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Loslassen

Frau Losmann ist gestorben, was in Anbetracht ihres doch recht hohen Alters von immerhin 89 Jahren, zwar nicht von jedermann begrüßt, aber doch von einigen der ihr Nahestehenden, zumindest halbwegs in Betracht gezogen worden war.

So ruft ihr drei Jahre jüngerer Mann dann folgerichtig auch morgens bei uns an, beauftragt uns mit der Überführung seiner Frau vom Krankenhaus und avisiert seinen Besuch für den Vormittag. Vorsichtshalber sagen wir ihm gleich, daß er für den Fall, daß seine Frau in eigener Kleidung eingebettet werden soll, doch das Passende gleich mitbringen soll.

Seine Antwort: „Ja sicher bringe ich was zum Anziehen mit. Sie kann doch nicht im Nachthemd bleiben.“

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Als Herr Losmann zu uns kommt, wird er schnell bei den Särgen fündig, bestellt ein Doppelgrab und eine Erdbestattung, soweit scheint alles klar zu sein, besonders aufgelöst ist er nicht. Für seine Frau hat er ein geblümtes Kleid mitgebracht, nicht unbedingt das Passende, aber vielleicht liebte sie ja gerade dieses Sommerkleid ganz besonders.

Eigentlich mehr um ein Gespräch anzufangen frage ich ihn nach der Todesursache: „Wie ist es denn passiert?“

„Ach, das war ein Schreck! Hingefallen ist meine Frau und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Ja und im Krankenhaus bekam sie eine Lungenentzündung. Was für eine Aufregung!“

Ich nicke, der Fall ist klassisch, sowas hören wir immer wieder, doch dann fügt Herr Losmann noch einen Satz hinzu, den ich zunächst gar nicht verstehe und eigentlich auch davon ausgehe, daß ich ihn rein ohrentechnisch nicht richtig verstanden habe:

„Aber das wird wieder.“

Noch bevor ich nachhaken kann, wendet sich der Mann wieder den Formularen und unserem Auftrag zu und dann habe ich diesen Satz auch schon wieder vergessen. Herr Losmann will später wiederkommen, seine Frau besuchen.

So ist es dann auch drei Stunden später, Herr Losmann kommt, hat ein kleines Tütchen dabei, vermutlich irgendeine Sargbeigabe und ich begleite ihn zur Aufbahrungszelle. Schon im Gang zu den Zellen werden seine Schritte langsamer, dann bleibt er stehen und sagt: „Können Sie mal vorgehen? Ich schaff‘ das nicht.“

„In Ordnung“, sage ich, „ich gehe mal vor und schaue nach dem Rechten und hole Sie dann, ja?“

Er nickt, hebt etwas hilflos die kleine Tüte und fragt: „Können Sie ihr das mitnehmen? Das sind ihre Medikamente, die muß sie doch nehmen.“

Also hatte ich mich vorhin auch nicht verhört. Herr Losmann kann oder will nicht wahrhaben, daß seine Frau tot ist.
Solche Fälle kommen immer mal wieder vor. Zumeist haben wir es dann aber mit Müttern zu tun, die ihre Kinder verloren haben.

Was soll man tun? Ich kann ja schlecht zu dem alten Mann sagen: „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen, Ihre Frau ist tot, das müssen Sie doch wissen, da muß man mit rechnen wenn man fast 90 ist.“

Immerhin hat er ja einen Sarg für sie ausgesucht und ist sich auch bewußt, daß er beim Bestatter ist. Nur wenn er an seine Frau denkt und von ihr spricht, dann ist sie für ihn noch völlig lebendig. Es kann keinen anderen Weg geben, als ihn behutsam an seine verstorbene Frau heranzuführen.

Ich öffne die Tür zum Aufbahrungsraum und sehe, daß meine Angestellten die Frau sehr schön hergerichtet haben. In ihrem blumigen Sommerkleid sieht sie richtig frisch aus, aber dennoch kann man nicht übersehen, daß sie tot ist.

„Kommen Sie!“ sage ich zu Herrn Losmann, nehme seine Hand und führe ihn die letzten paar Meter zur Tür des Aufbahrungsraumes. Dort bleiben wir beide stehen und ich merke, wie er etwas zusammensackt, aber er fällt nicht, er lehnt sich nur an mich.

Zwei, drei Minuten vergehen, die Zeit kommt einem länger vor, dann gebe ich mir und Herrn Losmann einen Ruck: „Wir gehen mal zu ihr, ja?“

„Ja“, sagt er, „das möchte ich wohl gerne.“

Mit einer Hand auf seinen Stock gestützt, den anderen Arm bei mir eingehakt, geht er ein paar Schritte auf den Sarg zu, verharrt, dann sagt er zu mir: „Sie sieht so friedlich aus. Hat man im Tod seinen Frieden?“

„Ich weiß es nicht“, sage ich, „aber sie hat auf jeden Fall keine Sorgen und keine Schmerzen.“

„Sie ist tot, nicht wahr?“

„Ja, sie ist gestorben. Jetzt müssen Sie sich von ihrer Frau verabschieden.“

„Ich weiß. Ich wußte es die ganze Zeit… Aber 63 gemeinsame Jahre… Ich sehe sie vor mir, wie sie das Frühstück macht, im Garten die Rosen beschneidet. Sie hat Rosen so geliebt, vor allem die gelben.“

„Dann sollten wir ihr gelbe Rosen in den Sarg legen, was meinen Sie?“

„Haben Sie welche?“

„Ich kann welche besorgen.“

„Darf ich die dann reinlegen?“

„Sicher.“

Ich setze Herrn Losmann auf einen der Stühle, nehme mein Handy und spreche, etwas abseits, mit dem Büro. Es sollte kein Problem sein, binnen weniger Minuten mit dem Auto ein paar gelbe Rosen zu holen.

Gerade bin ich fertig, da sagt Herr Losmann, und ich merke, daß er Tränen herunterschluckt: „Schade, daß es verboten ist, sie noch einmal anzufassen.“

„Das ist nicht verboten, kommen Sie!“ sage ich, nehme seine Hand und warte, bis er sich auf seinen Stock gestützt, wieder aufgerichtet hat. „Wir gehen einfach zu Ihrer Frau und sie können sie anfassen, sie streicheln, sich richtig verabschieden.“

Was nun folgt, möchte ich ausblenden, der Mann steht neben seiner Frau und die Tränen sprudeln nur so, während er laut weint und die Wangen seiner Frau streichelt.
Ich lasse ihn gewähren, lasse ihm Zeit und halte mich im Hintergrund. „Weißt Du noch?“, so fangen seine kaum verständlichen, tränenerstickten Sätze an, mit denen er die gemeinsamen Jahre Revue passieren lässt.
Ich gehe hinaus, ich muß mal eine aus dem Fenster rauchen…

Sandy kommt, sie hat vorsichtshalber Blütenblätter und Blumen gebracht, ich nicke ihr nur zu und sie verschwindet wieder. Schöne gelbe Rosen sind das, doch ich lasse Herrn Losmann seine Zeit.

Keine Ahnung, wie lange es gedauert hat, vielleicht gut zehn Minuten, vielleicht auch zwanzig, dann wird es ruhig und ich sehe nach ihm. Er steht am Kopfende, hat den Kopf seiner Frau in der Armbeuge und hält mit der anderen Hand ihre kalten Hände. Dann bemerkt er mich: „Ich hätte nicht gedacht daß man das darf.“

Ich stelle den Korb mit den Blumen an das Fußende auf die Decke, helfe Herrn Losmann, seine Frau wieder ordentlich hinzulegen und gebe ihm dann das Körbchen. Er steckt ihr zwei lange Rosen in die Hände, verstreut die Blütenblätter unbeholfen im ganzen Sarg und legt die restlichen Blumen einfach in Bauchhöhe auf die Decke.
Einen Schritt geht er zurück, betrachtet sei Werk, nickt zufrieden. Dann wendet er sich mir zu und fragt nach der Tüte mit den Medikamenten, die hinten auf einem Stuhl liegt. Ich drehe mich um, um sie zu holen und diesem Moment nutzt der alte Mann, um seiner Frau einen letzten Kuß zu geben. „Tschüß, Gretel, bis bald. Ich bleib nicht mehr lange, nur noch ein bißchen. Sei mir nicht böse, wenn ich nicht gleich komme. Ich liebe Dich!“

Dann dreht er sich um, setzt den Stock beherzt auf und sagt beim Hinausgehen mit einem Blick auf die kleine Tüte: „Können Sie wegschmeissen.“

Ich begleite ihn zur Haustür, reiche ihm die Hand, die er ergreift und festhält. Er lächelt, als er sagt: „Ich hätte nicht gedacht, daß man das darf. Danke, vielen Dank.“

„Doch, darf man“, sage ich und schüttele seine Hand. Dann läßt er meine los und sagt: „Sie können den Deckel zumachen, ich hab Tschüß gesagt.“

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Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

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