Geschichten

Herr Völkner 1

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Xykrptos mit dem unaussprechlichen Namen hat meiner Frau einen Lendenspieß „Elena“ hingestellt und mir eine schöne Portion Gyros. Bei der Variante, die ich mir bestellt habe, liegt das Gyrosfleisch auf einem zerteilten Pitafladen und ist von einer üppigen Salatgarnitur umrahmt.
Die nette Frau von Xiptisos macht das Essen immer fertig, stellt ihm die Teller an die Durchreiche und er verschönert dann noch mit einer Orangenscheibe und dem üblichen bunten Trallala. Manchmal würzt er auch noch nach, wenn seine Frau ihm da zu ruft.
Dieses Mal muß etwas mit der Kommunikation zwischen Xhantypos und seiner Frau nicht geklappt haben und die kleine, dicke Küchenhilfe war auch noch in das Mißverständnis involviert, wie sich später herausstellte.

Wie dann forensische Untersuchungen ergaben, hatte Xcviphos Frau versehentlich etwas zuviel Salz auf das Gyrosfleisch gestreut und das auch so ihrem Mann durch die Tellerluke zugerufen. In etwa muß sie wohl gesagt haben: „Da ist mir etwas viel Salz drauf geraten, guck mal, ob der das so essen mag, sonst mach ich ihm eine neue Portion.“
Das hat die Küchenhilfe mitbekommen und falsch verstanden. Sie greift in das Salzfaß und rettet, was scheinbar noch zu retten ist, denn es fehlt ja ordentlich Salz -meint sie zumindest- und salzt mal kräftig nach.
Nun kommt Xhylatan höchstpersönlich ins Spiel und fragt durch die Luke: „Was war das mit dem Salat?“
Seine Frau: „Beim Salat ist alles in Ordnung, da habe ich nochmal ein Tröpfchen von dem ganz guten Olivenöl drüber, es war wegen dem Salz.“
(Man kann sich denken, daß die gesamte Konversation auf Griechisch stattfand.)

Xrpitinios lacht, er ist sowieso ein freundlicher Mensch, und tut genau das, was er den Worten seiner Frau zu entnehmen in der Lage war. Er schüttet richtig viel von dem guten Olivenöl über den Salat und salzt das Fleisch nochmals feste nach.

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„Guten Appetit!“ sagt er, lächelt und stellt den Teller vor mir ab.

Ich? Ich bin etwas erkältet, habe mir auf Anweisung meiner Frau, die ja dieses mittelalterliche Gesundheitsbuch hat, den Mund mit Rabensam ausgepült, damit ich nicht so viel husten muß, und leide unter einer eingeschränkten geschmacklichen Wahrnehmungsfähigkeit.
Das wiederum hat zur Folge, daß mir zwar die Salatumrandung etwas glitschig vorkommt, ich aber von der vier- bis fünffach überhöhten Totalversalzung des Gyrosfleischs nichts mitbekomme.

Ich esse und esse und während ich das tue, beginnen meine Lippen aufzuspringen, meine Zunge anzuschwellen und vom eigenen Atem die Augen an zu brennen…

„Du hast eindeutig nicht bloß eine Erkältung! Das ist bestimmt Nasdruck!“ diagnostiziert die mittelalterliche Hexe, die in meiner Frau wohnt und um zu zeigen, daß ich nicht an Appetitlosigkeit leide und natürlich auch um den angedrohten Behandlungen zu entgehen, esse ich die gesamte Portion Totes-Meer-Gyros ratzfatz komplett auf. Schließlich steht im Raum, daß meine Frau mich zur Abhärtung im eiskalten Neckar tunken will und mir dann Krötenexkrementumschläge machen möchte. Ja, bin ich denn im Fernsehdschungel?
Nee, nee, nix da, mir geht es super gut, klasse, einmalig toll!

Der restliche Abend verläuft an und für sich normal wir trinken noch einen Ouzo (d.h. die Hexe trinkt einen, ich bekomme immer einen Espresso), fahren noch drei Häuser weiter in Hildes Eckkneipe und trinken einen Absacker (normalerweise: Hexe: Weizenbier, ich: Kaffee), dann will mein Mittelalterweib nach Hause, weil sie weiß, daß ich nicht gerne stundenlang in Eckkneipen sitze, die von Einheimischen bevölkert sind, die eine Sprache sprechen, die mir in manchen Ausprägungen auch nach nunmehr fast 30 Jahren immer noch unverständlich ist.
Doch dieses Mal ist es anders, ich hatte gerade bei Hilde einen Putzeimer Wasser geordert, irgendwas stimmt nicht, ich brenne innerlich und habe unendlich viel Durst.

Xylophonis Salzfleisch beginnt sein übles Werk, mein Körper beginnt zu dehydrieren, auf einmal verstehe ich sogar das Gebabbel der Männer an der Theke; ein untrügliches Zeichen dafür, daß mein Gehirn unterversorgt ist.

Zwei Putzeimer später sind wir dann doch nach Hause gefahren, ich trinke noch einen halben Kasten Mineralwasser und lege mich dann zum Schlafen nieder. Meine Zellen ächzen unter der Salzlast und zwar jede einzelne, ich bin kurz vor dem Schock. Doch Morpheus ist gnädig und zieht mich beinahe ruckartig in seine Arme.

Da klingelt das Telefon.

Mir scheint es so, als habe ich just in selben Moment erst die Augen zugemacht, doch ein Blick auf den Wecker meine Frau verrät mir, daß es doch schon gegen fünf am Morgen ist.
Am anderen Ende der Leitung ist eine Frau Völkner, ihr Mann sei gestorben, der Arzt war schon da und nun hätte sie gerne, daß mal jemand bei ihr vorbei komme, der müsse ja mal weg, der könne ja jetzt nicht zu Hause liegen bleiben, der gestorbene Mann…“

Fünf Uhr morgens…
Das ist so eine Zeit. Da könnte ich jetzt zwei Männer aus der Nachtbereitschaft antelefonieren oder aber ich zögere das noch ein bißchen heraus und gegen acht Uhr kommt dann die reguläre Tagesschicht. Für mich und die Angehörigen ist die letzte Variante billiger.

Ich versuche der Frau zu antworten, aber mein von einer Salzkruste überzogener Mund läßt nur ein raschelndes Knistergeräusch zu dem es an der notwendigen Artikulation fehlt. Aber offenbar hat die Frau mich trotzdem verstanden, denn sie sagt: „Gut, dann kommen Sie vorbei.“

Eine knappe Stunde später klingele ich bei Frau Völkner und stehe ein paar Minuten später neben dem Sterbebett ihres Mannes.
Es ist ein großer, dürrer Mann, mit schütterem weißen Haar, der sehr friedlich und sehr vornehm aussieht. Er hat so etwas Würdevolles.

„Mein Mann war lange Vorstand von den Stadtwerken und hat sogar das Bundesverdienstkreuz, das mit dem Band“, sagt Frau Völkner stolz und nimmt, nachdem sie sich ein paar Tränen abgewischt hat, einen Rahmen von der Wand, in dem die Verleihungsurkunde, unterzeichnet von Richard von Weizsäcker, aufbewahrt wird.

Kurz darauf sitzen wir im Wohnzimmer und besprechen alles weitere. Mir steht Schweiß auf der Stirn, meine Körperzellen glühen und Frau Völkner ist so lieb und schenkt mir quasi in ununterbrochenem Fluß Wasser nach.

Sie hat kein Problem damit, daß ihr Mann noch etwas bleibt und meine Fahrer erst so gegen halb neun kommen. Aber sie hat ein anderes Problem und mit dem will sie nicht so recht heraus.
Eine Menge Leute werden erwartet, vom Ministerium, von der Stadtverwaltung, den Stadtwerken und überhaupt von überall her. Dafür braucht sie sich keine Sorgen um die Bestattungskosten machen, die zahlen in diesem Fall die Stadtwerke, das ist schon lange so besprochen.
Jedenfalls wird es eine Bestattung auf dem Hauptfriedhof, nur dort gibt es eine so große Trauerhalle; und es wird eine große Anzahl örtlicher Prominenz erwartet, der Verstorbene hatte zu Lebzeiten bis zu seiner Pensionierung einen hohen und verantwortungsvollen Posten bekleidet.
„In siebzehn Aufsichtsräten war der!“

Wir kommen im Beratungsgespräch an die Stelle bei der es um die Aufbahrung des Verstorbenen geht und ob er eigene Kleidung oder einen dieser Totentalare anziehen soll.
Wieder druckst Frau Völkner herum. Ich hake nach, doch sie schüttelt nur einmal kurz den Kopf, putzt sich ausgiebig die Nase und wechselt sofort das Thema: „Was ist denn mit den Blumen?“

Wir sprechen über das Grab, die Blumen, den Grabstein, Platzkärtchen, Totenbriefe, Glockengeläut, Lieder, Musik und Eimerchen mit Wurfblumen, jedoch nicht über das Thema Aufbahrung und Kleidung.
Doch irgendwann ist wirklich alles besprochen, auch das Nebensächlichste, und ich komme wieder auf diesen Punkt zurück: „Nun, Frau Völkner, wir müssen aber doch noch mal über den Punkt sprechen, ob Ihr Mann jetzt aufgebahrt werden soll oder nicht…“

Zuerst schüttelt sie wieder so energisch kurz den Kopf, dann weint sie.
Klar, die Frau hat gerade ihren Mann verloren. Obwohl…, der ist 86 Jahre alt geworden, so unwahrscheinlich war sein Dahinscheiden jetzt also auch wieder nicht. Aber egal, ein Verlust ist ein Verlust…
Ich sage salzkrustend ein paar tröstende Worte, meine aufgesprungenen Lippen brennen.
Dann stelle ich nochmals die Frage: „Was ziehen wir ihm denn jetzt an?“

Frau Völkner schaut mich nur aus tränennassen Augen an und antwortet nicht.

Ich helfe ihr auf die Sprünge: „Wenn Sie möchten, daß die Menschen am offenen Sarg von ihm Abschied nehmen können, wäre ein schöner dunkler Anzug das Passende…“

„Das ist ja das Problem“, sagt sie und weint wieder.

„Was ist denn? Warum möchten Sie nicht darüber sprechen? Ich meine, wir haben jetzt über so viel Verschiedenes gesprochen, was ist denn an diesem Punkt so schlimm?“

„Kommen Sie!“ sagt die Frau, steht auf und geht in den Flur. Sie biegt aber nicht nach rechts ins Schafzimmer an, sondern nach links in das Arbeitszimmer ihres Mannes.
Es ist ein Arbeitszimmer, daß schon in den späten 60er Jahren eingerichtet wurde und auch noch den Charme dieser Zeit ausströmte. Haltbare Möbel aus richtigem Holz, nicht modern, eher zeitlos, trotzdem alles etwas altmodisch. Es ist ja das Geheimnis des Wortes „zeitlos“, daß die Dinge, die so bezeichnet werden, meist schon am Tag ihrer Herstellung etwas altmodisch wirken, man sie aber zu allen Zeiten gut um sich haben kann, weil sie keinem extremen Zeitgeschmack folgen.

Frau Völkner öffnet einen großen Aktenschrank, dann hält sie inne, schließt ihn sofort wieder und schaut mich mit großen, feuchten Augen an: „Aber Sie verraten nichts, oder?“
Ich schüttele den Kopf: „Nein, bestimmt nicht!“ (Und jetzt muß auch der letzte Leser verstehen, warum ich manchmal 20 Jahre abwarten muß, um solche Geschichten erzählen zu können. Frau Völkner ist selbst lange schon verstorben, an ihren Mann, der natürlich eine ganz andere Position bekleidete und natürlich auch anders hieß, erinnert nur noch eine nach ihm benannte Gasse in der Nähe irgendwelcher, längst privatisierter, Stadtwerke und kein Mensch wird irgendeinen Bezug herstellen können.)

„Nein, ich verrate nichts“, sage ich und sie seufzt, öffnet den Schrank und tritt zurück: „Bitte, schauen Sie selbst!“

Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:

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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 12 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 21. Januar 2013 | Peter Wilhelm 21. Januar 2013

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6 Kommentare
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Olli
11 Jahre zuvor

„ich trinke noch einen halben Kasten Mineralwasser“

Ich kam mal im Hochsommer nach unerwartet langer Radtour wohl ähnlichd ehydriert, wenn auch nicht so versalzen wie Tom, nach Hause.
Durst!
Wasser!
Mist, kein stilles mehr da, nur Sprudel, egal.
In der Zeit nach dem angenehm durstlöschenden Konsum dieser nur mit etwas Flüssigkeit benetzten Kohlensäure hatte ich akute Probleme, mir nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn in erschreckend weitem Kreise zu sichern.

Bie wieder Übermenge Sprudel bei extremen Durst. Außer bei Verfügbarkeit eines schalltoten Raumes…

Wolfram
11 Jahre zuvor

Was war im Schrank – Ballettkleidchen?

Held in Ausbildung
11 Jahre zuvor

Hahaha wie geil geschrieben! Ich schmeiß mich weg

MsTaxi
11 Jahre zuvor

Ohne jetzt schon Teil 2 und 3 gelesen zu haben: Ich tippe auf Wehrmachtsuniform oder schlimmeres

Wolfram
Reply to  MsTaxi
11 Jahre zuvor

Was ist an einer Wehrmachtsuniform schlimm?

MsTaxi
Reply to  Wolfram
11 Jahre zuvor

Sie waere fuer jemanden, der beruflich so im Mittelpunkt des oeffentlichen Interesses stand, vllt doch eine eher ungewoehnliche Bekleidung fuer eine Aufbahrung mMn.




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