„Na, was?“
„Tiltová, Mostová!“
„Ja, ich habe das verstanden und ich hab’s, glaube ich, auch richtig aufgeschrieben.“
„Nein, begreifen Sie es nicht?“, er lachte, dann hielt er inne, schlug sich an den Kopf und meinte: „Ach, ich bin ja so dumm, sie werden die slawischen Sprachen nicht kennen.“
„Nein, wirklich nicht, wenn, dann nur Schimpfwörter…“
„Ja, Tilto kommt aus dem Litauischen, mein Opa war von da, und bedeutet Brücke.“
„Ah, ja…“
„Und Most ist Tschechisch und bedeutet auch Brücke!“
„Das ist ja witzig. Da hat Herr Brücke Frau Brücke geheiratet.“
„Genug gelacht, ich weiß, Sie wollen fertig werden mit Ihren Unterlagen. Also geboren am 21.09.1940 in Prag, Mutter Deutsche, die mussten dann nach dem Krieg aus politischen Gründen weg, nach Holland. Von dort sind die schon nach einem Jahr nach Deutschland. Ich war bis zu meinem 14. Lebensjahr in der Tschechoslowakei und bin 1952 mit meinen Eltern nach Bochum gekommen. Dort habe ich eine Lehre bei Opel gemacht. Zlata habe ich 1962 kennengelernt und es war Liebe auf den ersten Blick.“
Er erzählte und erzählte… Kein Wort von der bevorstehenden Beerdigung, keine Trauer, nur etwas Wehmut schwang im Klang seiner Worte mit. Ich nahm an, dass ihn der Verlust seiner Frau wehmütig werden liess, doch ich sollte noch erfahren, dass da etwas ganz anderes eine Rolle spielte.
Seine Geschichte ähnelte denen, die ich schon so oft gehört hatte. Jahre des Aufbaus, die Zeit des Kinderkriegens und -erziehens, der erste Urlaub mit dem Opel Kadett in Italien. Die erste größere Wohnung, ein Kredit für die Möbel und dann schließlich das eigene Haus. Seine Kinder, so erfuhr ich, lebten „sehr weit weg, mein Sohn in Kanada und meine Tochter weiter weg als der Mars“.
Ich hob nur fragend eine Augenbraue, er nickte, seufzte wieder und hob langsam die Schultern, um sie dann wieder fallen zu lassen: „Fragen Sie mich nicht, was da passiert ist, da ist nichts passiert. Sie ist mit 20 ausgezogen, mehr so Knall auf Fall und seitdem haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. So ist das manchmal im Leben. So sind die Leute!“
Nichts lag mir ferner, als den alten Herrn zu drängen, und mehr aus allgemeiner innerer Unruhe tippte ich mit dem Kugelschreiber auf meine Schreibmappe. Er hob den Kopf, kniff die Augen etwas zusammen und meinte: „Entschuldigung, mein Herr, ich langweile Sie…“
„Nein, nein!“, beeilte ich mich zu sagen: „Bitte sprechen Sie weiter!“
Langsam nickte er, seufzte noch einmal, und schon schien es mir, als würde er seine Erzählung fortsetzen, da begann er zu weinen.
Wie oft habe ich das schon erzählt, wie gut ich mit den Tränen der Trauernden umgehen kann und dass sie bei mir niemals das Gefühl haben müssen, sich schämen zu müssen.
Besser einmal richtig ausgeheult, als so ein dauerndes Geschniefe, meine ich.
Aber der alte Mann dauerte mich mehr, als es sonst jemand vor ihm getan hatte. Noch konnte ich mir nicht erklären, warum das so war, aber irgendetwas sagte mir, dass er ein schweres Schicksal gehabt haben musste und mir gerne davon erzählen wollte.
Ich setzte mich neben ihn, nahm ihm die Kaffeetasse aus den Händen und wollte seine Hand ergreifen. In dem Moment legte er seinen Kopf an meine Schulter, schlang seinen Arm um mich und brummte nur unter Tränen: „Danke, mein Herr, danke!“
„Na, kommen Sie, was ist denn los?“, ermunterte ich ihn.
„Noch eine Minute, bitte! Ich hatte so lange niemanden, der mich lieb gehalten hat.“
Vielleicht zehn Minuten saßen wir so da, dann löste er sich, zog umständlich ein fusseliges Papiertaschentuch aus seiner Westentasche und trocknete sich die Tränen.
Am liebsten hätte ich mich wieder rüber in meinen Sessel gesetzt, aber ich wollte die intime Stimmung nicht zerstören. Dieser Mann hatte eine schwere Last auf seinen Schultern, nein, auf seinem Herzen, und die musste er wegreden.
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