Geschichten

Koma -13-

Der Vater im Koma, die Mutter auf dem Friedhof, was hat ein Kleinkind da für Perspektiven? Gar keine! Es hat keine Perspektive, denn es begreift von dieser Welt noch nichts oder doch zumindest nicht genug.
Jede gute Frau wäre ihm als Mutter recht; jedoch habe ich den Eindruck, als sei Anja doch nicht die richtige Mutter für das Kind.
Sie würde dem kleinen Max sicher ein Leben im Luxus ermöglichen, aber er hätte die Funktion eines Luxusobjekts, das man sich zulegt wie eine Dolce & Gabana-Sonnenbrille oder eine Handtasche von LaPierre et Messancon.
Nannys, Au-Pair-Mädchen und dann ein schönes Internat in der Schweiz. Ein Studium an einer renommierten Universität, Urlaube auf einer weißen Segelyacht und später einen lukrativen Job im Unternehmen eines Geschäftspartners.
Klingt gut, ist aber alles ohne elterliche Liebe nichts wert.

Ein Mensch braucht Berührungen, Menschen wollen angefasst werden und zwar am Körper und an der Seele. Menschen brauchen Liebe und das genauso sehr wie die Luft zum Atmen.

„Ich werde Max mitnehmen nach Südafrika!“, verkündet Anja mit spitzer Stimme und nicht ohne Stolz.

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„Ja geht denn das so einfach?“, frage ich einfach mal neugierig dazwischen.

„Aber natürlich, ich bin doch seine Tante.“

„Ja, aber eine Tante darf doch nicht einfach ein Kind aus Deutschland mitnehmen.“

„Ach, in Südafrika gelten ganz andere Spielregeln. Das Bürokratische dort läßt sich mit etwas Geld leicht lösen.“

Tja, wenn man Geld hat, dann scheint alles zu gehen.

Sechs Wochen vergehen und ich sehe das Ehepaar Böntjes erst wieder, als sie wegen einer Bestattungsvorsorge für Klaus bei uns erscheinen.
„Wir haben eine Vollmacht von Klaus Eltern, sie können es nicht übers Herz bringen, für ihren im Koma liegenden Sohn jetzt schon zum Bestatter zu gehen. Sie sagen, das käme ihnen vor, als würden sie sich den Tod ihres Sohnes sozusagen herbeisehnen oder wünschen“, erklärt Herr Böntjes.

Ich verstehe diese Bedenken der Eltern und erkläre, daß noch ganz andere und noch viel jüngere Leute so eine Vorsorge abschließen.

„Man kann ja nie wissen, ob der überhaupt wieder aufwacht und wenn was schief geht, soll alles so geregelt sein, daß er zu Saskia ins Grab kann“, sagt Frau Böntjes.

Mir brennt aber eine ganz andere Frage auf den Nägeln1. Was ist aus Max geworden?
Und deshalb platze ich auch mit dieser Frage heraus: „Was ist aus Max geworden?“

„Der? Der wird nächste Woche getauft!“, freut sich Frau Böntjes.

„Und, wo isser jetzt?“

„Zu Hause, Frau Kollmeier aus dem Haus paßt auf ihn auf, er hat so schön geschlafen, da wollten wir ihn nicht wecken und durch die Mittagshitze kutschieren.“

„Er ist also noch bei Ihnen?“

Herr Böntjes klatscht vor Vergnügen in die Hände: „Jawoll, und da bleibt er auch.“

„Ach, ist er nicht nach Südafrika?“

„Gott sei Dank ist er das nicht“, erzählt Max‘ Oma: „Anja war ja fest davon überzeugt, den Bub mitnehmen zu können. Anfangs hielten wir das ja auch für eine gute Idee. Anja ist ein liebes Mädchen. Aber sie ist halt auch sehr erfolgreich und viel beruflich unterwegs. Um die Wahrheit zu sagen, ist sie eigentlich nur beruflich unterwegs. Sie sieht ja ihren Mann kaum und Max hätte sie gar nicht gesehen. Da sind uns dann immer mehr Zweifel gekommen, ob das wirklich der richtige Platz für Max wäre.
Und eigentlich …“ Sie stockt in ihrer Erzählung, schaut ihren Mann an und fährt fort: „Und eigentlich wollten wir Max lieber selbst behalten.“

„Ja und? Da machte doch das Jugendamt Probleme, oder nicht?“

„Also, das war so. Anja hatte ja den Plan, Max mitzunehmen. Einfach so. Und in Südafrika hätte sie ihn dann adoptiert.“

„Ja, ginge das denn so einfach? Ich meine, der leibliche Vater lebt ja schließlich noch.“

„Anja hat gesagt, das sei für sie kein Problem, sie kenne da genügend einflußreiche Leute und da kriege sie die Papiere im Handumdrehen, außerdem gäbe es ja viele Adoptionen, wo die Eltern noch leben.
Aber mein Mann hat dann mal nach dem Ausweis gefragt: ‚Anja, hast Du Dir schon mal Gedanken gemacht, daß Du einen Reisepaß für Max brauchst?‘
Da hat Anja ziemlich blöd geguckt und war sehr erstaunt. Auf den Gedanken war sie noch gar nicht gekommen. Also ist sie am nächsten Tag aufs Gemeindebüro und hat einen Kinderausweis für Max beantragt.
Das heißt, sie wollte einen beantragen, mit der Geburtsurkunde und so.
Aber die Frau am Schalter dort hat das abgelehnt, weil Anja sich nicht als Mutter ausweisen konnte.
Und schon einen Tag später hat sich das Jugendamt gemeldet und drauf hingewiesen, daß sie als Behörde nun quasi das Sorgerecht und das Aufenthalts…“

Frau Böntjes unterbricht sich und fragt ihren Mann: „Wie hieß das noch mal?“

Herr Böntjes setzt den Bericht fort: „Aufenthaltsbestimmungsrecht! Allein das Jugendamt darf bestimmen, wo Max hingeht und wohin nicht. Unser Glück und Anjas Pech! Passen Sie auf, der dickste Hund kommt ja noch! Als Anja kapiert hat, daß das so nicht geht und daß sie keinen Kinderausweis für Max bekommen würde, hat sie nach Südafrika ein Fax geschickt. Stellen Sie sich vor, die wollte einen südafrikanischen Kinderpaß, oder wie das da heißt, von irgendeinem weißen Kind hierher schicken lassen und dann wolle sie Max auf diesen Ausweis mit nach Südafrika nehmen.“

Das ist ja eine spannende Entwicklung, ich kann es kaum abwarten, daß die Leute weitererzählen.
Das tut dann Frau Böntjes: „Aber sie hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Früher, ja früher hätte sie mit diesem Trick Glück gehabt und das hätte geklappt, aber heutzutage haben wir da ein Problem. Es gibt ja viele geschiedene Ehepaare und um zu verhindern, daß ein Elternteil, reden wir mal beispielsweise von einem ausländischen Vater, das Kind einfach mit ins Ausland nimmt, sind die Paßbeamten an den Flughäfen da sehr streng. Stimmen die Namen nicht überein oder sind nicht beide Eltern dabei, wird man dort hellhörig und bis zur Klärung der Angelegenheit kommt man gar nicht erst ins Flugzeug. Erst wenn sichergestellt ist, daß beide Elternteile damit einverstanden sind, geht die Reise weiter.
Man weiß natürlich nicht, ob Anja und Max so streng kontrolliert worden wären, aber das Risiko war Anja zu groß.
Außerdem kam Bardwin dazwischen.“

„Wer oder was ist ein Bardwin?“

Frau Böntjes lacht: „Ein kleiner Pekinesenmischling, ein Hundewelpe. Den hat Anjas Mann ihr nach Kapstadt geschickt, als Geschenk. Und den mußte Anja sofort dort in Empfang nehmen und ist Hals über Kopf abgereist.“

„Ein Hundewelpe ist ja auch fast dasselbe, wie ein Baby“, sage ich und schüttele den Kopf.

Herr Böntjes lacht und stimmt mir zu: „Da sagen sie was!“

„Na ja“, spricht Frau Böntjes weiter;: „Auf jeden Fall war das unser Glück. Denn vor lauter Angst, Anja könnte den Kleinen mit nach Südafrika nehmen, hat das Jugendamt uns das vorläufige Sorgerecht für Max gegeben. Wenn wir den Kleinen behalten, dann ist das für das Amt eine sichere Bank, denn wir haben klipp und klar erklärt, daß wir nicht einverstanden sind, daß Anja ihn kriegt.“

„Und jetzt ist nicht mehr die Rede vom Kinderheim?“

„Also, der Mann vom Jugendamt hat sich nur an den Kopf getippt. Das sei die Aussage von Mitarbeitern gewesen, die quasi so einen Notdienst aufrecht erhalten haben. Von Seiten des Amtes gäbe es überhaupt keinen Grund Max in ein Heim zu tun. Jede andere Lösung in der Familie sei doch besser als so ein Heim, hat der gemeint.“

„Puh, dann ist das ja gut ausgegangen. Nur frage ich mich, was aus Klaus wird.“

Herr Böntjes hebt nur kurz die Schultern, stößt hörbar Luft durch die Nase aus und sagt: „Ich glaube bei einer von zehn Millionen Operationen wacht eine Patient nicht mehr aus der Narkose auf. Im Krankenhaus die haben erklärt, man wisse zwar haargenau um die Wirkung der einzelnen Narkosemittel, aber kein Mensch auf der Welt wisse genau, warum ein Mensch wirklich bei der Narkose einschläft. Nachdem die Narkose beendet ist, kommen die Menschen wieder zu sich. Aber auch hier bleibt es ein Geheimnis, wie das Aufwachen ganz genau passiert. Und auch wenn das tagtäglich hunderttausendfach gemacht wird, ist es eben ein Geheimnis und Klaus ist ein Teil dieses Geheimnisses. Organisch ist alles okay bei ihm. Nur Gott weiß, warum der noch schläft.
Wissen Sie, seine Eltern folgen den Ärzten wenn diese sagen, daß das einfach seine Zeit braucht. Aber keiner kann sagen, ob Klaus hinterher, falls er mal aufwacht, noch derselbe ist wie vorher. Wenn Sie mich fragen, werden die Eltern eines Tages seine Verlegung in die Schweiz vornehmen lassen.“

„In die Schweiz?“

Herr Böntjes setzt eine Verschwörermiene auf, beugt sich etwas vor und sagt mit gesenkter Stimme: „Sie wissen doch bestimmt Bescheid über die Schweiz und die Möglichkeiten dort, oder? Ich meine wegen Sterbehilfe und so…“

Ich nicke. Dann frage ich: „Und wie geht es mit Max jetzt weiter?“

Max‘ Oma antwortet: „Der bleibt jetzt bei uns. Wir sind jetzt offiziell bestellte Pflegeeltern und haben sowas wie das Sorgerecht. Ich meine, das richtige Sorgerecht hat das Jugendamt, weil die die Stelle des Vormunds angenommen haben. Aber der Mann vom Jugendamt hat gesagt, wir sollen ein bis zwei Jahre die Füße still halten und dann mal wegen einer Adoption fragen. Aber das wollen wir gar nicht. Wir wollen doch nicht Max Eltern werden, sondern wir sind ja von Natur aus seine Großeltern. Wir wollen nur irgendwann das Sorgerecht. Aber im Grunde ist uns das egal. Hauptsache er kann bei uns bleiben, dann wird es ihm auch an nichts fehlen.“

Ich freue mich für die beiden und sage: „Ich kenne so viele Kinder, die bei ihren Großeltern aufgewachsen sind, und aus all diesen Kindern ist was geworden. Ich bin mir sicher, daß das auch bei Max klappt.“

Nach diesem Gespräch habe ich das Ehepaar Böntjes nie wieder gesehen. Die Informationen bezüglich der Beerdigungsvorsorge für Klaus haben sie mitgenommen, aber eine Bestattung wurde bei uns nie in Auftrag gegeben.
Vier Jahre später entdeckte ich Klaus‘ Grab auf dem Friedhof.
Vielleicht sehe ich irgendwann einen jungen Mann an dem Grab. Dann werde ich hingehen und ihn fragen, ob er Max heißt.

Ende

1Auf oder unterm Nagel?


Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:

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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 12 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 8. Juli 2015 | Revision: 20. Juli 2015

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melancholia
9 Jahre zuvor

*schluck*
Phänomenaler Schlussatz. Danke für diese Geschichte!

Fenris
9 Jahre zuvor

Danke, soo schöner Schluß

Glückauf
9 Jahre zuvor

Danke!!!

Claudia
9 Jahre zuvor

oh, jetzt heule ich….
irgendwie hatte ich gehofft, dass er doch noch wach wird…. aber er wäre ja nie der alte gewesen….

Hajo
9 Jahre zuvor

danke, lieber Peter, für diese anrührende Geschichte mit einem teilweise guten Schluss.
.. und da beschwere sich nicht noch jemand über deutsche Bürokratie!
Hezliche Grüsse
Hajo

Rita Eva Neeser
9 Jahre zuvor

Danke, besonders für den Schluss-Satz

PMK74
9 Jahre zuvor

Danke.

Roland_09
9 Jahre zuvor

Auf. Also, der bei uns (Rheinland) üblichen Redewendung nach. Darunter täte ja auch weher.

https://de.wikipedia.org/wiki/Auf_den_N%C3%A4geln_brennen

9 Jahre zuvor

Ich hab mir mal erlaubt den Satz mit der Liebe zu zitieren. Passt grad so „gut“ 🙁




Rechtliches


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