau Nüsselschweif!”

”Birnbaumer-Nüsselschweif!” schnaubte die Dicke: “So viel Zeit muß sein! Ich bin Bundesverdienstkreuzträgerin und Müttervorsitzende! Man hat mich mit Ehrungen überhäuft, ich stehe im Lichte der Öffentlichkeit, seit Jahren kümmere ich mich um die Verlassenen, die Vergessenen, die Hilflosen, alles selbstlos, nur weil ich ein so großes Herz habe…”

”Luitgard, halt doch endlich mal deinen Mund”, knurrte Herr Birnbaumer aus der anderen Ecke des Raume und seine Frau fuhr herum. Ihr Gesicht hatte sich zu einer Fratze verzerrt: “Du Saftwurst, Du Kartoffelwurm, Du Pinselmann!”

”Wenn Sie sich kloppen wollen, dann haben wir hinten einen schönen Raum, wo Sie reingehen können”, grinste der dicke Polizist und hielt die Birnbaumerin am Arm fest.

Doch die schaltete sofort wieder in den Muttermodus und säuselte in Richtung der Mädchen: “Meine Schäflein, seht ihr, ich stelle mich schützend vor Euch! Der böse Papa Birnbaumer wird Euch nichts mehr tun.”

”Was, was, was?… Luitgard! Was redest Du denn da?” keuchte ihr Mann und einer der Beamten hielt auch ihn fest.

”Wieso?” stellte sich die Birnbaumer-Nüsselschweif dumm: “Die Mädchen haben doch Recht, daß sie vor Dir weggelaufen sind. Wer hat denn immer auf ihre Titte geglotzt? Wer hat denn ständig Sabber vor dem Maul gehabt, wenn sie in seiner Nähe waren? Wenn ich sie nicht mit Gottes Hilfe ständig beschützt und mich vor sie gestellt hätte, dann will ich gar nicht wissen, was sonst noch passiert wäre. Herr Hauptkriminalwachtmeister, nehmen sie den da ruhig fest, der ist Schuld an allem!”

Herr Birnbaumer war fassungslos und wollte, trotz seiner, im Vergleich zu seiner Frau, schmächtigen Gestalt, auf sie losgehen, doch der Beamte hatte ihn in eisernem Griff.
”Ach, so ein Früchtchen sind Sie?” sagte der Polizist und faßte den Fassungslosen noch etwas fester.

Frau Ströttinger und Herr Sack vom Jugendamt und Herr Gräbert vom Wohlfahrtsverband sahen sich staunend an. Dann ergriff Frau Ströttinger das Wort: “Wir werden das alles noch ausführlich klären. Ich glaube, das geschieht aber am besten in der Stadt bei der Kriminalpolizei.”

”Wir brauchen noch eine Aussage von Ihnen, irgendwas muß ich ja in den Bericht schreiben”, sagte der beleibte Polizeibeamte und Frau Ströttinger und ihr Kollege Sack begleiteten ihn in den Nebenraum, wo der Dicke mit einem Finger mühsam die abgewetzte Tastatur eines bestimmt 15 Jahre alten PCs zu quälen begann.

Herr Gräbert vom Wohlfahrtsverband nickte den anderen Polizisten zu und nahm dann die beiden Mädchen, die die Szene mit großen Augen verfolgt hatten, mit nach draußen: “Ihr setzt Euch jetzt in unseren Wagen und bleibt da schön sitzen. Wir bringen Euch dann zu Eurem Papa, okay?”
Ute und Monika nickten stumm. Sie konnten nicht glauben, daß der Albtraum jetzt ein Ende haben sollte. Dieser Albtraum, der für sie so vielversprechend begonnen hatte, mit dem Versprechen, eine richtige Familie zu bekommen, mit einer fürsorglichen Mutter, einem braven Vater und gemeinsam mit ihrem Bruder Thomas. Und wie schnell war diese Seifenblase zerplatzt! Wie schnell hatte sich gezeigt, daß es hinter der frömmelnden Fassade des Hauses Birnbaumer-Nüsselschweif nur falsches Gebet und lüsternes Interesse gab!
Endlich würden sie zu ihrem richtigen Papa zurück kommen, der Papa von dem die Birnbaumer ihnen immer erzählt hatte, er sei ein übler Frauenmörder.

Als Frau Birnbaumer-Nüsselschweif in einem Polizeiwagen weggebracht wurde, waren die Mädchen erleichtert.
”Wo ist denn Herr Birnbaumer?” fragte Monika Herrn Gräbert. Der zuckte mit den Schultern: “Keine Ahnung, ich frag’ mal.” Und kurz darauf kam er zum Wagen zurück und sagte den Mädchen: “Die bringen die beiden getrennt weg. Erst die Frau und jetzt holen sie noch einen Wagen für den Mann, die wären sich sonst an die Gurgel gegangen.”

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Staatsanwälte sollten im besten Fall sowohl alle Punkte die gegen einen Verdächtigen sprechen, als auch alle Punkte, die für ihn sprechen, gleichermaßen berücksichtigen. Daß das manchmal nicht so ist, weiß jeder.
Im Falle des Ehepaars Birnbaumer-Nüsselschweif war das auch nicht so. Doch hier hatte der Staatsanwalt keine Vorverurteilung parat und ließ die entlastenden Aspekte außer acht, sondern er stauchte die Beamten, die die Ermittlungen gegen das Ehepaar angestoßen hatten, in übelster Weise zusammen.

Eine Frau von so untadeligem Ruf, ein Mann von so selbstloser Art, beide geachtete Mitglieder der Gesellschaft, sie ausgezeichnet mit staatlichen Würden, beide immer aufopfernd und nachgerade selbstverstümmelnd um das Wohl ihrer Mitmenschen bemüht…
…nein, solchen ehrenwerten Bürgern dürfe “das präpotente Gequatsche pubertierender Mädchen, die sich in Hormonüberfluß Räuberpistolen zusammenphantasieren” nicht zum Nachteil gereichen.
Kein Ermittlungsverfahren, keine Anklage, kein Presserummel.

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und ihr als Saftwurst bezeichneter Mann, konnten froh sein, so glimpflich davon gekommen zu sein.
”Du hättest mich eiskalt hingehängt und mir alles in die Schuhe geschoben”, maulte er, als die beiden das Polizeipräsidium verließen.
”Du bist und bleibst ein Waschlappen”, schnaubte die Dicke, nicht vor Zorn schnaubend, sondern weil ihr das Treppenlaufen zu sehr zu schaffen machte. “Wenn ich nicht auf diesen genialen Schachzug gekommen wäre, hätten die Dich doch sowas von durch die Mangel gedreht, Du hättest am Ende noch blödes Zeug gequatscht!”

”Das mußt Du mir aber mal in einer ruhigen Minuten genauer erklären, Luitgard! Die hätten mich doch gerade wegen Deiner Anschuldigungen durch die Mangel gedreht, wenn nicht ausgerechnet die Frau von Staatsanwalt Dr. Möllsing eine der Hauptgönnerinnen Deines Afrika-Projektes wäre!”

”Ach, halt doch den Mund! Sei lieber froh, daß es so ist und daß man uns in Ruhe läßt. Ich habe mir schließlich wirklich nichts vorzuwerfen. Wie kann es strafbar sein, wenn man sich ob seiner Mutterliebe bis hin zur absoluten Selbstaufgabe quasi entleibt? Und Du? Du kleiner Spritzpinsel? Du hast doch wieder nur mit Deinem Ding gedacht! Männer!”

Etwa zur gleichen Zeit, als sich das eben freigelassene Ehepaar vor dem Präsidium ein Taxi nahm, wurden Ute und Monika in einem anderen Teil des Gebäudes befragt. Gemeinsam mit einer Psychologin und Frau Ströttinger und Herrn Sack saßen sie in einem Zimmer, das vor einigen Jahren als kindgerechtes Vernehmungszimmer eingerichtet worden war. Anhand von “anatomisch korrekten Puppen”, was nichts anderes bedeutet, als daß diese Stoffpuppen Geschlechtsteile und Schambehaarung aus Wolle haben, wurde aufmerksam kontrolliert, in welcher Weise die Mädchen damit umgingen.
Monika langweilte sich dabei und legte die ‘Spielzeuge’ bald schon weg. Ute fand sowieso, daß das Zimmer eingerichtet war, wie das Spielzimmer eines Vorschulkindergartens und fühlte sich ziemlich deplaziert.
”Wann dürfen wir denn zu unserem Papa”, fragte sie und die Erwachsenen schauten sich ratlos an.

”Tja, das ist so eine Sache”, begann Frau Ströttinger, “Euer Papa liegt mit einem Herzanfall im Krankenhaus und darf nicht aufgeregt werden. Wir können Euch kurz mal zu ihm bringen, aber dann…”

”Wir gehen nicht ins Heim!” schrieb Monika auf und rannte zu ihrer Schwester, um sie beschützend in den Arm zu nehmen.

”Nein, nein, davon ist ja auch keine Rede”, versuchte die Frau vom Jugendamt die Mädchen zu beruhigen. “Wir müssen nur irgendeine Lösung finden.”

”Nicht ins Heim!” rief nun auch Ute.

Herr Sack warf seiner Kollegin einen Blick zu, der eine Mischung zwischen vorwurfsvoll und mitleidig war.
Er ging zu den Mädchen hinüber und tat etwas, was Ute und Monika in gewisser Weise gefehlt zu haben schien, er nahm sie einfach beide in den Arm und drückte sie an sich. “Keine Angst, ihr braucht keine Angst zu haben, Euch passiert nichts. Es ist schon zu viel passiert und ich werde Euch beschützen.”
Den Mädchen liefen dicke Tränen über das Gesicht und sie klammerten sich förmlich an den für sie ja an und für sich fremden Mann. Er war in diesem Moment ihre einzige Hoffnung.

”Wir gehen am besten mal raus!” kommandierte Frau Ströttinger spitz und warf ihrem Kollegen einen strengen Blick zu.

Vor der Tür stellte sie ihn zur Rede: “Und nun? Was jetzt? Wie kann man den Mädchen denn irgendwas versprechen? Von allen guten Geistern verlassen, oder was? Die Vorschriften sind doch ganz klipp und klar. Wir haben gar keine andere Wahl, als die Mädchen vorübergehend unterzubringen. Und mit zu uns nach Hause nehmen? Das würde ich mir ganz schnell aus dem Kopf schlagen!”

”Nee, alles gut. Aber statt ins Heim, könnten wir die beiden doch zu den Krabutzkis bringen.”

”Zu den Krabutzkis? Also doch nun wirklich nicht! Was da für Zustände herrschen! Voll die Chaosfamilie, Messies, bei denen es drunter und drüber geht.”

”Ja klar, aber immerhin haben die sechs Pflegekinder durch uns. So schlimm kann es also nicht sein.”

”Aber das ist ja genau der Grund, die haben schon sechs.”

”Und? Die hatten auch mal sieben und ich kenne Frau Krawutzki! Die ist absolut liebenswürdig und die kümmert sich wenigstens um ihre Pfleglinge.”

”Bis wir denen wieder ein Kind abnehmen müssen… Aber okay, vielleicht ist die Idee ja doch nicht so schlecht. Gut, wir sprechen mit Ute und Monika darüber.”

Und genau zu derselben Zeit, als die Birnbaumer-Nüsselschweifs mit dem Taxi zu ihrem Wochenendhaus unterwegs waren, um ihren immer noch dort stehenden Wagen abzuholen; und da Monika und Ute sich an den Händen haltend und mit ängstlichen Blicken in das Haus der Familie Krawutzki gebracht wurden, kam ich wieder ins Spiel.

Ich betrat Günthers Zimmer im Krankenhaus.

”Mensch, Günther, was machst Du denn für Geschichten?” rief ich ihm zum Gruße zu, etwas Blöderes war mir nicht eingefallen. Günther hatte bei uns angerufen und um einen Besuch gebeten, sofort und schnell, wenn’s ginge.

”Ja, da staunste, was? Die Pumpe, der Kreislauf!” rief er, klopfte sich vorsichtig auf die Brust, aber sein Lachen und das Funkeln seiner Augen zeigten, daß es ihm so schlecht, wie ich befürchtet hatte, nicht ging.

Tja, Günther und ich hatten uns über die Zeit, seit dem Tod seiner Frau und der Bestattung seines Mitbewohners Leo näher kennen gelernt. Ich hatte ihn ein paar Mal in der neuen Villa Kunterbunt besucht, ihm ein paar Sachen gebracht, zum Beispiel einen elektrischen Heizlüfter, eine Kaffeemaschine und sonst noch etliches.
Er hatte sich nie etwas schenken lassen wollen und war ein paar Mal bei uns in der Firma gewesen, um das abzuarbeiten. Er schraubte ein bißchen an den Autos, räumte das Lager auf und ging Manni auch sonst ein bißchen zur Hand.
Mir war das immer sehr recht gewesen, gab mir das doch Gelegenheit, ihm anschließend etwas Geld in die Hand drücken zu können. Auch da wehrte er sich, aber ich sagte immer: “Das muß ich machen, sonst krieg ich Ärger mit dem Finanzamt, wegen Schwarzarbeit und so.”

Manchmal hatten wir Stunden zusammen gesessen und gequatscht, aber das ist eine völlig andere Geschichte, die hier nur erklärend einfließen soll und verdeutlichen kann, woher ich die Geschehnisse um Günther so genau kenne.
Um die Wahrheit zu sagen: Er war über viele Jahre, ja fast anderthalb Jahrzehnte, mein bester Freund gewesen und Monika, Ute und Thomas kenne ich ebenso gut.
Es soll dies aber nicht die Geschichte von dem begüterten Bestatter sein, der einen nahezu mittellosen Mann und seine Kinder unterstützt hat, es würde wirken, als wolle ich mich als Wohltäter darstellen.
Das hier, das ist die Geschichte von Günther, dem alles, was ich hier aufgeschrieben habe, wirklich so widerfahren ist.
Manches mit etwas anderer Nuancierung, manches sicher etwas spannender aufbereitet, um schöner erzählt werden zu können, aber alles sehr nahe an der Wirklichkeit orientiert.
Und – Günther hat mir die Geschichte in allen Einzelheiten erst neulich ganz zu Ende erzählt.

Sagte ich schon einmal, daß ich sein moselfränkisches Gestammel hier mühsam zu flüssigen Sätzen zusammenbaue? Ja, das sagte ich schon einmal.

Und nun?
Nun hängen da ein paar an der letzten Klippe. An einer Klippe, die uns seit Juli 2011 (!) quält. Euch und mich!

Aber es muß noch einiges erzählt werden, in der letzten, finalen, endgültigen Abschlußfolge.
Was ist mit den Birnbaumer-Nüsselschweifs danach geschehen?
Wie ist es den Kindern ergangen?
Ist Thomas wieder zu Günther zurückgekommen?
Wurde der Mörder von Günthers Frau irgendwann doch noch gefaßt?

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Einer der größten Vorzüge guter polizeilicher Arbeit ist die Geduld. Manch ein Täter wähnte sich schon jahrzehntelang in Sicherheit und dann standen auf einmal frühmorgens die Beamten vor seiner Tür und klingelten ihn aus dem Schlaf und nahmen ihn fest, noch bevor er richtig begriffen hatte, daß ein gut geölter Polizeiapparat niemals schläft und auch nach langer Zeit noch wirksam zuschlagen kann.

Manchmal aber versickern Fälle im Nichts. Auch nach sorgfältigster Ermittlungsarbeit wird kein Krümel mehr gefunden, die Ermittlungen stocken, es geht einfach nicht weiter.
In einer solchen Sackgasse befanden sich auch die Ermittlungen im Falle der ermordeten Frau von Günther.
Man muß es schon ganz klar so sagen, daß die ermittelnden Beamten sich vorschnell auf Günther als Täter eingeschossen hatten und deshalb vermutlich einige andere, vielleicht viel erfolgversprechendere Ermittlungsansätze, unberücksichtigt gelassen hatten.
Inzwischen waren alle Spuren längst verwischt, der Fall mit einer Niederlage vor Gericht für die Ermittlungsbehörden zu Ende gegangen und irgendwie schien sich niemand mehr für diesen Mord zu interessieren.

Aber ich sagte es ja gerade, die Mühlen der Polizei mahlen gründlich und oft langsam.
Kriminalhauptkommissar Klaus Petermann (man verzeihe mir die künstlerische Freiheit, meinen Lieblingsermittler hier einzupflegen, er steht hier stellvertretend für einen anderen realen Beamten)…
Also, Kriminalhauptkommissar Klaus Petermann, der als Sonderermittler beim Landeskriminalamt sich unter anderem für eben solche, scheinbar längst abgeschlossene und unlösbare Fälle interessierte, hatte die Akte Salzner schon mehrfach in den Händen gehabt und immer wieder beiseite gelegt.
So oft er sie auch durchblätterte, so oft er auch die wenigen Fotos vom Tatort und der Hausdurchsuchung in Günthers alter Villa Kunterbunt betrachtete, es wollte sich einfach nicht der zündende Funke einer Idee einstellen.

Doch man sieht, auch diese Akte war nicht vergessen, auch dieser Fall war längst noch nicht wirklich abgeschlossen. Immerhin gab es da einen Beamten, der die dazugehörende Akte auf dem Schreibtisch liegen hatte.

Günther selbst dachte nicht mehr oft an seine verstorbene Frau.
Die Enttäuschung, sie mit einem anderen Mann erwischt zu haben, überwog. Sicher, er vermißte eine Frau an seiner Seite, eine Mutter für seine Kinder, und er wünschte sich, das alles sei gar nicht passiert. Aber er war auch soweit Realist, daß er sicher wußte, daß er nie wieder mit dieser Frau hätte zusammenleben können. So etwas wie Ehebruch, Seitensprung oder Affäre kam in seiner Software nicht vor. Und eine andere Frau kennenlernen? Nein, das wollte er auch nicht. Immer wieder betonte er, daß er so eine Enttäuschung nicht noch einmal erleben wollte und auf gar keinen Fall eine neue Beziehung eingehen würde. Außerdem habe er sich in seiner Wagenburg, der neuen Villa Kunterbunt, so gut eingelebt und eingerichtet, da sei für eine Frau eigentlich gar kein Platz.

Ute und Monika hingegen dachten oft an ihre Mutter und Günther ließ sie auch gewähren. Ein Fotoalbum mit Bildern aus glücklicheren Tagen, als die Familie noch eine Familie war, hielten die Mädchen in Ehren und wenn sie melancholisch wurden, blätterten Ute und Monika gerne darin.
Günther versuchte alles, um den Mädchen ein so guter Vater zu sein, daß sie zumindest von der Versorgung her eine Mutter nicht vermissen mußten.

Seit gut einem halben Jahr waren Günther und die Mädchen wieder vereint.
Die Pflegefamilie Krawutzki hatte den Mädchen gut getan. Die stämmige, vollbusige Pflegemutter mit dem lauten Organ und der große, kräftige Pflegevater führten ein merkwürdiges Haus mit fünf bis acht teils wechselnden Pflegekindern.
Ordnung war nicht gerade das oberste Gebot in dem Haus, aber gegenseitiger Respekt wurde deutlich eingefordert.
Das Leben bei den Krawutzkis war so bunt und anders, daß Ute und Monika genug damit zu tun hatten, sich dort einzufinden und gegen die zum Teil recht forsch auftretenden anderen Kinder anzukommen. So waren ihnen die 14 Tage, die sie dort verbracht hatten, sehr kurz vorgekommen.

Als Günther aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte Horst ihn abgeholt. „Ich kann Dich doch nicht hängen lassen“, hatte sein Freund gesagt. Am Abend zuvor hatte Horst mit mir telefoniert und sich versichert, daß ich mich ein bißchen um Günther kümmern würde, sonst könnte er nicht guten Gewissens nach Wolfratshausen zu seiner Mutter zurückkehren. „Ich habe noch hin und wieder hier in der Gegend zu tun, aber meine Mutter braucht mich wirklich. Ich wäre sowas von beruhigt, wenn ich wüßte, daß Sie ein Auge auf Günther haben.“

Das versprach ich ihm gerne, zumal ich die beiden Mädchen in mein Herz geschlossen hatte und meine Tochter sich mit ihnen angefreundet hatte.
Günther kam von da an regelmäßig zu Besuch und vor allem bei schönem Wetter machte ich immer gerne einen Umweg, um bei ihm im Garten zwischen den bunten Bauwagen und Waggons eine Stunde zu verbringen.
Auch wenn ich immer Schwierigkeiten hatte, aus dem rätselhaften Gerede die Essenz herauszuziehen, habe ich, das muß ich rückblickend sagen, unglaublich viel von diesem Mann gelernt.
Ich habe gelernt, daß man mit wenig zufrieden sein kann. Ich habe von Günther gelernt, wie man Autos repariert, Funkgeräte repariert und wie man angelt, mit dem Bogen schießt und wie man mit Menschen umgeht.
Seine einfache, geradlinige und ungekünstelte Denkweise hat mir immer imponiert.
Wie oft war ich bei ihm und habe ihm von irgendwelchem Ärger mit Kunden, Angestellten, Frau oder Kindern erzählt! Und was machen die so genannten besten Freunde dann für gewöhnlich? Sie blasen ins selbe Horn, bestätigen einen nur im Ärger, reden einem das Wort und verstärken im Grunde genommen nur noch das Problem.
Günther war da anders. Er gab niemals Gefälligkeitsgutachten ab, er hat mir oft genug den Kopf zurecht gerückt und mit gezeigt, wo ich Fehler gemacht habe und daß mein Ärger eigentlich durch mich verursacht worden war.
Das wollte ich meist gar nicht gerne hören, aber wo er Recht hatte, hatte er eben Recht.

Thomas blieb im Heim. Günther hatte längst eingesehen, daß sein Sohn dort am besten aufgehoben war. Ein-, zweimal hatte er ihn versuchsweise am Wochenende abgeholt, aber das hatte jedesmal in einer mittleren Katastrophe geendet. Thomas kam mit abrupten Veränderungen nicht zurecht und trotz der großen Freude, wenn er Vater und Geschwister sah, begann er sich schon zu sträuben und zu wehren, wenn er aus dem Auto aussteigen und das Gartengrundstück betreten sollte. Das war nicht seine Villa Kunterbunt, das war ein anderes Gelände, das waren andere Räumlichkeiten, das war ihm fremd und unvertraut.
So kam es, daß Günther schweren Herzens von diesen Wochenenden absah und es dabei bewenden ließ, Thomas zweimal im Monat zu besuchen.

Das Ehepaar Birnbaumer-Nüsselschweif war nach der Einstellung der polizeilichen Ermittlungen zunächst zum Wochenendhaus im Wald zurückgekehrt und dort auch einige Tage geblieben.

„Wir haben uns nichts vorzuwerfen, Du Heini!“ schimpfte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und schlug die Tür zu jenem Zimmer zu, aus dem Herr Birnbaumer durch ein Loch in der Wand die beiden Mädchen beobachtet hatte.
„Verfluchte Muschen!“ schimpfte er vor sich hin, als er das Loch sorgfältig mit Kitt verschloß und mit einem Tapetenrest, den er hinter einer Kommode losgelöst hatte, so verklebte, daß man selbst bei sorgfältiger Suche von keiner Seite der Wand das Loch hätte entdecken können.
Seine dicke Frau war sich keiner Schuld bewußt und betonte in jedem zweiten Satz, daß sie als perfekte Mutter nur ihr großes Herz geöffnet und zwei „arme Sünderkinder“ mit mütterlicher Liebe übergossen habe. „Daraus kann man mir ja nun wirklich keinen Vorwurf machen.“

Er hingegen hatte weniger väterliche Gefühle entwickelt, als vielmehr ein Interesse an der aufknospenden Weiblichkeit der Mädchen gezeigt. Die kleine Kamera im Zimmer der Mädchen, das Refugium im Keller, diverse Fotos und die vielen Spiegel, die Löcher in Wänden, Türen und Regalen verursachten ihm ein schlechtes Gewissen. Herr Birnbaumer hatte Angst. Er hatte Angst davor, die Polizei könne doch noch die beiden Häuser durchsuchen und aus diesen Dingen unangenehme Schlüsse ziehen.
Deshalb wollte er dafür sorgen, daß so schnell wie möglich alle Hinweise auf seinen Voyeurismus beseitigt wurden.

Gerade war er mit dem Zukleistern des Lochs fertig und wollte hinunter in das Wohnzimmer des Wochenendhauses gehen, da sah er von der Treppe aus, wie seine Frau im Wohnzimmer mit einer Kleiderbürste in der Hand auf und ab lief und vor sich hin redete. Dabei hielt sie sich die Kleiderbürste wie ein Mikrofon vor den Mund und sprach hinein.

„Was machst Du denn da, Luitgard?“ fragte der verdutzte Mann.

„Ich? Ich übe meinen Auftritt!“

„Was denn für einen Auftritt?“

„Ich habe soeben 30 Mails an alle möglichen Sender und Zeitungen vorbereitet, muß ich nur noch abschicken. Ich bewerbe mich jetzt für alle Talkshows und für Interviews, denn das Schicksal dieser armen Mädchen, die jetzt wieder bei diesem Verbrecher und Penner leben müssen, das muß der Welt erzählt werden.“

„Kann es sein, daß Du nur wieder die Öffentlichkeit suchst und Aufmerksamkeit haben willst?“

„Dummes Zeug! Ich mache das selbstlos. Außer den Reisekosten und der Übernachtung will ich nichts für meine Auftritte, das habe ich den Sendern auch geschrieben.“

„Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist, jetzt an die Öffentlichkeit zu gehen. Du weißt doch…“

„Ach, sei ruhig, Du Entenschnabel. Immer nur Quack, Quack aus Deinem Mund. Ich weiß, was ich tue. – Stell Dir vor, ich könnte das dunkelblaue Kleid anziehen und an den Kragen mache ich mein Bundesverdienstkreuz. Was das für ein Bild gibt. Ach, ich kann es kaum erwarten. Es gibt so viele Mütter da draußen, die mich genau verstehen werden.“

„Weißt Du, Luitgard, je öfters Du das Wort Mutter in letzter Zeit in den Mund nimmst, umso seltsamer klingt das für mich.“

Die Dicke fuhr herum, warf die Kleiderbürste auf das Sofa und sprang ihrem Mann auf der Treppe entgegen: „So? Merkwürdig klingt das für Dich? Und was soll ich denn sagen? Hä? Du als Vater bist ja wohl auch voll die Niete! Wer hat denn immer einen erigierten Pürzel in der Hose, wenn eine der Muschen nur an ihm vorbei läuft? Mich, mich treiben wahre Muttergefühle um, Du hast den Muschen doch nur auf die Titten geglotzt.“

„Als Vater muß man sich auch um solche Sachen kümmern?“

„Was? Ich hör wohl nicht recht!“

„Ja, man muß gucken, wie sich die Mädchen entwickeln, um einen Überblick zu haben. Sonst kann man sie nicht richtig beschützen vor den lüsternen Kerlen da draußen.“

Die Dicke hielt inne, stutzte, schien angestrengt zu überlegen, dann leckte sie sich die Lippen, lächelte und tätschelte ihrem Mann über den Kopf, so wie man es mit einem zurückgebliebenen Dorftrottel tut, der einem im Hochsommer eine frohe Weihnacht gewünscht hat. „Ja, da hast Du Recht.“

„Sie mal, Luitgard, ich muß nur jetzt alles wegmachen, sonst könnten die vom Satan beeinflußten bösen Menschen da draußen das in den falschen Hals bekommen.“

„Ja, mach mal! Und vergiß die Fotos auf dem Laptop nicht, die Du gemacht hast!“

„Ja, ich lösche die sofort. Ist ja sowieso nichts Schlimmes drauf.“

„Aber lösche meine Mails an die Sender und Zeitungen nicht, drei muß ich noch abschicken!“

„Ich passe auf, Mauseschnäutzchen, Du weiß doch, daß ich mich auskenne.“

So setzte sich der Mann an den Rechner, öffnete den Ordner mit den rund zwei Dutzend Fotos, die er heimlich von den halbbekleideten und nackten Mädchen gemacht hatte, immer nur vom Hals abwärts, sodaß man ihre Gesichter nicht sehen konnte, und markierte alle Dateien. Rechtsklick und dann auf „Löschen“…

„Hast Du alles gelöscht?“ unterbrach ihn seine Frau, die urplötzlich ganz dicht hinter ihm stand und da sie die Bilder nicht im Detail kannte, wollte er den Ordner schnell wieder schließen. Ein Klick und dabei eben die Maus ein wenig verzogen und statt auf „Löschen“ hatte er auf „Datei(en) senden“ geklickt, klappte den Laptop zu und ohne daß das Ehepaar Birnbaumer es merkte, wurden die Bilder mitsamt Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweifs Interviewangebot an die drei größten Zeitungen in der Region geschickt.

———

Kriminalhauptkommissar Klaus Petermann stand am Kaffeeautomaten und ärgerte sich darüber, daß die braune Brühe, die man dort als Kaffee verkaufte, zur Hälfte neben den Becher lief. Er hatte selbst keine Erklärung dafür, aber es ist ja manchmal so, daß Gedanken im Kopf herumgaloppieren und scheinbar Purzelbäume schlagen. Gar nicht Zusammengehörendes tanzt da manchmal im Unbewußten Samba und feiert Kirchweih.
Auf jeden Fall, zuckte ein Gedanke zwischen den anderen ein winziges bißchen hervor, während er auf die letzten Tropfen Kaffee blickte, die neben den Becher tropften, und dieser Gedanke war für Petermann nicht konkret faßbar. Was war das? Moment, das war doch eben ein Gedankenblitz gewesen, die Lösung zu irgendetwas, was er sich nicht vor sein geistiges Auge rufen konnte.
Vergleichen… Irgendetwas mit einem Vergleich. Mordfall Salzner.
Was hatte er da noch gelesen?

Hoffentlich war der Gedanke nicht ganz weg, bis er wieder im Büro war.

Petermann schnippte sich eine Marlboro aus der zerknitterten Packung und steckte sich die Zigarette gedankenverloren an.
Die Akte Salzner hatte er aufgeschlagen und blätterte in gewisser Weise ziellos darin herum. Er las alle Seiten quer, in der Hoffnung, jenes Gedankenfragment könne wieder mit Energie versorgt und wiederbelebt werden.

Ja! Da stand doch was!

Am Tatort waren Blutspuren vorhanden gewesen, jede Menge Blutspuren. Davon hatte man Proben genommen und sie mit dem Blut der Frau verglichen. Das meiste Blut, und das verwunderte nicht, stammte von der Frau. Aber es hatte weitere Blutspuren gegeben, die niemandem zuzuordnen waren. Petermann schnaubte und grinste. Mit einem leichten Kopfschütteln verfluchte er seine Kollegen, die diese wichtige Spur gar nicht weiter verfolgt hatten. „Klar, die hatten ja den Ehemann, wie hieß der noch? Ach ja, Günther Salzner, den hatten sie auf dem Kieker, und da passen solche Spuren nicht ins Konzept, ist ja klar…“ murmelte er vor sich hin, nippte am Becher mit dem Automatenkaffee, verzog angewidert sein Gesicht und warf den Becher mitsamt Inhalt in den Papierkorb.
„Klaus, du bist ne faule Socke“, schimpfte er mit sich selbst und stand auf. Im Regal stand nämlich seine Kaffeemaschine vom Typ Moccamaster, auf die er schwor. Er war nur zu bequem gewesen, sich damit Kaffee aufzubrühen.

Während der Beamte Wasser vom Waschbecken holte, den Filter aus dem Schrank nahm und Kaffeemehl einfüllte, ging er immer wieder am Schreibtisch vorbei und las weiter in der Akte.
Leise blubbernd schlabberte sich das heiße Wasser über das Kaffeemehl und bald schon lag der Duft von frischem Kaffee in der Luft.
Doch dieser Kaffee würde ungetrunken bleiben…

Blutspuren…

Wo war denn das mit den Blutspuren? Da waren doch noch irgendwo Blutspuren!

Ja sicher, hier, hier in der Akte. Weiter hinten. Bei den Ergebnissen von der Hausdurchsuchung der Villa Kunterbunt.

In Windeseile hatte Petermann sich seine unvermeidbare Lederjacke gegriffen und das Büro verlassen.

Zwanzig Minuten später hielt er einen Plastikbeutel in den Händen. „Aservat 34 Strich 15 A“, murmelte der Kollege in der Aservatenkammer, als er die Nummer in ein Formular eintrug. „Los, hier noch unterschreiben!“

Ein Handtuch befand sich in dem Beutel, ein kleines Gästehandtuch von 40 x 30 Zentimetern Größe. 100 % Baumwolle, gelb mit hellgrünem Mäandermuster und gekettelter Kante.
Ein rostbrauner Fleck von vielleicht 5 Zentimetern Durchmesser, der damals als Blut bezeichnet worden war, sah mittlerweile mehr aus wie Dreck von einem alten rostigen Rohr.
Dieses Handtuch hatten die Beamten seinerzeit in dem Zimmer gefunden, in dem die später verstorbene Frau Salzner von ihrem Mann mit ihrem Liebhaber überrascht worden war.

„Ich muß wissen, wessen Blut das ist“, sagte der Kriminalhauptkommissar, als er den Beutel einer Kollegin bei der KTU übergab.
Die scannte die Nummer ab, nickt nur und legte den Beutel in eine blaue Plastikwanne, die sie zuunterst unter vier andere Wannen gleicher Art schob.

„Nee, nee, Fräulein, nicht erst morgen, sondern gestern!“ kommandierte Petermann grinsend und zog die Wanne wieder hervor und stellte sie direkt vor der Frau wieder ab. „Ich habe da so eine Idee und ich brauche irgendein Ergebnis, bevor diese Idee wieder aus meinem Kopf ist.“

Und diese Idee wurde am Nachmittag des gleichen Tages konkreter, ja sie sollte zur Lösung dieses Falles führen.

—-

Ohne daß das Ehepaar Birnbaumer davon etwas mitbekommen hatte, waren die Bilder von den unbekleideten Mädchen bei drei Zeitungen gelandet.
Dort konnte man sich in einer Redaktion gar keinen Reim darauf machen und hielt das für eine böswillige Attacke von jemandem, der ihnen einen Streich spielen wollte. „Gleich löschen, den Mist!“ hatte der Redakteur befohlen und so kam es, daß die größte Zeitung der Region gar nicht auf die Geschichte aufmerksam wurde.
Die beiden anderen Zeitungen jedoch zählten ein und zwei zusammen und setzten die Mail von Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweif in den richtigen Bezug zu den Fotos.
Reporter Max Zimmerling witterte eine Sensation, doch sein Chefredakteur winkte ihn zurück. „Diese Frau hat viel für die Stadt getan. Es kann sich da nur um ein Mißverständnis handeln, vielleicht will jemand sie bewußt in Mißkredit bringen. Ungeprüft bringen wir da gar nichts und vorverurteilt wird bei uns auch nicht. Recherchieren Sie gründlich!“

Bei der anderen Zeitung nahm sich eine Redakteurin der Geschichte an und griff sofort zum Telefonhörer: „Luitgard, stell Dir vor…“

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif schäumte vor Wut, als sie in den Keller runter rannte, wo ihr Mann die letzten Reste des so genannten Refugiums beseitigte und gerade dabei war, ein neu aufgebautes Regal mit Obstkonserven zu bestücken.

„Du Wirsch, Du elender Trottel, Du Simpel, Rindviech! Weiß Du, was Du gemacht hast?“ brüllte sie und begann, ihren Mann mit Konservendosen zu bewerfen.

„Du – hast – die Bilder – von den Muschen – an die Zeitung – geschickt!“ schrie die Dicke und im Takt ihrer Worte warf sie Konservendosen nach ihrem Mann, der sich, den Kopf mit den Armen schützend, in die Ecke des Kellers kauerte und vor sich hin wimmerte.
Aus einer Platzwunde am Kopf sickerte Blut auf sein Hemd.
Eine Dose rollte direkt vor seine Füße, er ergriff sie und warf sie halbherzig und ohne große Kraft in Richtung seiner Frau. Die wurde von der Dose direkt an der Stirn, sozusagen zwischen den Augen getroffen und sank im selben Moment, die Augen verdrehend, zu Boden.
Nein, man muß es richtig erzählen, so wie es die Gemüsefrau später erzählt hat, die Birnbaumer-Nüsselschweif ist „wie ein mit dem Bolzenschußgerät erlegtes Schwein auf ihren fetten Arsch gekracht“.

Eine knappe Stunde später saßen Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und ihr Mann in der Notaufnahme des Stadtkrankenhauses. Ein Regal mit Konservendosen sei umgefallen und habe sie beide so verletzt, gaben sie an.
Herr Birnbaumer bekam mehrere kleine Pflaster, die die Platzwunde zusammenhielten und seines fetten Frau mußte die breite Nase geschient werden, die er ihr, besser hätte man nicht treffen können, mit dem Dosenwurf gebrochen hatte.
„Warte nur, Bürschchen, bis wir nach Hause kommen“, drohte ihm seine Frau, als sie sich in einem Spiegel im Krankenhaus betrachtete.

Doch zu Hause erwartete die beiden ganz etwas anderes.
———-
Als die Birnbaumer-Nüsselschweifs in ihre Straße einbogen, sahen sie eine Gruppe von Leuten vor ihrem Haus stehen.
”Los fahr weiter!” kommandierte die Dicke, deren Stimme sehr gepresst klang, weil sie durch die Nase keine Luft bekam. Doch ihr Mann verstand nicht, was sie von ihm wollte und hielt den Wagen genau vor der wartenden Gruppe am Straßenrand an. “Esel!” keuchte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, die sofort erkannte, daß es sich bei den Leuten vor ihrem Haus, um eine Abordnung der Kirchengemeinde handelte. Der Rendant, der Kirchenratsvorsitzende und drei Damen aus dem Mütterkreis waren gekommen.
Da eine der Damen einen Blumenstrauß in den Händen hielt, setzte Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweif ihr fröhlichstes Gesicht auf, zumindest das, was man bei einer gebrochenen Nase und mörderischen Kopfschmerzen so noch an fröhlichem Gesicht hinbekommt.

Rasch hatte sie die Tür des Wagen geöffnet und ihre dicken Waden in Richtung Gehsteig gedreht, während ihr Mann, so wie er es immer tat, von hinten etwas schob, und schon stand sie in voller Größe vor den Wartenden.
Die waren sicher gekommen, um ihr persönlich für den großartigen Einsatz zum Wohle der beiden Mädchen zu danken und ihr als Anerkennung diesen Blumenstrauß zu überreichen.

”Kinders! Kein Wort1 Kommt erst mal rein!” kommandierte die Matrone gekünstelt lachend und schloß die Türen auf, winkte die Leute mit etwas zu großen Bewegungen ins Haus und rief: “Ich mach’ schnell Kaffee! Ach, was freu’ ich mich!”

”Äh”, machte der Rendant und der Kirchengemeinderatsälteste hüstelte verlegen.
Erst da merkte Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweif, daß etwas nicht stimmte. Keiner hatte sich gesetzt, alle standen noch im Flur und schließlich war es Frau Ding vom Mütterkreis, die das Wort ergriff: “Luitgard, wir haben von der Sache gehört…”

”Von welcher Sache?” gab sich die Dicke ahnungslos, obwohl sie insgeheim längst gemerkt hatte, daß das Folgende jetzt keine Lobeshymne werden würde.

”Nun”, sagte die andere Frau: “Wegen der Kinder, der Entführung und dem Mißbrauch und so.”

”Mißbrauch!” wetterte die Birnbaumer-Nüsselschweif: “Was fällt Euch denn ein? Hab ihr sie noch alle?”

”Wie dem auch sei”, sagte nun der Kirchenrendant: “Wir haben beschlossen, Ihnen, liebe Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, eine Auszeit zu gönnen. Nach der ganzen Aufregung werden Sie sicherlich viel Ruhe brauchen und da halten wir es für das Beste, wenn ab sofort die liebe Frau Ding den Vorsitz über den Mütterkreis übernimmt.”

”Was? Wie? Mütter? Kreis? Nein!” schrie die Dicke. “Ich bin seit 18 Jahren die Mutter der Gemeinde!”

”Luitgard, Du hast doch noch nicht mal Kinder!” rief Frau Ding vorwurfsvoll. “Ich hingegen habe drei Stück.”

”Also, ihr könnt mich doch nicht aufs Abstellgleis schieben, das geht doch nicht!”

Der Rendant nahm Frau Ding den Blumenstrauß ab, drückte ihn Frau Birnbaumer-Nüsselschweif in die Hand und sagte: “Es ist alles gesagt. Bitte bleiben Sie vorerst fern. Der Mütterkreis wird sich neu organisieren und Sie halten sich aus allem raus! Heute war einer von der Zeitung bei Pastor Kaldenich. Sie können sich beim Pastor bedanken, daß morgen nichts in der Zeitung steht. Seien Sie zufrieden, daß alles so abläuft. Guten Abend!”

Mehr wurde nicht gesprochen, die Abordnung machte geschlossen auf dem Absatz kehrt und verließ das Haus der Birnbaumers.

Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweif stand mit offenem Mund da und als hinter der Gruppe die Tür ins Schloß fiel, warf sie ihnen schwungvoll den Blumenstrauß hinterher, der aber vor die geschlossene Tür flog und sich am Boden in seine Bestandteile auflöste.

”So danken die das einem. Jahrelang aufgeopfert habe ich mich…”

”Ach, Mensch, halt die Klappe Luitgard!” sagte ihr Mann und ging an ihr vorbei nach oben.

—-

Bei Kriminalhauptkommissar Petermann klingelte das Telefon und mit einem verärgerten Knurren hob er müde den Kopf. Immer wieder hatte er die Akte Salzner und vor allem die Tatortfotos studiert.
Er meldete sich und lauschte. Es war die Forensik, die ihm die Ergebnisse der Blutuntersuchung mitteilte.

Eindeutig stimmte das Blut auf dem Handtuch mit der zweiten Blutspur im Haus der Ermordeten überein.
Am Tatort, dem Wohnhaus von Günther und seiner Frau, gab es also einmal Blutspuren von Günthers ermordeter Frau und die Spuren einer dritten Person. Und genau diese Blutspuren gab es auch an dem Handtuch in der Villa Kunterbunt.
”Also muß es doch der Ehemann gewesen sein?” fragte Petermann in den Hörer, aber es war mehr eine rhetorische Frage. Doch die Frau am anderen Ende der Leitung hatte auch darauf sofort eine Antwort parat: “Nein, Herr Kriminalhauptkommissar, das ist ausgeschlossen. Von Herrn Salzner wurden damals Proben genommen, da gibt es keine Übereinstimmung.”

Petermann dankte, legte auf und lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück.

”Kaffee und eine Kippe”, murmelte er, doch dann fiel sein Blick auf den übervollen Aschenbecher und die leere Kanne der Kaffeemaschine und verwarf den Gedanken ans Rauchen und Kaffeetrinken.

Und genau in dieser Sekunde griff das Gedankenfragment Raum. Petermann schnalzte mit der Zunge und rief: “Jawoll, so ist das! Jetzt weiß ich, wie’s war!”

———-
Es gab überhaupt nur einen Menschen, der in der Villa Kunterbunt geblutet haben konnte. Günther hatte dem Bauarbeiter, mit dem er seine Frau im Bett erwischt hatte, ‚ordentlich was auf die Fresse gehauen‘. So stand es wörtlich in Günthers Vernehmungsprotokoll. Und von diesem Bauarbeiter mußte das Blut auf dem Handtuch in der Villa Kunterbunt stammen.
Das war Kommissar Petermann klar geworden.
Und wenn das Blut in der Villa Kunterbunt von diesem Arbeiter stammte, und wenn dann noch das gleiche Blut am Tatort zu finden war, ja dann lag es klar auf der Hand, daß eben dieser Bauarbeiter auch an diesem Tatort gewesen sein mußte.

Kriminalhauptkommissar Petermann war schon zu lange in diesem Beruf, um jetzt in Jubel zu verfallen. Wenn das alles so zusammenpaßte, wie er das glaubte, dann hatte er auch dann nur einen Beweis, daß dieser unbekannte Mann sowohl an dem einen, wie an dem anderen Ort gewesen war. Ob er auch der Täter war – das mußte erst ermittelt werden.

Petermann griff nach dem Hörer und leierte eine Fahndung an. Herausfinden, wer der Mann war, den Aufenthalt ermitteln, vernehmen. Nur so konnte es gehen.

Die Gemüsefrau war die Erste, die feststellte, daß Frau Birnbaumer-Nüsselschweif aus dem öffentlichen Leben verschwunden war.
„Sonst ist die jeden Tag hier hereinstolziert und hat wieder darüber gemeckert, daß die Schlangengurken so kurz und dick sind, dabei hatte sie immer die Zucchinis in der Hand, und jetzt sieht man die Spinatwachtel ja gar nicht mehr. Ob die krank ist? Die soll ja auch die ganzen Ämter niedergelegt haben. Nicht mehr Vorsitzende vom Mütterkreis, aus dem Schwesternhilfswerk ausgeschieden… Na, wenn da mal nicht irgendwas dahinter steckt! Die soll sich ja angeblich operieren lassen, Fettabsaugen oder so. Aber da müssen die viel saugen. Ich hab ja auch gehört, die wär‘ in einer Klappsmühle gewesen. Und vielleicht ist ja was dran, daß die was Unheilbares hat. Der arme Mann, ich sag nur, der arme Mann! Aber daß die nicht mehr bei den Müttern ist, das ist mal nur gut. Ich sag‘ Ihnen jetzt was! Die war nämlich gar keine richtige Mutter. Einmal schwanger gewesen und dann nach der Fehlgeburt durchgeknallt. So, jetzt wissen Sie’s. Aber so’n bißchen Fettabsaugen könnt‘ mir auch nicht schaden. Hoffentlich hat die nix Ansteckendes, wo die doch immer meine Zucchinis angepackt hat. So, wer kommt jetzt? Wer ist jetzt an der Reihe. Das Schnittlauch ist ganz frisch.“

Die Wahrheit ist: Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und ihr Mann hatten an den Fenstern ihres Hauses halbhoch undurchsichtige Folie angebracht, die Rolladen bis dahin herabgelassen und igelten sich ein. Die Dicke traute sich nicht auf die Straße, zu groß wäre die Schmach gewesen, wenn sie jemand auf den Mütterkreis oder das Schwesternhilfswerk angesprochen hätte.
Besonders darunter zu leiden hatte ihr Mann, der nun die Einkäufe und sonstigen Besorgungen zu erledigen hatte. Dazu mußte er aber zu einem Supermarkt in der Nachbarstadt fahren, denn auch er wollte nicht mit eine Schlagzeilenproduzentin wie der Gemüsefrau zusammentreffen.

Und da Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweif es verabscheute, das Haus zu verlassen, nahm sie auch die weiteren Termine im Krankenhaus und beim Arzt nicht wahr und so kam es, daß sie von ihrem Nasenbeinbruch eine knorpelige Verwachsung auf dem Nasenrücken zurückbehielt, der ihr nicht nur in dieser Hinsicht das Aussehen eines Preisboxers verlieh.

Es sollte zwei, drei Jahre dauern, bis Luitgard Rüsselnas wieder auf der Bildfläche erscheinen würde, wie der Phönix aus der Asche. Aber bis dahin zumindest hat sie wahrscheinlich sehr gelitten. Gelernt hat sie aus dem ganzen Theater nichts, das kann ich sagen, aber insgeheim wünsche ich mir, daß sie wenigstens leidend Buße getan hat in dieser Zeit.

Günther und seine Töchter lebten nun nicht, wie manche es sich am Ende einer solch langen Geschichte wünschen würden, bis ans Ende ihrer Tage glücklich und selig, sondern Günther sollte noch viele Probleme mit seinen beiden pubertierenden Töchtern bekommen. Aber, und das erfüllt mich mit Genugtuung, es sollten nur die Probleme sein, die viele Väter mit frühlingsspringenden Töchtern haben. Einmal noch kam ihm das Jugendamt in die Quere. Frau Ströttinger war versetzt worden und ihr Kollege. Herr Sack, hatte nicht genügend ‚Darm im Arsch‘, wie Günther es ausdrückte, um sich bei seiner neuen Vorgesetzten durchzusetzen.
Wieder einmal war das Kindeswohl vorgeschoben worden, um dem biederen Mann zumindest mal anzudrohen, eine anderweitige Unterbringung seiner Töchter ins Auge zu fassen.
Da war ihm aber sein alter Freund Horst zur Hilfe gekommen. Ab und zu, vielleicht nicht mehr als dreimal im Jahr, kam Horst in seine alte Heimat und zu Günther zu Besuch. Als Horst erfuhr, daß das Jugendamt seinem Freund wieder Schwierigkeiten machen wollte, hatte er vorgeschlagen: „Dann werden wir eben schwul, Günni! Weißt Du, die machen Dir hier die Hölle heiß, obwohl kein Kind der Welt es besser haben könnte, als Ute und Monika bei Dir, und jede Asozialenfamilie darf zehn oder zwölf Kinder ins Hartz-IV-Elend hineingebären. Nee, dann sind wir eben ein schwules Paar und Du wirst sehen, kaum wissen die das beim Amt, lassen die Dich in Ruhe. Das ist ne neue heilige Kuh und die werden sie nicht schlachten.“

„Ich will aber nicht schwul sein“, hatte Günther protestiert und Ute, die das zufällig mitbekommen hatte, rief: „Du bist schwul? Ey, klasse!“

Die Zeiten ändern sich.

Aber Günther mußte keine schwule Lebensgemeinschaft begründen, irgendwie hatte sich Sozialarbeiter Sack doch durchgesetzt und, abgesehen von zweimal im Jahr stattfindenden unverbindlichen und folgenlosen Besuchen durch Leute vom Jugendamt, hat man Günther forthin in Ruhe gelassen.

Es war nicht so einfach, die von Kommissar Petermann aufgeriffene Spur zu verfolgen. Zwar wurde rasch klar, daß es sich bei dem Mann, mit dem Günthers Frau intim geworden war, um einen Betonfahrer jener Baustelle handelte, aber mehr, als daß das ein großer rothaariger Mann mit auffälliger Behaarung an Oberkörper und Armen gewesen sein soll, konnte zunächst nicht ermittelt werden. Jedenfalls stand für Petermann fest, daß die beiden Albaner Raban und Sokoll nichts mit der Angelegenheit zu tun gehabt hatten.
Petermann hatte Günther zweimal besucht und sich die Räuberpistole von Günthers und Leos Privatermittlungen nicht ohne Amüsement angehört.

Jedenfalls stand fest, daß es am Tatort und in Günthers Gartenlaube „Villa Kunterbunt“ Blutspuren gab, die weder zu Günther, noch zu dessen Frau gehörten.
Petermann mutmaßte, daß der Rotbehaarte nach dem Rauswurf durch Günther, wobei er „ein paar in die Fresse“ bekommen hatte, zu Günthers Frau in das Wohnhaus gegangen war. Dort muß es zu einem Streit gekommen sein, in dessen Verlauf die Frau zu Tode gekommen ist. So drückte es Petermann Günther gegenüber aus.

Sechs weitere Jahre mußten vergehen, bis dieser Fall endgültig gelöst werden konnte. Bei einer Kneipenschlägerei im weit entfernten Stralsund wurde ein Mann erstochen und bei der routinemäßigen Überprüfung der inzwischen zur Selbstverständlichkeit gewordenen DNA-Tests wurde eine Übereinstimmung mit dem Blut von der Villa Kunterbunt und dem Tatort ermittelt.
Der Tote war ein Skandinavier, rothaarig, behaart und aller Wahrscheinlichkeit der Mörder von Günthers Frau.

Und heute?
Ich fang mal mit der Fetten an.
Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweif ist lange schon wieder da. Im Handharmonika-Verein ist sie Präsidentin und kümmert sich auch sonst wieder um alles und um jeden.
Die Zeit arbeitet für diejenigen, über die es was zu erzählen gäbe.

Monika ist Arzthelferin und lebt ledig in Köln. Ute ist verheiratet und wird im März kommenden Jahres ein Kind bekommen.
Thomas wird Zeit seines Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sein, bedarf aber nicht mehr einer Betreuung rund um die Uhr. Als Mitglied einer „integrativen Wohngemeinschaft“ meistert er sein Leben und scheint glücklich zu sein.

Günther?
Nun, Günther habe ich vor drei Monaten zu Grabe getragen.
Die Feuchtigkeit und der Moder in der alten Villa Kunterbunt hatten seine Knochen und Gelenke schmerzen lassen, wogegen er Rheumamittel nahm, die wiederum hatten seine Nieren angegriffen und am Ende stand die Dialyse.
Es waren die Stunden auf der Dialyseliege, die Günther nutzte, um mir die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen.

„Hab ich’s richtig gemacht?“ fragte er mich, als es ihm schon ganz schlecht ging. Ich habe seine Hand gehalten und genickt. „Klar, keiner hätte das besser machen können als Du!“

„Mann, was hab ich für’ne Scheiße durchmachen müssen.“

Wieder nickte ich, dann drehte Günther seinen Kopf zur Seite, er wollte nicht, daß ich sah wie er weinte.

„Tust Du mich beerdigen?“ fragte er.

„Du, ich mach das ja nicht mehr, aber ich verspreche Dir, daß ich mit dem Bestatter das alles so mache, wie Du es mir damals, als Du mit Deiner Herzgeschichte im Krankenhaus gelegen hast, gesagt hast. Kannste Dich drauf verlassen!“

Ich weiß, es ist nicht erlaubt, aber Ute und Monika und ich haben seine Asche auf dem hinteren Teil des Grundstücks verstreut, wo früher einmal die Villa Kunterbunt gestanden hat.


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 376 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: | Peter Wilhelm 21. November 2013

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20 Kommentare
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Uta
10 Jahre zuvor

lieber peter,
ich lese schon seit jahren hier ziemlich still mit und kommentiere auch so gut wie nie… aber das ebenso traurige wie auch schöne ende von günther erweckt in mir das dringende bedürfnis, dir mal meine bewunderung für deinen herrlichen schreibstil zu bekunden und für die vielen wunderbaren geschichten und natürlich generell das wunderbare bestatterweblog zu danken!
mach bitte bis ans ende aller zeiten so weiter ;)!

hajo
10 Jahre zuvor

.. und das Ganze noch dazu an einem Stück!
Lieber Peter, jetzt darfst Du auch in Urlaub gehen
.. aber nicht zu lange und nutze diese Zeit für neue Geschichten!

waaahsabi
10 Jahre zuvor

*Applaus*. Und nun bitte: Fernsehfilm. Oder noch besser: 2 Seasons „The Killing“ mit genau dieser Story.

Nanny Ogg
10 Jahre zuvor

Ich bin noch etwas fassungslos. Günter ist fertigerzählt. Vielen Dank dafür!

So sehr ich neue Geschichten zu schätzen weiß – könnten wir nicht doch erst mal die Fee..? *dackelblickaufsetz* Du darfst auch gern erst mal in Urlaub, so dass es dann eine Weihnachtsfee werden kann.

10 Jahre zuvor

Lieber Tom, Peter,

vielen, vielen Dank!

LG
Die NähMa!

lmb
10 Jahre zuvor

Danke für die gesamte Zusammenfassung. Im Word ergibt der Text in Schriftgrösse 12 und New Times Roman ganze 110 Seiten!

Ich habe die gesamte Geschichte mitgefiebert und Danke für das Teilen dieses bewegenden Schicksals. Aus dieser Geschichte könntest du bereits ein halbes Buch füllen.

10 Jahre zuvor

Wenn es nicht wahr wäre, dann wäre es eine schöne Geschichte, obwohl der Inhalt alles Andere, als schön ist. Die Geschichte ist schön geschrieben, fesselnd.

Mars
10 Jahre zuvor

Danke für die tolle Geschichte, der Schreibstil führt echt dazu, dass man gar nicht anders kann, als mitzufiebern.

Samira
10 Jahre zuvor

Einfach nur ein ganz großes DANKE!!!!!!

Rumpel
10 Jahre zuvor

107 Seiten mit dem PDF-Creator! Danke, Danke, Danke!

Sanjaco
10 Jahre zuvor

Endlich! Danke.

turtle of doom
10 Jahre zuvor

Woa. Die letzten ca. 12 Folgen habe ich noch gar nicht gelesen. Vielleicht wollte ich mir die Klippenhängerei nicht antun.

Ich werde mir eine ernsthafte Portion Kaffee brauen, die Denkfalten auf der Stirne bedächtig runzeln, und die ganze Geschichte in einem Zug lesen.

Puh.

Désirée
10 Jahre zuvor

Jetzt kann er endlich bei seiner Frau sein. Günther hat es mehr als nur verdient, dass er jetzt in Ruhe schlafen kann und sich keine Sorgen mehr machen braucht.

Es ist vielleicht kein 100 %iges, doch es ist ein kleines Happy End.

Danke für das Aufzeichnen dieser sehr bewegten Geschichte.

10 Jahre zuvor

Habe mir nun Geschichte komplett durchgelesen.
Echt hart was der Günther durchmachen musste. Ich denke die Meisten wären daran zerbrochen.
Danke das du seine Geschichte mit uns geteilt hast.
Ich war echt berührt.

sprinterfreund
10 Jahre zuvor

Danke lieber Tom!!

*grübel* aber wofür habe ich mir dann die Mühe gemacht, in den letzten Wochen jedes einzelne Kapitel einzeln in ein (gemeinsames) Word-Dokument zu kopieren?? tatsächlich über 100 Seiten.. (nur für den Eigengebrauch!!! keine Sorge).

ich muss mal überlegen, was länger her ist, dass ich deinen Blog lese, oder dass meine Schwägerin Bestatterin ist.

Klarer Sieg für Tom!!

..das liegt aber eher daran, dass die junge Frau erst seit August tatsächlich meine Schwägerin und tatsächlich fertig ausgelernt hat 😉

Oliver
10 Jahre zuvor

Das ist der erste Kommentar in meinem ganzen Leben und in dem möchte ich nur Danke sagen für diese Geschichte, die ich in einem Rutsch lesen musste so spannend war sie.
Manchmal schreibt das Leben nach so vielen Schicksalsschlägen doch ein Happy End für Günther, dem ich meine volle Bewunderung ausspreche dafür das er trotz der Rückschläge nicht aufgab. Möge er in Frieden ruhen.

Chrischane
10 Jahre zuvor

Danke.
Einfach nur Danke.

Adriana
10 Jahre zuvor

Danke für all diese Zeilen! Ich habe Stunden um Stunden gelesen und wieder gelesen. Mitgefiebert, gebangt, gehofft und am Ende geweint. Mich aufgeregt und nachgedacht. DANKE für alles!

Tine
9 Jahre zuvor

Lieber Peter,

wie viele habe ich gern deine Geschichten gelesen und lese sie immer noch sehr sehr gerne. Nach langer Abstinenz hole ich die letzten Monate nach und freue mich unglaublich das Ende dieser Geschichte endlich lesen zu können. Eine Geschichte, die das Leben schrieb und keine überdrehten Privatsenderautoren für das Hartz IV – TV…
Ich bin auch eine der vielen stillen Leser, aber diese Geschichte, mit all ihren Irrungen und Wirrungen hat mich zu sehr berührt. Es erschreckt mich immer wieder, wie manche Behörden arbeiten und hoffe darauf, dass die Mehrheit Bewohner aus B.dorf sind 😉

Vielen Dank,
Tine

Sebastian
7 Jahre zuvor

Ich hatte vor ca. 2 Jahren, als ich anfing, das Weblog von Seite 1 an zu lesen, die ersten Teile der Geschichte gelesen. Der Rest ist dann in Vergessenheit geraten, gerade auch weil die komplette Geschichte an sich nicht zu finden war – vermutlich eigene Blödheit.

Heute habe ich sie mir in ganzer Länge zu Gemüte geführt. Und finde den Gedanken tröstlich, das Günther letztlich wohl als halbwegs zufriedener Mensch gestorben ist.




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