Geschichten

Herr Abendroth

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Herr Abendroth kam zu uns, wie etwa ein Drittel der Menschen zu uns kamen, kalt, starr und tot. Herr Abendroth meinte es gut mit uns, er sah prächtig aus und es war nicht allzu viel zu tun, um ihn so herzurichten, daß wir ihn guten Gewissens den Angehörigen präsentieren konnten.
Das war nicht selbstverständlich, der Zeit- und Kostendruck in den Krankenhäusern führte immer mehr dazu, daß wir Verstorbene dort übernahmen, aus denen noch Schläuche heraushingen, die über und über mit Jod verschmiert waren oder schlichtweg eingenässt und eingekotet unter ihrem Leintuch lagen.

Doch Herr Abendroth hatte vor seinem Tod noch eine Rasur bekommen, er roch gut nach Rasierwasser und war überhaupt sehr gepflegt, ein Zustand, den man bei vielen alten Leuten leider nicht vorfindet.
„Am schlimmsten sind die Füße!“, sagte mal ein Fahrer, der sich vor verkrümmten Alte-Leute-Füßen ekelte und gar nicht hinsehen konnte, wenn diese lange und ungepflegte Fußnägel hatten.

Aber so ist das eben mit dem Altern, da lässt das Bindegewebe nach, man wird schwabbeliger und verliert an Substanz, und so mancher in jungen Jahren federnd hüpfender Knackarsch ist im Alter nur noch ein faltiges Gebamsel. Man sieht den toten alten Menschen an, dass sie verbraucht sind, dass ihr Körper es hinter sich hat, dass die Jahrzehnte und so manche Krankheit ihre Spuren hinterlassen haben.
Muß man ja auch erst mal können, nämlich als Bestattungshelfer mit den oft nicht schönen Gegebenheiten zurecht zu kommen; kann auch nicht jeder.

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Umso schlimmer empfindet man es als Bestatter, wenn da junge Menschen vor einem liegen, deren Körper noch unverbraucht ist und bei denen man denkt, wie schade das doch ist, welch eine Verschwendung das doch ist und wie sinnlos das manchmal scheint …

Auf der anderen Seite liegt dann ein altes, faltiges Männlein, wie Herr Abendroth vor einem und man liest in den Papieren, dass Herr Abendroth Professor für Molekularbiologie war, zahlreiche international anerkannte Fachbücher geschrieben hat und bis zuletzt aktiv geforscht und geschrieben hat.
Was ist das für eine Art von Leben, in der man sich Jahrzehnte bildet und lernt und forscht und sucht und dann, wenn man das meiste Wissen erworben hat, das alles in einem winzigen Funken Energie nach irgendwohin entschwindet und ein lebloser Körper zurück bleibt?

Herr Abendroth, so erfuhr ich, war deshalb in einem so gute Zustand, weil seine Frau ihn täglich im Krankenhaus besucht hat und ihn selbst gewaschen und versorgt hat.

„Die Schwestern sind ja alles so lieb und hilfsbereit, das kann man wirklich nicht anders sagen; und die haben sich auch Zeit genommen für meinen Mann. Aber was die rennen müssen, was die für eine Arbeit und eine Verantwortung haben, und das bei der schlechten Bezahlung. Na ja, da habe ich gedacht, ich helfe denen, wenn ich manches selbst mache und sie ein wenig entlaste“, sagte Frau Abendroth zu mir beim Beratungsgespräch, schaute sich dann um, als wolle sie sicherstellen, dass kein ungebetener Lauscher mithört, und fügte hinzu: „Und ausserdem hat mein Mann sich doch so geschämt, wenn er nackt vor anderen sein musste.“

Ich nickte, sagte aber nichts, denn ich hatte den Eindruck, dass sie noch weitersprechen wollte. Das tat sie auch. „Es gibt da noch was …“

„Was denn?“

„Ich mag gar nicht drüber sprechen. Am End‘ kann mein Mann deswegen gar nicht beerdigt werden.“

„Was?“

„Ja!“

„Wie, ja? Was ist denn mit ihrem Mann?“

„Das ist ja alles gelogen, da in den Papieren“, sagte sie und tippte auf die Sterbeurkunden und das Stammbuch.

„Was ist denn da falsch?“

„Da steht, mein Mann sei am 28. Februar 1948 geboren worden.“

„Und?“

„Und bei mir steht, ich sei am 31. Dezember 1949 geboren.“

„Ja?“

„Das stimmt alles gar nicht!“ Frau Abendroth fing an zu weinen und jammerte: „Am End‘ kommt jetzt alles raus und ich muss noch bestraft werden, weil das doch alles gelogen ist.“

„Jetzt mal ganz mit der Ruhe. Nehmen sie sich hier mal ein Tempotuch, schnauben sie mal richtig durch und dann erzählen sie mir alles.“

„Als mein Mann geboren worden ist, war es schon ein Uhr.“

„Ja und? Ich verstehe nicht.“

„1948 war ein Schaltjahr!“

„Ja?“

„Und nach eins war es doch schon eigentlich der Neunundzwanzigste!“

„Ah, ihr Mann ist also in Wirklichkeit am 29. Februar geboren …“

„Genau, aber die Hebamme hat nach seiner Geburt zu seiner Mutter gesagt: ‚Kommen sie, Frau Abendroth, wir schreiben hin, dass der am 28. Februar um 23.59 Uhr geboren ist, dann hat das Kind wenigstens jedes Jahr Geburtstag.'“

„Und das wissen sie?“

„Ja, das hat seine Mutter, also meine Schwiegermutter, uns immer so erzählt.“

„Nun ja, ich denke mal, dass das eine Ordnungswidrigkeit wäre, wenn so etwas bekannt würde. Aber erstens ist das bestimmt verjährt, die Beteiligten leben ja wohl alle auch nicht mehr und wir müssen es doch auch jetzt niemandem sagen.“

„Ehrlich nicht? Kommt das nicht raus?“

„Wenn sie es keinem mehr erzählen, dann nicht.“

„Und ich, ich lebe ja noch, ich bin ja auch so …“

„Wie?“

„Unterjährig.“

„Was sind sie?“

„Unterjährig.“

„Ich kenne untergärig, was ist bitte unterjährig?“

„Wenn man so knapp im neuen Jahr geboren ist.“

„Sie sind doch aber am 31. Dezember geboren worden, oder stimmt das auch nicht.“

„Nee, das isses doch! Das stimmt auch nicht! Ich bin morgens um vier am ersten Januar geboren worden. Das war eine Hausgeburt und bis die Hebamme endlich kam, die hatte ja nur ein Fahrrad, da hat meine Mutter gesagt, ich wär‘ schon um elf Uhr am Abend vorher geboren worden. Das hat die Hebamme aber nicht geglaubt, die sehen das an der Nabelschnur oder so.“

„Ja und dann?“

„Das hat mir mein Vater alles erzählt, wissen sie? Dann hat meine Mutter gebittelt und gebettelt. ‚Schreiben sie auf, dass die am 31. Dezember geboren ist, dann ist sie noch eine 49erin, sonst wird sie eine 50erin und kommt erst ein Jahr später in die Schule. Bis die dann in die Lehre kommt, ist sie ein Jahr älter als die anderen Kinder. – Ja und dann hat die das gemacht, die Hebamme.“

„Also, sie erzählen mir jetzt, dass bei ihnen beiden falsche Geburtstage eingetragen worden sind?“

Die Frau schniefte und nickte so halbschräg mit dem Kopf und sah mich mit einem Dackelblick an. „Bitte nichts verraten!“

„Quatsch! Machen sie sich keine Sorgen, ich weiß von nichts. Ausserdem sind die Geburten ordnungsgemäss eingetragen, amtlich sozusagen und das was sie mir erzählen, das ist nur Hörensagen, das mag stimmen oder auch nicht. Das erzählen sie keinen und ich werde es auch nicht tun.“

„Obwohl …“

„Was denn?“

„Wenn man das bei mir ändern würde, wäre ich ein Jahr jünger.“

Ich schaute die Frau entgeistert an, dann merkte ich, das sie leicht grinste.

„Nee, nee“, sagte sie, „war nur ein Spaß.“

Ich habe es auch damals niemandem verraten, Herr Abendroth ist längst vergangen, seine Frau inzwischen auch schon tot und die Namen sind natürlich geändert.
Immer dachte ich, das sei eine so unglaubliche Häufung von „falsch“ eingetragenen Geburtsdaten, bis ich neulich jemanden traf, der aus Bayern stammt.
Der Mann erzählte mir, völlig unabhängig von der hier berichteten Begebenheit, dass von seinen sieben Brüdern und Schwestern nur drei das richtige Geburtsdatum eingetragen haben.
Das habe man angeblich im dörflich-katholischen Bereich früher häufiger so gemacht, damit keiner am Karfreitag oder an Allerheiligen geboren sei oder an einem Tag, der schon als Todestag eines nahen Verwandten im Kalender stand.

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(©si)