Geschichten

Günther -X-

Nun darf man sich das nicht so vorstellen, als ob Günther und Leo die dicksten Freunde geworden wären. Das war immer mehr so ein Verhältnis zwischen Vermieter und Mieter oder Unter-unter-unter-Mieter.
Trotzdem verstanden sich die beiden ganz gut, hielten mehrmals am Tag ein kleines Schwätzchen miteinander, aber ansonsten ging jeder seiner eigenen Vorstellung von einem geregelten Tagesablauf nach.

Bei Günther bedeutete das, daß er Schriftstück um Schriftstück auf einer alten, aber immerhin schon elektrischen Schreibmaschine tippte, um seine Kinder wieder zu bekommen.
Ich habe ehrlich gesagt Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, wie viele Kinder Günther wirklich hatte und wie sich das alles im Einzelnen verhielt.
Ich schrieb ja schon mal, daß es manchmal recht schwierig war, aus Günther etwas heraus zu bekommen.
„Ja weißt Du, das muß man mehr im Gesamten sehen, das ist alles so eine Sache, wie würdest Du das denn beurteilen und kennst Du die Geschichte von Sokrates und dem Hund? So global ist das ausgerichtet, mehr so universell, also ich will mal sagen, jetzt frag ich Dich!“
So oder so ähnlich lauteten manche seiner Sätze und man saß dann da mit etwas offenem Mund und wußte nun gar nicht mehr, was man sagen sollte; hatte man doch eigentlich eine ganz klare Antwort auf eine noch viel klarere Frage erwartet.

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Nach meinem damaligen Erkenntnisstand handelte es sich nicht nur um zwei, sondern um drei Kinder.
Offenbar hatte Günther, woher auch immer, ein Mädchen mit in die Ehe gebracht und zusammen mit seiner jetzt verstorbenen Frau hatte er zwei Kinder, auch ein Mädchen und dann noch den behinderten Jungen.
Alle Kinder waren in unterschiedlichen Heimen untergebracht und man wollte Günther partout nicht sagen, in welchen Heimen. Da sei erst noch einiges zu klären und man sei sich nicht sicher, ob das für die Kinder gut sei, wenn er jetzt dort auftauchen würde und bevor das Familiengericht nicht über seine Anträge entschieden habe, sei auch gar nicht daran zu denken, die Kinder wieder zu ihm zu lassen.

So verbrachte Günther jeden Tag eine bis zwei Stunden damit, Briefe von Behörden zu lesen, zu beantworten und abzuheften. Zwei bis drei Stunden widmete er sich der Gartenarbeit, denn allmählich wurde er mehr und mehr zum Selbstversorger.

Wie aus heiterem Himmel meldete sich sein Arbeitgeber und forderte ihn auf, seine Arbeit wieder aufzunehmen oder am soundsovielten des Monats beim Dienstarzt zu erscheinen.
Psychisch war Günther zu dieser Zeit ein Wrack. Man stelle sich vor: Da wird nicht nur der geliebte Ehepartner ermordet, sondern man lässt einem noch nicht einmal die geringste Chance, um diesen geliebten Menschen anständig zu trauern. Stattdessen wird man verdächtig, diesen Menschen umgebracht zu haben, wird vor den Augen der gafernden und neugierigen Meute vor Gericht gestellt, von den Boulevardzeitungen schon als „Schlächter“ und „Frauenmörder“ vorverurteilt und dann, nach erwiesener Unschuld, mehr oder weniger schutzlos mit einem Arschtritt wieder in die Freiheit gestoßen.
Und in dieser Freiheit fängt einen keine intakte Familie in einem trauten Heim wieder auf, sondern man ist sein Haus los, seine Familie ist zerschlagen und man ist auch noch krank, verletzt und einsam.

Es ist ja klar, wenn man schon so vom Pech verfolgt war, wie es bei Günther offensichtlich der Fall war, dann konnte es nicht ausbleiben, daß ihm auch noch die Mitschuld an dem Verkehrsunfall gegeben wurde. Dreimal mußte Günther auf der Polizei eine Aussage machen, dann wurde er wieder vor Gericht zitiert. Die gegnerische Versicherung hatte ihn verklagt, seine eigene Versicherung hielt dagegen, aber unterm Strich war es so, daß Günther am Ende seinen eigenen Schaden selbst zu tragen hatte.

Das allein ist schon schlimm genug, denn bei einem solchen Totalschaden ist man dann eben sein Auto los. Aber bei Günther kam ja noch hinzu, daß er das Auto noch gar nicht lange gehabt hatte und es ein finanziertes Auto war. Das heißt, es war mit einem Schlag die hohe Anzahlung futsch und er sollte noch viele Jahre an den monatlichen Ratenzahlungen zu kauen haben.

Beruflich sollte es auch nicht rosig laufen. Durch den Unfall hatte Günther noch jahrelang Schmerzen in den Schultern und im Nacken und schluckte deswegen eigentlich unentwegt irgendwelche Schmerztabletten. Besonders bei feuchtem Wetter konnte er sich kaum bewegen.
Der Dienst- oder Vertrauensarzt war ein alter Komisskopp und fackelte nicht lange herum. Günther sei ein notorischer Krankfeierer, der sich nur vor der harten Arbeit im Freien drücken wolle und eine Kur oder Erholungsmaßnahme komme gar nicht in Frage.

Nein, Günther sei nicht nur berufsunfähig, sondern arbeitsunfähig und „selbst zur Ausführung leichter Tätigkeiten, die etwa im Sitzen durchgeführt werden können, nicht in der Lage“.
Auf diese Weise wurde Günther quasi von heute auf morgen in einem völlig unangemessenen Alter zum Frührentner mit einer Minirente.

Ein Versicherung, die ihm irgendwie weiter geholfen hätte, hatte Günther nicht. Weder war das Auto vollkaskoversichert, noch hatte er eine Berufsunfähigkeitsversicherung oder dergleichen.
„Das haben wir alles aufgelöst, weil wir doch das Haus hatten, da ist jeder Pfennig reingesteckt worden.“

Ganz genau konnte ich nie herausfinden, wie das mit dem Haus von Günther gelaufen ist. Wenn ich alle Puzzlesteine sortiere, dann schaut es so aus, daß ihm und den Kindern zwar ein gewisser Anteil gehörte, er aber letztlich nicht in der Lage war, die Ansprüche seiner Schwägerin zu befriedigen.
Natürlich hätte er die Schwester seiner Frau ausbezahlen können, aber wovon?
Stattdessen wedelte die mit dem Geld und war auch bereit, die laufenden Hypothekenraten zu bezahlen. Irgendwann ist Günther dann eingeknickt und hat für eine lächerliche Abstandssumme seine Unterschrift bei einem Notar unter die Überschreibungsurkunde gesetzt.
„Damit war das Haus weg und die konnten sich ins gemachte Nest setzen.“

Von alledem wußte ich noch gar nichts und Günther kam wie ein ganz normaler Kunde zu mir. Er stand eines Tages in meinem Bestattungshaus und hielt mir ganz bescheiden zwei Briefe hin. Seine Frau sei gestorben und er wisse jetzt gar nicht so genau, wo die denn beerdigt sei und nun wolle er das doch aber gerne wissen, weil er doch zu gerne ab und zu ein paar Blümchen dahin bringen würde.

Nun, das war das geringste Problem. Ein einziger Anruf beim Friedhofsamt reichte aus, um die Grablage zu erfahren und ich wunderte mich damals, wie es denn wohl dazu gekommen sein könnte, daß dieser Mann das Grab seiner Frau nicht kennt.
Normalerweise hätte man einfach gefragt, aber ich wollte nicht unhöflich sein und hatte den Kopf auch voll mit anderen Sachen. Deshalb schrieb ich ihm, ohne weiter darüber nachzudenken, den Namen des Friedhofs und die Feld- und Reihennummer auf einen Zettel.
„Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich bitte an“, sagte ich noch, reichte ihm den Zettel, schüttelte seine Hand und dann war er auch schon wieder weg.


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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 24. Juli 2011 | Revision: 1. Juni 2012

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überhaupt nicht be-
13 Jahre zuvor

Nicht viele Geschichtenerzähler können sich erlauben, zwischen spannenden Geschichten immer wieder vergleichsweise langweilige, lediglich „deklaratorische“, einzubauen…… 😀

13 Jahre zuvor

Manche bringen sogar zwei an einem Tag.

überhaupt nicht be-
13 Jahre zuvor

Ich sehe es gerade…… Teil XI ist online…

😀

Weiter so! Respekt!

Wolfram
13 Jahre zuvor

Wenn man einen Kredit hat, um den Autokauf zu finanzieren, zwingt einen der Kreditgeber nicht zur Vollkaskoversicherung?
Ich meine, wenn schon der gesunde Menschenverstand das nicht tut…

ein anderer Stefan
13 Jahre zuvor

4 Wolfram: das mag vor dreißig Jahren noch anders gewesen sein, und bei einer Teilschuld bzw. entsprechender Einigung vor Gericht zahlt die trotzdem nicht.

13 Jahre zuvor

@wolfram
ich weiß nicht, wie lange die Geschichte her ist, aber in den letzten ca. 12 Jahren war es mir nicht möglich, einen Neuwagen zu finanzieren oder zu leasen, der nicht Vollkasko versichert war.

Ich hatte allerdings vor langer Zeit mal einen ca. 6 jährigen Gebrauchten finanziert, der musste nicht Vollkasko versichert sein.

13 Jahre zuvor

@5 Stefan: Doch sie zahlt für den eigenen Schaden voll (nach Abzug der Selbstbeteiligung und mittelfristig der Prämienerhöhung), und holt sich, wenn Quotenvorrecht vereinbart wurde, einen entsprechenden Teil beim Unfallgegner (dessen Haftpflicht)zurück.

Wolfram
13 Jahre zuvor

@ kall (6): Leasing ist noch was anderes, das ist ja letztlich nur eine Langzeitmiete, und das Auto gehört dir gar nicht. Mich wundert das nur, weil die Banken doch nie jemandem Geld geben, der keins hat, und wenn das Auto die einzige greifbare Sicherheit ist, verlangen sie eine Sicherung (wie sie für einen Hauskredit sogar eine Lebensversicherung zur Bedingung machen, und das schon seit langem).

13 Jahre zuvor

@wolfram
das Leasing was anderes ist, ist mir schon klar.
Ich hab mehrere Autos geleast und auch finanziert. Hinsichtlich Vollkasko war das kein Unterschied, Neuwagen müssen immer Vollkasko versichert sein. In der Praxis, ist das aber letzendlich nur steuerlich ein Unterschied bei betrieblich genutzten Fahrzeugen.

Wenn es eine einigermaßen angemessene Anzahlung gab, reicht das Fahrzeug als Sicherheit schon aus.




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