Geschichten

Herr Völkner 2

Gespannt wie ein Flitzebogen trete ich vor den Schrank und erwarte so allerhand. Eine Waffensammlung, irgendeine Uniform oder ein großes Stofftier, also irgendetwas, was der Verstorbene vielleicht unbedingt mit in den Sarg nehmen soll.
Genau das finde ich auch, jedoch in etwas anderer Form.

„Sehen Sie das?“ fragt Frau Völkner und ich nicke.

In dem Schrank befinden sich oben zwei Bretter und darunter eine Kleiderstange, unten ist wieder ein Brett.
Ich brauche eine Weile um das was in dem Schrank ist, alles zu betrachten und zu verstehen.

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An der Kleiderstange hängen Kleider, dunkle, helle, geblümte, gestreifte. Blusen und Röcke in verschiedenen Farben. Auf dem obersten Brett stehen Perückenköpfe aus Holz mit unterschiedlichen Lang- und Kurzhaarfrisuren, auf dem darunterbefindlichen Brett stehen Hutschachteln und auf dem Brett ganz unten im Schrank stehen in mehreren Reihen meist hochhackige Schuhe.
Und die Schuhe sind es, die mich darauf bringen, was da los ist. Sie haben alle etwa Größe 46, viel zu groß für die kleine Frau Völkner. Während in meinem salzdurchtränkten Gehirn das Begreifen erst langsam einsetzt, sagt Frau Völkner seufzend:

„Mein Mann ist Tante Trudi.“

„Tante was?“

„Tante Trudi, so nannte er sich immer selbst.“

Und dann erzählt sie mir, daß Herr Direktor Dr. Kurt-Heinz Völkner, Vorstandsvorsitzender der Stadtwerke, Mitglied in 17 Aufsichtsräten und angesehener Politik-Senior, bekannt in der ganzen Stadt, sich nach Feierabend zu Hause immer -und zwar wirklich immer und jeden Tag- in Tante Trudi verwandelt hat.
In Frauenkleidern, auf hochhackigen Schuhen, mit Perücke und großem Hut ist er durch die Wohnung gelaufen und sprach seit 60 Jahren mit seiner Frau ausschließlich mit verstellter Stimme.

„Meine Güte, was hat die Ehefrau bloß durchgemacht?“ schießt es mir durch den Kopf, doch Frau Völkner sagt im gleichen Moment. „Trudi und ich waren die besten Freundinnen, die man sich vorstellen kann. Aber bitte, Sie dürfen mich nicht verraten!“

Wir sitzen wieder im Wohnzimmer, ich trinke bestimmt den vierten Liter Wasser und Frau Völkner erzählt, daß sie und ihr Mann -genauergesagt: sie und Tante Trudi- eine ganz besondere Ehe geführt haben. Sie selbst habe nie einen Mann gewollt… „Zusammenleben mit einem Mann, nein, das habe ich nie gewollt. Männer sind so… so…. na, wie soll ich sagen, so anders. Nein, das habe ich wirklich nie gewollt. Hätte ich Kurt nicht getroffen, ich glaube, ich wäre ganz alleine geblieben oder vielleicht sogar ins Kloster gegangen, auf jeden Fall irgendwohin, wo man nicht mit Männern zusammenleben muß.
Aber Kurt… Kurt hat mir damals schon nach kurzer Zeit gestanden, daß er tief in seinem Inneren immer schon Trudi war und daß er schon immer heimlich Frauenkleider angezogen hat. Wissen Sie was das damals für eine Zeit war? Wissen Sie, wie das damals war, wenn jemand homosexuell war oder in irgendeiner Weise nicht der Norm entsprach? Undenkbar war das! Jeder, der irgendwie anders war, mußte das im Geheimen tun, sich verstecken, seine Neigungen unterdrücken… Fürchterlich war das!
Aber bei mir und Trudi war alles in Ordnung, vom ersten Tag an. Wenn Kurt nach Hause kam, kam er immer kurz ins Wohnzimmer, begrüßte mich und ich sagte jeden Tag: „Guten Tag, Herr Völkner.“ Wir lachten dann und eine halbe Stunde später kam dann Trudi aus dem Arbeitszimmer und die Welt war wieder in Ordnung.
Trudi und ich hatten das schönste Leben, das man sich vorstellen kann. Das allerschönste Leben! Wir sind ein glückliches Paar.“

Zwei Stunden lang erzählt mir die Frau von ihrem Zusammenleben mit Trudi und ich habe heute noch große Hochachtung von der Art und Weise wie sie das tat. Eine so ungewöhnliche Beziehung schilderte sie so normal und mit so liebevollen Worten, daß ich geradezu eine tiefe Zuneigung zu ihr und dem hageren toten Mann im Schlafzimmer entwickelte.
Ich muß gestehen, daß in mir, trotz aller Professionalität, kurzzeitig ein Lachen emporstieg, als ich endlich realisiere, daß dieser hagere und durchaus männlich aussehende Opa im Schlafzimmer nebenan abends geschminkt und in Frauenkleidern, angetan mit einer Langhaarperücke als Tante Trudi ein Doppelleben führte.
Ich schüttele diese Gedanken jedoch sofort wieder ab, denn ich begreife, wie wichtig und wertvoll das alles Frau Völkner ist.

So ist es auch nicht verwunderlich, daß sie kurz darauf den fast schon erwarteten Wunsch äußert, ob wir denn ihre liebe Trudi nicht in ihrem Lieblingskleid und mit Perücke beerdigen können.
Ganz spontan sage ich zu. „Natürlich, das ist doch überhaupt kein Problem.“

Dann fügt Frau Völkner noch hinzu: „Aber ich will von ihr Abschied nehmen, am offenen Sarg, ich will sehen, wie sie da in ihrem Kleid liegt, das wäre gewiss ihr Wunsch gewesen, Trudi war da sehr ordentlich und ich würde es mir nicht verzeihen, wenn ich da nicht nach dem Rechten gesehen hätte.“

Ich sage ihr auch das zu und überlege schon, wie Sandy Trudi schminken und anziehen wird. Das alles ist doch kein Problem, warum soll das nicht klappen?

Doch ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht.


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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 6 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 21. Januar 2013

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4 Kommentare
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Elke
11 Jahre zuvor

Super Story!
Aber warum so spät eingestellt? Les ich morgen nochml. LG Elke.

Elke
11 Jahre zuvor

Schieb ein „a “ nach.

Held in Ausbildung
11 Jahre zuvor

NEIN! Ich hau mich weg, das gibts doch nicht. Wie das Leben so spielt

Wolfram
11 Jahre zuvor

Happichsnichesacht? 😉

Ich stell mir aber grad mit Grauen vor, ich sollte in so einer Situation die Trauerfeier halten. Wo es doch schon Leute gibt, die es nicht ertragen zu hören, daß ihr lieber Bruder an seiner Alkoholkrankheit gelitten und gestorben ist…




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