Geschichten

Koma -5-

Zwei, drei Stunden mußten vergangen sein. Ein Hüsteln, das aus Richtung der Tür kam, unterbrach das monotone Gebet von Saskia und sie öffnete die Augen. Ein Mann in grüner Krankenhausbekleidung stand an der Tür und sah sie fragend an.
„Ich habe gebetet“, versuchte Saskia eine Erklärung und schaute sich im Warteraum nach Schwester Cordula um. Doch sie konnte die Alte nicht finden. „Da war doch eben noch diese alte Nonne, wo ist die denn? Ich habe gar nicht mitbekommen, daß die gegangen ist“, sagte Saskia verwundert.

„Eine Nonne war hier? Was denn für eine Nonne?“

„So eine kleine, so eine ganz alte. Schwester Cordula! Die hat mit mir gebetet!“ Saskia was aufgesprungen und schaute sich beinahe schon verzweifelt nach der Nonne um.

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Doch der Mann schüttelte nur den Kopf: „Schwester Cordula? Ach du meine Güte! Da haben Sie sich bestimmt geirrt. Früher einmal wurde dieses Haus hier von Nonnen geführt, das ist aber schon lange her. Heute leben nur noch drei Ordensfrauen in der obersten Etage. Da gibt es auch eine kleine alte Schwester Cordula, aber die ist schon über 80 und kann seit Jahren nach einem Schlaganfall weder sprechen, noch ihr Bett verlassen. Und die anderen beiden sind zwei jüngere Frauen aus Indien, die können kaum unsere Sprache und kümmern sich um die alte Frau. Sie müssen sich geirrt haben.“

„Na hören Sie mal! Ich bin doch nicht gaga! Die war hier; hier bei mir, ich spinne doch nicht! Die hat mit mir gebetet. Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr gebetet, ohne die hätte ich jetzt auch nicht damit angefangen!“

„Nun, wie dem auch sei, scheinbar hat das Beten geholfen. Ich bin Dr. Winter und komme direkt von ihrem Mann zu Ihnen. Es geht ihm jetzt etwas besser. Wir konnten ihn stabilisieren.“ Der Arzt hob aber abwehrend die Hände. „Aber er ist noch nicht über’n Berg, das sage ich Ihnen gleich. Die heutige Nacht wird es zeigen. Wenn Ihr Mann die Nacht übersteht, sieht es schon sehr viel besser aus für ihn.“

Saskia hatte die Gedanken an die Nonne weggewischt, jetzt stand nur noch Klaus im Vordergrund. „Was hat er denn? Was ist denn mit ihm? Wann kann ich denn endlich zu ihm?“

„Nehmen Sie wieder Platz, ich will es Ihnen erklären“, sagte der Arzt und setzte sich ebenfalls.

„Ihr Mann hatte einen schweren Unfall. Er ist von einem Müllwagen angefahren, etwa 20 Meter weit über die Straße geschoben und dann mitsamt Fahrrad überrollt worden. Wir können von Glück sagen, daß er einen Helm auf hatte. Fangen wir mal mit den weniger dramatischen Verletzungen an. Ihr Mann hat einen angebrochenen Halswirbel, einen gebrochenen Lendenwirbel und eine Trümmerfraktur des rechten Unterarms. Der Halswirbel hat uns am Anfang am meisten zu schaffen gemacht, weil wir sicherstellen mußten, daß da nichts mehr passiert und er eventuell eine Querschnittslähmung davonträgt. Danach sieht es aber nicht aus.“

Saskia hatte die Hände vor ihr Gesicht geschlagen und den Mund geöffnet. Sie war bei den Worten von Dr. Winter blaß geworden. „Mein Gott! Wenn das alles was Sie da aufzählen, nur das weniger Dramatische ist…“

Dr. Winter nickte, ergriff Saskias Ellenbogen und sagte mit ernstem Gesicht: „Ein Riß der Milz, eine zerstörte Niere und weitere innere Verletzungen kommen hinzu. Aber auch das haben wir im OP in den Griff bekommen.“

„Ja und weiter? Was ist sonst noch? Wann kann ich zu ihm?“

„Sie können jetzt gleich zu ihm. Er ist aber noch nicht wieder wach. Wir haben es für besser gehalten, ihn ins künstliche Koma zu legen.“

„Wieso das denn? Was ist denn ein künstliches Koma?“

„Na ja, den Begriff ‚künstliches Koma‘ verwende ich nur Patienten und Angehörigen gegenüber, weil man sich dann besser etwas darunter vorstellen kann. Es ist eine Langzeitnarkose, also ein durch Medikamente herbeigeführter Tiefschlaf. Ein Koma ist immer davon begleitet, daß wir nicht wissen ob und wann der Patient daraus erwacht. Bei der Langzeitnarkose, so wie Ihr Mann jetzt eine bekommt, können wir durch Absetzen der Medikamente das Aufwachen steuern.“

„Und warum bekommt Klaus das?“

„So hat er keine Schmerzen und wir können ihn an die Apparate anschließen, die ihn beim Atmen und beim Kreislauf etwas unterstützen. Außerdem werden wir ihn morgen noch einmal operieren müssen.“

„Noch einmal? Warum? Was hat er denn? Was wollen Sie denn morgen mit ihm machen?“

Der Arzt preßte die Lippen fest aufeinander. Auch ihm fiel es offensichtlich schwer, die Antwort auf Saskias Fragen auszusprechen.
Er räusperte sich, befeuchtete mit der Zunge seine Lippen, drückte Saskias Arm etwas fester und sagte mit tonloser Stimme: „Wir werden ihren Mann an den Beinen operieren müssen.“

„Sind die gebrochen?“ fragte Saskia, die insgeheim wohl ahnte, was der Arzt ihr noch sagen würde, sich aber an jeden Strohhalm klammerte: „Das richten Sie doch wieder, oder? Doch, Sie richten das, nicht wahr?“

Dr. Winter schüttelte langsam den Kopf. „Es tut mir wirklich sehr leid, aber die Verletzungen sind so gravierend, wir sind froh, daß wir Ihren Mann stabilisieren konnten, aber die Beine werden wir auf gar keinen Fall retten können.“ Und er wiederholte: „Es tut mir wirklich sehr, sehr leid.“

Saskia bekam einen Weinkrampf und schüttelte die Hand des Arztes von ihrem Arm. „Das können Sie doch nicht machen!“ rief sie mit tränenerstickter Stimme.

„Ich muß Ihnen das doch alles sagen. Sie können jetzt zu Ihrem Mann, aber Sie müssen doch Bescheid wissen.“

Saskia gab keine Antwort, sprang weinend auf und wollte etwas rufen, doch aus ihrem Mund kam nur ein keuchendes Geräusch, dann verdrehte sie die Augen und fiel vornüber quer über den kleinen Glastisch mit den Zeitschriften, schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf und blieb regungslos liegen.
Dr. Winter hatte noch versucht, die junge Frau aufzufangen, doch das war ihm nicht gelungen.
Sofort beugte er sich über Saskia und rief dann über die Schulter: „Notfall! Ich brauche Unterstützung hier!


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Kategorie: Geschichten

Die teils auch als Bücher erschienenen Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Sie haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Ähnlichkeiten mit existierenden Personen sind zufällig, da Erlebnisse nur verändert-anonymisiert wiedererzählt werden.


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Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 16. November 2013 | Revision: 15. Juni 2015

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