Geschichten

Herr Wolters und Frau Menze

Mann schreibt Buch der Erinnerungen und klebt Fotos ein

„Am Ende eines langen Lebens sitze ich nun hier vor Ihnen und alles was mir bleibt, ist einen Bestatter zu beauftragen, sich eines Tages um meine Beerdigung zu kümmern.“

Das sagt Herr Wolters, jahrzehntelang Steuerberater, jetzt im Ruhestand, verwitwet, Vater einer Tochter.

„Schauen Sie, was bleibt denn? Ein Häufchen Asche, ein paar Erinnerungen und irgendwann verblassen auch die. 80 Jahre oder so hat man hier gelebt, gearbeitet, sich mit den Leuten herumgeschlagen, hat Dutzende, wenn nicht Hunderte kennengelernt und dann… Nix, gar nix. Ein Stein, ein Name, das ist alles was für die nächsten 20 oder 30 Jahre bleibt, dann ist auch das vorbei. Man hätte Bücher schreiben sollen, Lieder komponieren oder sonst irgendwas von bleibendem Wert schaffen sollen, dann würde sich vielleicht der eine oder andere auch noch in hundert Jahren an einen erinnern und es wäre nicht alles umsonst gewesen.“

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Herr Wolters ist mißmutig, ja fast depressiv, der Besuch bei uns gefällt ihm nicht, erscheint ihm aber notwendig, denn seine Tochter will nicht viel von ihm wissen und er will verhindern, eines Tages „Ex und hopp entsorgt zu werden“.

Ich spreche lange mit ihm und erzähle ihm von Frau Menze.

Frau Menze hat schon vor ein paar Jahren eine Bestattungsvorsorge abgeschlossen und befand sich in einer ähnlichen Lage. Dann aber hat sie sich hingesetzt und begonnen, ein Album der Erinnerung anzulegen. Aus allen ihren Fotos hat sie versucht alle wichtigen Stationen ihres Lebens und des Lebens ihrer Vorfahren in einem Album zusammenzustellen. Nach und nach hat sie zu jedem Foto eine Geschichte geschrieben und so ein Werk von wirklich bleibendem Wert geschaffen.

Ich hatte die Ehre, das Album einmal anschauen zu dürfen und es hat mich tief beeindruckt. Mit so viel Liebe und Sorgfalt hat sie alles zusammengetragen und sogar zum Teil noch selbst illustriert. Ihre Enkel sind noch klein, aber ich bin sicher, daß sie eines Tages viel aus diesem Buch lernen werden und einiges über die alten Zeiten erfahren werden.

Herr Wolters schaut mich an, kratzt sich an seiner dicken Nase und ich sehe, daß ich da ein Samenkorn gelegt habe, denn er kann gar nicht schnell genug zum Ende kommen. Er muß sich beeilen, hat schon erste Ideen für sein Album der Erinnerung, reibt sich voller Vorfreude die Hände und meint noch zum Abschied: „Super Idee das! Diesen ganzen digitalen Scheiß kann man doch in der Pfeife rauchen, was nützen einem Erinnerungen, die irgendwo in einem Netz abgespeichert sind. Nur was man schwarz auf weiß besitzt, das kann man getrost nach Hause tragen. Mir ist es auch egal, ob jemand darin lesen wird, aber so ein Album mache ich jetzt auch, wirklich gute Idee!“

Warum auch nicht? Vielleicht hat ja noch jemand Lust.

© 2008

Bildquellen:
  • buch: Peter Wilhelm ki


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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 4 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 27. März 2024

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filosof
16 Jahre zuvor

Ich sehe bereits diese ganzen Weblogidioten dabei den Regenwald zu verdrucken. Nur mal zum Test.

Earonn
16 Jahre zuvor

Eine hübsche Idee, dieses Album, und es sagt viel darüber aus, wie Du deinen Kunden gegenüberstehst.

Ist nur schade, dass Menschen glauben, all ihre Taten und Erinnerungen wären wertlos, solange nicht irgendein anderer (am Ende gar völlig Fremder) sie zur Kenntnis nimmt.

calypso
16 Jahre zuvor

In Afrika gibt es Projekte mit Erinnerungsbücher. Frauen die Aids haben, schreiben (mit Hilfe) malen, erstellen für ihre Kinder solche Bücher.

Wanda L. E.
16 Jahre zuvor

@1: Schon klasse, so einen Kommentar in einem Webblog zu schreiben 😀

Wanda L. E.
16 Jahre zuvor

Ergänzung zu 3:
Sogar in einem Webblog, dessen Autor schon ein Buch geschrieben hat 😉

comicfreak
16 Jahre zuvor

..ich nehm die Kindheitserinnerungen meiner Tante auf das Diktiergerät auf und brenn meinem Papi zu Weihnachten eine CD mit all seinen (erinnerten) Jugendstreichen
🙂
Gesprochen ist das noch viel besser, als „nur“ geschrieben

MacKaber
16 Jahre zuvor

Bin schon dabei, doch weil die Themen alle so verstreut, und nicht in Reihenfolge in den Sinn kommen, komme ich nicht um das Digitale herum. Das Ganze ist ein riesiger Flickenteppich, der langsam, sehr langsam wie ein 2000er Puzzle erkennbare Stellen sichtbar werden lässt.
Und falls ich mich vorzeitig zurückziehe, kann eines der Kinder den Faden aufnehmen und fortführen. Sie müssen nur wissen, wo es auf den Festplatten abgespeichert ist.

Isis
16 Jahre zuvor

Ich finde es ist eine großartige Idee ein Buch der Erinnerung für seine Nachfahren zu erarbeiten. Im Grunde haben die alten Ägypter ihre Geschichten auch nur in Stein gemeiselt um es in die Zukunft zu tragen.
Heutzutage wird solch eine Tradition weder erhalten noch gewertschätzt. Wer weiß eigentlich noch was seine Eltern Urgroßeltern usw. in frühen Jahren getrieben, gefühlt und geleistet haben. Was Ihnen wiederfahren ist, als sie in unserem Alter waren. Ich finde es erschreckend wenn ich mir von Gleichaltigen erzählen lassen muss, dass sie nie ihren Eltern richtig zu gehört haben oder sie gar verstanden haben. Wertefrei geboren und traditionslos gestorben, eine Scham!!!
Hinterlasst der Welt doch eine wahres Stück dann wird sich auch in Jahren/Jahrzehnten einer mal an Euch erinnern. Die Elektronik ist vergänglich…
Aber was versuche ich an Verstand und Werte zu appelieren…

Matze
16 Jahre zuvor

Na, es naht ja wieder die Jahreszeit der „Jedermann“-Aufführungen, vielleicht war der Herr Wolters ja kürzlich in einer solchen – das würde den Griesgram wegen seiner scheinbar wenigen bleibenden Werke erklären…

Andreas
16 Jahre zuvor

[i]Ich lese im Buch der Erinnerung
ich hör mich lachen
mein Leben war ein Märchen
erzählt von einem Narren
ich wußte nicht immer,was ich will
doch ich wußte,wie ichs kriege
ich nahm es leicht auch wenn es härter kam
es war ein Setzen,ein Setzen neuer Ziele
Mein Leben war oft wie ein Spiel
wie ’ne lange Reise ohne Ziel
eine Suche nach dem,der ich bin
die Suche,die Suche nach dem Sinn
Mein Leben war ein Buch
ich mußte es so schreiben
ich wollte alles oder nichts
ich mußte mich entscheiden
das Leben war die Antwort
und ich stellte viele Fragen
und dieses endlose Geheimnis
hatte unendlich viel zu sagen[/i]

Es kann gar nicht genug „Bücher der Erinnerung“ geben – frischauf ans Werk.

Bernd das Brot
16 Jahre zuvor

Yea, hatte auch direkt an diesen genialen Onkelz-Song denken müssen.

Ich finde es schade, dass es heute kaum mehr feste Werte in dieser Gesellschaft gibt, die sich mehrere Generationen teilen.
Klar, einige der eingefahrenen Vorstellungen meiner Urgroßeltern möchte ich ungern aufgezwungen bekommen.
Aber es wäre schön, etwas zu haben, was ich mit ihnen teilen könnte. Auch, wenn alle vier Großelternteile schon verstorben sind.

egal
8 Monate zuvor

Schöne Idee, ich frage mich in letzter Zeit auch, was von mir bleiben wird. Aber ich habe keine Kinder, werde auch keine mehr bekommen. Da ist niemand, der sich sowas durchlesen würde, das entsorgt jemand bei der Wohnungsauflösung.




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