Mitarbeiter/Firma

Kalte Kippen

orgel

Wir haben alle gerade angefangen zu arbeiten, Antonia verteilt fröhlich an alle Kaffee, Frau Büser holt sich einen Stapel Unterschriftsmappen in meinem Büro ab und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, weil ein ganzer Stapel Papiere noch unerledigt auf dem Tisch liegt und Manni steckt kurz seinen Kopf durch die Tür und sagt mir, wo er jetzt überall hinfährt.
Die Einzige, die die Ruhe weg hat, ist Sandy, die quer in einem Sessel sitzt, die unbekleideten Füße auf die Armlehne gestützt und den Kopf weit in den Nacken gelegt. Würde sich ihr Nabel unterhalb des bauchfreien, schwarzen Tops nicht regelmäßig heben und senken, könnte man meinen, sie sei dahingeschieden.

Urplötzlich ist die Ruhe vorbei, Manni kommt noch einmal zurück, das Handy hat er noch am Ohr, schnalzt mit der Zunge und sagt: „Hopp, Madame, es gibt was zu tun!“ Und innerhalb von Sekunden ist Sandy hochgeschnellt und in ihrem Büro verschwunden. Es dauert keine drei Minuten und sie hat was Anständiges an und ihre momentan etwas wirre Frisur mit einem Gummiring zu einer Art explodiertem schwarzen Pferdeschwanz verwandelt.

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Sekunden später ist Ruhe, endlich!
Ich kann in Frieden meinen Kaffee trinken und aus dem Fenster gucken. Ich brauche diese Anlaufzeit, sonst bekomme ich schlechte Laune. Zehn Minuten Ruhe und Kaffee, mehr nicht!

Meine Ruhe wird jäh unterbrochen.
Eine heisere, vollkommen unmusikalische Stimme kräht durch mein Büro. Auf Englisch fordert sie mich auf, ich solle meinen Vater erschlagen und mit meiner Mutter schmutzige Dinge tun. Meine Schwester sei eine Prostituierte und den blutigen Schädel ihres Stechers solle ich zu Mus zertrampeln. „Yeah, do it, man! Kill’em all you m*therf*cker!“

Och nö! Das ist Jack, the Rapper, ein von Sandy bevorzugter Sänger, wobei mir das Wort Sänger nur schwer über die Finger/Lippen kommt, weil der Mann ganz ohrenscheinlich überhaupt nicht singen kann. Er hustet und bellt seine Botschaften völlig losgelöst von den stampfenden Rhythmen der Musik ins Mikrophon.
Etwa zwei Minuten lang ist seine „Message“ und ich weiß, daß das aus Sandys Handy kommt, sie hat „Jack, the Rapper“ als Erinnerungsmelodie eingestellt.
Ihr Handy steckt in ihrem schwarzen Lederrucksack, den sie mit Dutzenden von kleinen Kruzifixen vollgetackert hat. Irgendwann hatten wir mal eine ganze Schachtel mit Rosenkränzen im Lager gefunden, die irgendwie mal feucht geworden sein muß und in der alles Metallische angelaufen und angerostet war. „Kann ich die Kreuze haben?“ hatte Sandy gefragt und ich hatte nichts dagegen. So Rosenkränze kosten nicht besonders viel und Putzen und Entwirren hätte sich da nicht gelohnt.
Daraufhin hatte sie die rund zwei Dutzend Kruzifixe abgemacht und zum Teil auf dem Kopf stehend sehr virtuos an ihren Rucksack gebastelt. Manchmal schimpfen in der Straßenbahn alte Frauen mit ihr, das sei Blasphemie, doch dann schiebt Sandy vorne ihren Hosenbund ein Stückchen weit nach unten, sodaß man den kurz über dem Schambereich eintätowierten Teufel mit der herausgestreckten roten Zunge sehen kann.

„F*ck your sister! Take her now!“ rotzt es wieder durch mein Büro. Offenbar hat Sandy diese Uhrzeit jetzt als Erinnerungszeit eingestellt und die Erinnerungsfunktion auf „ständig Wiederholen“ gestellt.
Nun könnte ich ja einfach nach Sandys Handy suchen und es abstellen, aber ich traue mich nicht, einfach an ihre Handtasche zu gehen, so etwas macht man nicht.
Außerdem weiß ich, was Frauen so alles in ihrer Handtasche haben und will nicht schon wieder in unnötiges Nachdenken geraten. Portemonnaie, Kippen, Feuerzeug, Handy und Schlüssel, das ist alles was Mensch braucht. Alles andere ist überflüssig. Frauen sind da anderer Meinung und führen stets Vorräte an allem Möglichen mit sich, nur für den Fall, daß sie es eventuell mal gebrauchen könnten.
Sie brauchen es nie, aber sie könnten nicht überleben, hätten sie es nicht dabei…

Ich telefoniere gerade mit Pastor Ziege, da schreit es schon wieder zwei Minuten lang durch mein Büro, ich solle jetzt das Blut meiner Feinde trinken und mich dann über ihren Gräbern übergeben.
Sandy hat das Handy so eingestellt, daß die Erinnerungsmelodie bei jedem Erinnern eine Stufe lauter wird.
Pastor Ziege hat nichts gesagt, vielleicht hat er es gar nicht mitbekommen.

Meine Frau kommt ins Büro und will mir irgendwas ganz wichtiges wegen unserer Kinder erzählen. Meine Tochter habe gesagt, daß mein Sohn gesagt habe, ich hätte gesagt…
„Jack the Rapper“ brüllt wieder los und wieder soll ich meine Mutter xxxx.

„Was ist das denn?“ will meine Frau mit entsetztem Blick wissen und ich nicke in Richtung von Sandys Blasphemie-Beutel: „Sandys Handy.“

„Und warum macht das so’n Krach?“

„Ach, das ist irgendeine Weckfunktion oder so.“

„Und die fängt jetzt immer wieder von vorne an?“

„Hmmm, scheint so.“

Nun habe ich ja eben noch über den etwas merkwürdigen Umgang der Frauen mit ihrem Dauerhandgepäck gesprochen, jetzt aber zeigt sich, daß Frauen diesbezüglich aber auch recht gute Ideen haben.
Meine Frau schnappt sich Sandys Rucksack, geht rüber in die Kaffeeküche und stellt das Ding einfach in den Kühlschrank. „So, jetzt kann das Ding schreien, wie es will, jetzt kann man nichts mehr hören“, sagt sie und sie hat Recht.

Ich kann zwar ab jetzt immer hören, wenn Antonia an den Kühlschrank geht, weil „Jack the Rapper“ mittlerweile dauersingt und weil Antonia recht oft an den Kühlschrank geht, aber wenigstens verstummt er immer wieder sofort, sobald die Kühlschranktür wieder zu ist.

„Ey, meine Kippen sind eiskalt!“ mault Sandy eine Stunde später, aber das ist mir egal.

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(©si)