Geschichten

Günther -VIII-

Es interessiert die Leute ja eigentlich gar nicht, wie ein Prozess ausgegangen ist. Wichtig für Ihren Umgang mit einem anderen Menschen ist da eher die Tatsache, daß der ja „immer von der Polizei abgeholt wird“ und „ständig seine Frau umbringt“ und daß ihm seine „Kinder weggenommen worden sind, die armen Kinder“.

Günther kehrte nach Hause zurück und stand vor dem Scherbenhaufen seiner Existenz.
Nun muß man wissen, daß Günther dazu neigt, seine Worte in leere Satzhülsen zu kleiden, sehr in Rätseln zu sprechen und immer wieder noch viel rätselhaftere Gegenfragen zu stellen.
Mit anderen Worten: Ich habe oft nicht verstanden, was er mir eigentlich sagen wollte.

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Vielleicht sollte ich aber zunächst erzählen, wie ich Günther kennen gelernt habe.
Aber vielleicht ist es doch besser, wenn ich zuerst schildere, wie es mit Günther unmittelbar nach dem Prozess weiter gegangen ist. Dann wird auch klar, warum ich ihn so und unter diesen Umständen kennen lernte. Jedoch muß man bei dem nun Folgenden berücksichtigen, daß ich mir das aus den rätselhaften Erzählungen von Günther, die sicherlich auch stellenweise nur seine Sichtweise wiedergeben, zusammenfügen muß.

Günther wurde aus der Haft entlassen, vor dem Knast von seinen Kindern, die ein Blumensträußchen in den Händen hielten, erwartet und dann fuhren sie in das Wohnhaus und lebten dort glücklich und zufrieden.

Schön, nicht wahr?

Aber eben nicht wahr.
Ich habe selten eine Lebensgeschichte gehört, die so von Schicksalsschlägen und dramatischen Ereignissen erfüllt war, wie die von Günther. Und demnach ist auch klar, daß es nicht mit „heiler Welt“ weitergegangen ist.

Günther hatte sich vor den Vorfällen, die zu seiner Festnahme und Inhaftierung geführt hatten, gerade ein neues Auto gekauft. Ein russischer Geländewagen, mit dem man auch mal was Schweres für Haus und Garten transportieren konnte, auf Abzahlung.
Finanziell war es für Günther bis zu seiner Haftentlassung ganz gut weiter gelaufen. Alle anfallenden festen Beträge waren automatisch abgebucht worden, doch jetzt war das Ersparte aufgebraucht und das Konto gehörig im Minus.
Aber das würde schon werden, schließlich hatte er ja eine gute Position bei der Bahn und ging wie selbstverständlich davon aus, daß man ihn weiter beschäftigen würde, schließlich war seine Unschuld ja bewiesen und ein ordentliches Gericht hatte ihn von jeglicher Schuld frei gesprochen.
Mit dieser Hoffnung verließ Günther also nun das Gefängnis und als das große, blaue Eisentor hinter ihm krächzend und quietschend über die Stahlschiene am Boden rollte und schließlich den Ausgang der Justizanstalt verschloss, da war es, als nehme ihm jemand eine zentnerschwere Last von den Schultern. Minutenlang stand er da, mit geschlossenen Augen und saugte die frische Luft durch seine Nasenlöcher ein.
Es hupte und Günther öffnete die Augen und sah auf der anderen Straßenseite seinen neuen Geländewagen. Sein Freund Horst, ein ehemaliger Arbeitskollege, beugte sich aus dem heruntergekurbelten Fenster und rief: „Na Alter, wie sieht’s aus? Lust auf ’ne kleine Spritztour?“
Dabei hielt er den Zündschlüssel aus dem Fenster und klingelte mit den Schlüsseln.

Günther hatte sich schon innerlich darauf vorbereitet, mit der Straßenbahn nach Hause fahren zu müssen und freute sich, daß Horst sich den Schlüssel besorgt und ihm den Wagen zum Knast gefahren hatte.
Flugs warf er seine Sporttasche auf den Rücksitz, Horst rutschte rüber und Günther setze sich ans Steuer. „Mal sehen, ob ich das noch kann“, sagte er und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
„Das verlernt man nicht, das ist wie Radfahren, das steckt in einem drinne“, meinte Horst und schlug seinem Freund auf die Schulter: „Los, lass uns fahren!“

Günther hatte natürlich nichts verlernt, Horst hatte da vollkommen recht. Aber das half alles nichts.
Sie waren etwa drei Kilometer durch den um diese Tageszeit recht dünnen Stadtverkehr gefahren, da kam es an der Ecke Rudolfstraße/Goethestraße zu einem folgenschweren Unfall.
Eine 23jährige junge Frau hatte an einer Ampel nicht angehalten und Günther rauschte ihr mit knapp 50 Sachen trocken und knackig in die Seite ihres ebenfalls noch recht neuen VW-Polos.
Zwar kam die Frau dabei durch die Wucht fast auf dem Beifahrersitz ihres Volkswagens zum Sitzen, doch ist ihr, abgesehen von ein paar heftigen Prellungen, nichts weiter passiert. Horst hatte sich den Kopf angeschlagen und blutete aus einer Wunde über der rechten Augenbraue wie ein Schwein, aber auch ihm war nichts wirklich Ernsthaftes passiert.
Günther hingegen war in seinem Sitz so heftig nach vor geschleudert worden, daß er minutenlang wie tot in seinem Gurt hing.
Es folgte der übliche Auflauf von Neugierigen, dann rief jemand die Polizei und einen Krankenwagen und am Ende wurde Horst auf der Straße verpflastert, während Günther und die junge Frau in Krankenhäuser abtransportiert wurden.
Kurz erzählt wurde Günther schon am nächsten Tag wieder entlassen und abermals war es Horst, der ihn abholte.
Dieses Mal ohne Auto.
Das war nämlich kaputt, total kaputt.

„Komm, wir gehen nach Hause“, sagte Horst, hakte seinen Freund unter und meinte: „Da wär‘ noch was, was ich Dir sagen muß.“

„Was denn? Was Schlimmes?“

„Hm, schon…“

„Na, dann erzähl‘ mal, was soll mich jetzt noch aufregen können?“

Doch was Horst ihm erzählte, das regte Günther dann doch auf. Jutta, die Schwester seiner Frau, und Helmut, deren Mann, erhoben Anspruch auf das Haus von Günther und waren schon mehrfach mit dem Zollstock durch das Haus gegangen, so als sei es ihres.

„Wie kommen die denn dazu? Die haben doch den Kontakt zu uns abgebrochen. Was machen die in meinem Haus?“ regte sich Günther auf und Horst erklärte ihm: „Das wirst Du schon noch sehen. Jutta erbt einen Teil, das hat Deine Frau so verfügt und den Teil will Jutta haben. Du wirst sie also ausbezahlen müssen und da das Haus noch nicht abbezahlt ist, wird sich die Frage stellen, wer am Ende den längeren Atem hat.“

„Na, das ist ja wohl klar, den werde ich haben, das ist schließlich mein Haus. Da werde ich den längeren Atem haben“, wetterte Günther und die Leute in der Straßenbahn, die die beiden Freunde notgedrungen hatten nehmen müssen, drehten sich neugierig zu ihnen um.

„Auch finanziell?“ fragte Horst nach und fügte noch hinzu: „Recht haben und Recht bekommen – das sind manchmal zwei Paar Schuhe…“

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(©si)