Geschichten

Günther XXXIX

Doch es wurde dunkel und zwar schneller als die Mädchen es gedacht hatten. Da waren sie aber schon auf den Wanderweg abgebogen und fühlten sich sicher, daß weder die Birnbaumer-Nüsselschweif, noch ihr bigotter Mann ihnen folgen konnten.

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif tobte und schrie ihren Mann an: „Mein ganzes Lebenswerk zerstörst Du! Was habe ich mich all die Jahre im Mütterkreis krumm gelegt und was habe ich nicht alles über mich ergehen lassen müssen, um diese beiden Mädchen zu kriegen. Endlich haben die vom Amt erkannt, daß ich eine perfekte Mutter bin, die so viel Liebe in sich hat, und dann paßt Du nicht richtig auf die kleinen Muschen auf. Wir hätten sie in den Keller sperren sollen. Kinder sind aufsässig, Kinder sind wie ungehobelte Edelsteine, die muß man schmieden, so lange das Wachs weich ist! Du hast alles versaut, Du dummer Erpel!“

Herr Birnbaumer knallte die schweinslederne Bibel auf den Tisch, was fast wie ein Schuß klang und brüllte zurück: „Dann setz‘ Dich doch in Bewegung und fang sie wieder ein!“

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„Ich? Du glaubst ja wohl kaum, daß ich jetzt in die Dunkelheit renne und die Muschen auch noch suche!“

„Dann fahre ich eben los und suche die. Weit können die ja noch nicht sein, es sind wenigstens 20 Minuten zu Fuß bis in die Ortschaft, wenn sie die Straße nehmen.“

„Du? Du bist doch zu blöd, um die zu bewachen, da wirst Du kaum der Richtige sein, um die im dunklen Wald zu finden. Die hören und sehen Dein Auto doch schon von weitem und wenn sie sich dann hinter einen Baumstamm ducken, fährst Du Kübelkopf doch garantiert dran vorbei.“

„Dann fahr doch selbst!“

„Ja meinst Du, die ducken sich bei mir nicht?“

„Und was machen wir jetzt?“

„Gar nichts! Die kommen nicht weit. Draußen ist es inzwischen dunkel, es wird nachts schon empfindlich kalt, da können wir sie morgen hungrig und zitternd aus dem Wald auflesen, wie zwei nasse Wildschweinferkel.“

„Streiflinge heißen die!“

„Wer?“

„Wildscheinferkel nennt man in der Jägersprache Streiflinge.“

„Hab ich Dir eigentlich schon mal gesagt, daß Du ein Doofmann bist? Das weiß doch jeder, daß man die Frühlinge nennt! Der Keiler und die Bache haben Frühlinge“, sagte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und hatte sich dabei in voller, bedrohlicher Größe und Breite vor ihrem Mann aufgebaut, der unwillkürlich einen Schritt zurück wich.
„Du hast Recht, Luitgard, Du bist ja so klug“, sagte er mit weinerlichem Ton und zog den Kopf zwischen seine Schultern.

Zufrieden lächelnd tätschelte die dicke Frau ihrem Mann den Kopf. „Los, hol Holz rein und mach Feuer! Und morgen früh gehen wir um fünf Uhr los und suchen die Muschen.“

Kurz bevor es völlig dunkel geworden war, hatten die Mädchen erkennen müssen, daß es aussichtslos war, noch an diesem Abend die Ortschaft zu erreichen. Vom Wanderweg aus sahen sie zwar die Lichter der Häuser, aber die lagen weit entfernt unter ihnen und der Weg führte nur noch weiter nach oben.

„Zurück können wir nicht gehen“, sagte Monika, „Wir müssen weiter, irgendwann geht der auch wieder runter der Weg. Aber jetzt müssen wir uns hier verstecken.“

„Ich habe Angst“, jammerte Ute.

Obwohl Monika mit ihren fast elf Jahren nur ein Jahr älter war als Ute, war sie körperlich weiter entwickelt, ein ganzes Stück größer und hatte automatisch die Rolle der Anführerin und Beschützerin für ihre kleinere Schwester übernommen.

„Du brauchst keine Angst zu haben, Ute. Die kriegen uns nicht!“

„Davor habe ich auch keine Angst, wenigstens mal jetzt nicht wo es dunkel wird, aber wenn’s dann ganz dunkel ist… Du weißt doch, daß ich Angst im Dunkeln hab‘.“

„Brauchste nicht zu haben, wir sind doch beisammen. Komm, da vorne ist ein Holzstapel mit so’ner grünen Plane drüber, da bauen wir uns ein Zelt!“

Eine halbe Stunde später war es völlig dunkel geworden und in der ungewöhnlichen Umgebung des Waldes klang selbst das Knarren eines Baumes, der sich in seiner Rinde dehnte, wie von einem gräßlichen Monster. Auch Monika hatte Angst, zeigte das Ute aber nicht.
Die Mädchen hatten die grüne Gewebeplane, die Waldarbeiter über ein paar Raummeter Holz gebreitet hatten, auseinandergezogen und vom Holzstapel bis zu einem Baum gespannt. Das gab ihnen wenigstens einen notdürftigen Schutz.

„Du, Monika?“

„Ja, Ute?“

„Ich kann gar nicht verstehen, daß wir zu der Dicken mal Mama und zu ihrem Mann Papa gesagt haben.“

„Ich auch nicht.“

„Am Anfang war ich sogar froh, daß wir bei denen waren. Ist das schlimm?“

„Nee, ich war auch ein bißchen froh. Besser als im Heim.“

„Ist unsere Mama jetzt im Himmel?“

„Ja, Ute.“

„Ich will die Mama und den Papa wieder haben. Die richtigen, meine ich.“

„Ich auch. Ich will, daß alles wieder so wird wie früher.“


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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 6 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 18. Oktober 2013

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dieter aus dem hohen Norden
11 Jahre zuvor

Langsam geht mir Günther auf den Geist. Wie viele Fortsetzungen soll es noch geben?

Chris
Reply to  dieter aus dem hohen Norden
11 Jahre zuvor

musst es ja nicht lesen – kauf Dir einen Groschenroman am Kiosk – den kannst Du in einem Rutsch durchlesen 😉

11 Jahre zuvor

Du, wehrter Undertaker Tom, bist ein begnadeter Schreibeerling.

Und ein elendiger Folterknecht obendrein 😀

Karin
11 Jahre zuvor

Wem was nicht passt, der muss ja nicht rein schauen!!!
Ich bin täglich begeistert, auch wenn ich manchmal vor Neugierde bald platze.

Volkert
11 Jahre zuvor

Ich will auch einen Edelsteinhobel und so ein sanftes Hämmerchen zum Wachs schmieden …




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