Geschichten

Günther XL

Am nächsten Morgen erwachte Günther in einem Dreibettzimmer auf einer ganz normalen Station des St. Agnes-Krankenhauses.

„Auch schon wach?“ krähte ein etwa 40jähriger lockenhaariger Mann vom anderen Ende des Zimmers und zog sich an der über ihm baumelnden Plastiktriangel in seinem Bett hoch. „Was haste denn Kollege? Auch die Pumpe?“

Günther schaute sich um und versuchte sich über seine Lage klar zu werden. Nur allmählich baute sich das an den Vortagen Geschehene wieder in seinem Hirn zusammen. Man hatte ihm etwas zur Beruhigung gegeben, damit er zur Ruhe kommen und von der Aufregung etwas los lassen konnte.
Er sah, daß das dritte Bett im Zimmer leer und mit dünner Folie überzogen war und außer ihm und dem Lockenkopf war niemand da.

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„Auch bißchen was?“ fragte der andere und holte eine Bierflasche aus dem Nachtschränkchen neben seinem Bett.

„Nee, laß mal, ist noch zu früh“, murmelte Günther und entdeckte auf dem Nachtschränkchen neben sich ein Tablett mit einer grauen Plastikhaube. Ihm knurrte gewaltig der Magen und das Knurren wurde noch lauter, als Günther sich vorstellte, was unter der Haube verborgen sein könnte.
Etwas enttäuscht nahm er dann zur Kenntnis, daß man ihm zwei Scheiben Brot, eine Scheibe Käse, die sich schon am Rand nach oben bog, und eine Scheibe glibberiger Sülzwurst gegönnt hatte. „Nicht gerade üppig“, sagte er zu sich selbst, begann aber trotzdem mit Appetit zu essen.

Auch den Mädchen im Wald hatte morgens der Magen geknurrt und Monika hatte Ute davon abgehalten rote Beeren von einem Busch zu essen. „Wir wissen nicht, ob man die essen kann, laß uns lieber schnell weitergehen, ich bin froh wenn ich unten in der Ortschaft bin!“
Hand in Hand waren sie los gelaufen.

Nicht ganz so harmonisch verlief der Morgen im Wochenendhaus der Birnbaumer-Nüsselschweifs.

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif hatte sich ein Kopftuch umgebunden und dadurch daß ihr etwas strohiges, dickes Haar nun eng an den Kopf gepreßt wurde, sah sie irgendwie aus, wie eine Birne. Das fand zumindest ihr Mann, der es aber nicht wagte, ihr das zu sagen.
In aller Eile hatten die beiden alles gepackt und auch das zurückgelassene Gepäck der Mädchen in den Kofferraum des Wagens geworfen.
„Wenn wir jetzt losfahren und uns unten im Ort an der Tafel postieren, wo die Wanderwege angeschrieben sind, dann müssen uns die Muschen irgendwo über den Weg laufen“, verkündete sie ihren Mann und trieb ihn an: „Mensch, jetzt mach doch mal hinne!“

„Das Weib sei dem Manne untertan!“ rezitierte dieser, zog aber sogleich wieder den Kopf zwischen die Schultern und huschte hinter das Steuer des Wagens.

Ächzend nahm seine dicke Frau neben ihm Platz und dann fuhren sie los.

Doch sie kamen nicht weit. Etwa auf halbem Weg kam ihnen ein blaugrauer Opel entgegen, gefolgt von einem grün-weißen Polizeiwagen.

„Scheiße!“ schimpfte die Birnbaumer-Nüsselschweif, die sich ausrechnen konnte, weshalb die beiden Wagen gekommen waren.

„Und was mach ich jetzt? Kannste mir das mal sagen?“ jammerte ihr Mann, trat auf die Bremse und schaute seine Frau hilflos an: „Soll ich jetzt Harakiri machen und mich todesmutig mit dem Auto in die Tiefe stürzen?“

„Arschloch, das wäre kein Harakiri sondern Katzkami“, schnaubte die Dicke und stieß die Tür des Wagens auf.

Sofort hatte Luitgard Birnbaumer-Nüsselschweif das breiteste Lächeln auf dem Gesicht, das man sich vorstellen kann. Mit ausgebreiteten Armen ging sie auf Frau Ströttinger, Herrn Gräbert und Herrn Sack zu, die ebenfalls angehalten hatten und ausgestiegen waren. Auch die zwei uniformierten Polizisten stiegen aus und setzten ihre Mützen auf, als die Dicke den Entgegenkommenden zurief: „Gut, daß sie kommen! Wie gut, wie gut! Die Gemüsefrau hat mich schon angerufen. Sie müssen von der Kriminalpolizei sein, nicht wahr? Ist ja gut, daß wir uns gestern schnell in Sicherheit gebracht haben und mit meinen Pflegetöchtern hierher gefahren sind. Wie ich höre, ist dieser Frauenmörder und Penner ja vor unserem Haus gewesen…“

„Wir sind nicht von der Polizei“, unterbrach Herr Sack die aufgeregt plappernde Dicke. „Von der Polizei sind die beiden Herren da hinten. Wir kommen vom Jugendamt und wollen die beiden Mädchen Ute und Monika Salzner abholen. Sie haben unser diesbezügliches Schreiben erhalten?“
Ohne eine Antwort abzuwarten sprach er weiter: „Wo sind die Mädchen eigentlich?“

Die Birnbaumer-Nüsselschweif war einen Schritt zurückgewichen, als Sack gesagt hatte, daß er die Mädchen abholen will. „Die Mädchen… Ja nun… Das ist so eine Sache… Das war ja jetzt auch alles sehr aufregend für die… Nicht wahr?… Also, das ist jetzt so….“, stammelte die Dicke und nun fragte Herr Gräbert: „Sagen Sie mal, sehe ich das richtig, daß die Mädchen nicht bei Ihnen sind?“

„Nee, jetzt nicht so direkt.“

Frau Ströttinger interpretierte die Sachlage falsch und winkte sofort die beiden Polizeibeamten herbei: „Es besteht dringender Tatverdacht, daß die beiden den Mädchen etwas angetan haben.“

Sie hatte schon zu viel erlebt und zu viel gehört, als daß sie etwas anderes hätte annehmen können. Für die Frau vom Jugendamt war nicht auszuschließen, daß die Birnbaumer-Nüsselschweifs nun, da ihr Familienglück zu scheitern drohte, den Kindern wirklich etwas angetan hatten, nur um niemand anders es zu gönnen, die Mädchen bei sich zu haben.

Die Polizisten, einer groß und breitschultrig, der andere etwas kleiner, älter und gemütlich dreinschauend, kamen näher und schoben sich zwischen die drei anderen und das Ehepaar.
Während der Größere sich darauf beschränkte, böse zu gucken und die Hand auf die Waffe an seinem Gürtel zu legen, rieb sich der kleine Ältere die Hände, weil es recht frisch war und dann beugte er sich etwas vor und forderte: „Nu‘ aber raus mit der Sprache! Was ist jetzt mit den Mädchen Jutta und Monika?“

„Ute und Monika!“ berichtigte Frau Ströttinger aus dem Hintergrund.

Inzwischen war Herr Birnbaumer-Nüsselschweif mit in vorauseilendem Gehorsam erhobenen Händen aus dem Auto geklettert und hatte die Hände, so wie er es in Krimis gesehen hatte, hinter dem Kopf verschränkt. „Die sind uns weggelaufen!“ jammerte er und begann zu weinen.

„Du Weichei, Du Saftwurst!“ schimpfte seine Frau.

„Also raus mit der Wahrheit! Wo sind die Kinder!“

„Wir wissen es nicht, die sind uns wirklich gestern Abend weggelaufen“, gab Frau Birnbaumer-Nüsselschweif zu und warf ihrem Mann einen haßerfüllten Blick zu. „Weil der da nicht aufgepaßt hat!“

„Warum mußte Ihr Mann denn aufpassen?“ fragte der ältere Beamte, während sein Kollege an die Seite getreten war und versuchte mit seinem Funkgerät eine Verbindung herzustellen, was ihm nicht gelang und weshalb er dann mit entnervter Miene zu seinem Handy griff und telefonierte.

„Ja, aufpassen ist so nicht das richtige Wort“, suchte die Birnbaumerin nach einer glaubhaft klingenden Erklärung. „Das war ja mehr wegen der Aufregung. Wegen dem Theater. Wir haben die beiden Musch… äh, Mädchen ja hier mehr oder weniger in Sicherheit gebracht, vor diesem Frauenmörder und Pennbruder.“

„Sie wußten, daß wir kommen würden und wollten die Mädchen nicht hergeben!“ schimpfte Herr Sack vom Jugendamt und zu den Polizisten gewandt fügte er hinzu: „Wer weiß, ob die Mädchen wirklich weggelaufen sind, so wie die beiden herumstammeln. Meine Kollegin hat Recht, da könnte auch was passiert sein.“

„Nee, da is‘ nix passiert“, heulte Herr Birnbaumer mit weinerlicher Stimme: „Die sind wirklich weggelaufen, ganz ehrlich, ich schwör‘!“

Der jüngere Beamte flüsterte seinem Kollegen etwas zu, der nickte kurz zur Bestätigung und drehte sich dann zu Frau Ströttinger um: „Die Mädchen sind unten in der Ortschaft. Zwei Pilzsucher haben sie vor einer halben Stunde beim Touristenbüro abgeliefert. Die wollen nach Hause zu ihrem Papa.“

Erleichterung machte sich auf den Gesichtern von Gräbert, Sack und Frau Ströttinger breit. Der Polizist fuhr aber zu den Birnbaumer-Nüsselschweifs herum: „Sie Tünnes, nehmen Sie endlich die Hände runter und hören Sie auf zu weinen, das ist ja nicht mit anzusehen. Eine Schande für alle Männer dieser Welt ist das!“

„Sehen Sie, es ist genau so wie ich es gesagt habe“, mischte sich Frau Birnbaumer-Nüsselschweif ein: „Wir haben die Mädchen in Sicherheit gebracht. Ohne uns wären die ja in die Hände von dem Frauenmörder gefallen. Die müssen so eine Angst gehabt haben, daß der auch noch hierher kommt, daß sie sich lieber im Wald versteckt haben. So Mädchen brauchen eine liebende und fürsorgliche Mutter wie mich. Wo kann ich sie abholen?“

„Sie? Sie holen niemanden ab. Die Mädchen gehen jetzt mit den Herrschaften vom Jugendamt mit und Sie beide, sie dürfen freundlicherweise hinten in unserem schönen Auto Platz nehmen“, sagte der Polizist, trat galant an die Seite und machte eine gespielt höfliche Verbeugung. Als Herr Birnbaumer mit immer noch erhobenen Händen zitternd an ihm vorbei ging, zischte der Polizist ihn leise an: „Mann, nimm die Flossen runter!“


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 11 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 18. Oktober 2013

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Glückauf
11 Jahre zuvor

Boahh ey watt ne Schwere Geburt, iss gettz feddich?

DANKE.

Reply to  Glückauf
11 Jahre zuvor

Feddich ist erst, wenn alle drei bis vier zusammen im Bauwagen sind.

melancholia
11 Jahre zuvor

Ich habe jetzt XL im Sinne von X-Large gelesen. Passt ja auch irgendwie 😉

Volkert
Reply to  melancholia
11 Jahre zuvor

… nur dass der nächste Artikel nicht mit XXL hochgezählt wird.

melancholia
Reply to  Volkert
11 Jahre zuvor

…sondern leider nur meine Kleidergröße 🙁

Brummbär
Reply to  melancholia
11 Jahre zuvor

XXL ?
Da Hab ich aber ein paar X-er mehr zu bieten. Frauschi und ich haben gestern versucht für mich Klamotten zu kaufen … In der Zeltabteilung haben wir dann was bekommen (kneift aber ein bisschen).

Karin
11 Jahre zuvor

Also bei der Spannung kann man wirklich einen „Herzkasper“ kriegen.

11 Jahre zuvor

Musste ob der Überschrift auch kurz auflachen, aber die ganze Geschichte ist so unfassbar und spannend und unfassbar spannend, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

Christian
11 Jahre zuvor

ich schätze da kommen noch ein oder zwei Episoden 🙂

waaahsabi
11 Jahre zuvor

Das XL finde ich unabhaengig von der Zählung durchaus passend. Wenn das hier keine XL Story ist, dann weiss ich auch nicht. @Tom: Schon jemanden für die (Film/TV-)Produktion gefunden?

Xenaris
11 Jahre zuvor

Die Ziffer steigt
der Server taumelt,
– die Leserschaft am Vorsprung baumelt!

nadar
Reply to  Xenaris
11 Jahre zuvor

rofl – und wie wahr! ^^

Gray
Reply to  Xenaris
11 Jahre zuvor

Danke, der war gut 🙂

Konni Scheller
11 Jahre zuvor

…und Nelli will immer noch wissen, wer die Frau umgebracht hat! 🙂

Takana
11 Jahre zuvor

Und irgendwann muss der Bogen zum Bestatter ja wieder kommen. D.h. es muss noch jemand draufgehen… Etwa die Nüsselschweif!?

Reply to  Takana
11 Jahre zuvor

Ja bloß net, da würde doch mein Lachkrampferzeuger sterben….

BlackBudgie
11 Jahre zuvor

Endlich bekommen die Nüsselschweifs so richtig schön Ärger. Irgendwann mußten die beiden ja mal fällig sein *Daumen hoch*

11 Jahre zuvor

Ja wunderbar, eine Anzeige wegen Entziehung Minderjähriger wirkt sich ja wunderbar auf die Arbeit im Mütterkreis aus 🙂
Schön dass sich ein Ende (hoffentlich) abzeichnet!

Ach, und DANKE Tom!

simop
11 Jahre zuvor

🙂




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