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Maggi? Hab ich nicht.

Ich fahre mit den notwendigen Unterlagen zum Bürgermeisterdienst nach Klockenstadt. Das ist so 60 Kilometer von uns entfernt. Dort will ich den Sterbefall des Herrn Gimmel anmelden, der einige Tage zuvor in Klockenstadt verstorben ist und von uns bereits von dort abgeholt und nach Bimmelberg überführt wurde, wo er gewohnt hatte.

„Hammse auch alles dabei?“ will die Standesbeamtin wissen und ich nicke artig, schiebe ihr die Mappe mit den Unterlagen rüber und fixiere einen Punkt an der Wand direkt neben ihrem Kopf. Nur nicht hingucken! Die Frau ist ein Ereignis. Das Schild auf ihrem Schreibtisch verrät mir, daß mich hier Frau Hermtrude Zackesich bedient und schon beim ersten Lesen war mir das Wort Sackgesicht in den Kopf geschossen. Zwischendurch hatte sie mal das Telefon abgenommen und sprach ihren Namen, als sie sich meldete, aus wie Zack-Kesitsch. Egal, für mich ist das Frau Sackgesicht und ich muß mich selbst unter dem Tisch ans Schienbein treten, sonst muß ich laut lachen. Frau Sackgesicht!
Man soll sich ja über Behinderungen anderer nicht lustig machen, ich weiß, aber kann ich was dafür, daß die Frau sich rein augentechnisch nicht entscheiden kann, in welche Richtung sie schaut? Zuerst hatte ich mich erschreckt umgeschaut, ob jemand hinter mir steht, als sie mich ansprach, erst dann kapierte ich, daß sie heftig an mir vorbei schielte. Ich habe schon oft mit Leuten zu tun gehabt, die schielen, aber normalerweise guckt einen dann wenigstens eins der beiden Augen an und auf das starre ich dann immer. Bei Frau Sackgesicht guckt mich mal das linke, mal das rechte Auge an, meistens jedoch gucken beide Augen eher an mir vorbei und dann noch in Richtung Decke. Ich weiß nicht wo ich hinschauen soll…

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Ich bin sowieso giggelig unterwegs heute. Wir haben frühmorgens im Büro schon alle beinahe auf dem Boden gelegen vor Lachen. Auslöser war der Tatort gestern Abend. Die Kommissarin fragte die Täterin: „Warum haben Sie denn dem Opfer noch die Beine abgehackt bevor Sie die Leiche beseitigt haben?“ Antwort von Suzanne von Borsody in der Rolle der Täterin: „Weil ich mal einen Bandscheibenvorfall hatte und nicht mehr so schwer tragen soll.“

Wenn ich dran denke, wieviele Bestatter „Rücken“ (1) haben, ergeben sich daraus ja völlig neue Perspektiven hinsichtlich des Transportes von Leichen. „Die Beine bringen wir dann später nach, die waren uns zu schwer.“ Oder: „Beine könn’wer weglassen, ist ja sowieso die Decke drüber. Packen wir unten ein paar Schuhe hin, dann sieht’s aus, als wären sie da. Spart Ihnen auch Geld!“
Letztendlich könnte man mit einer Dummy-Leiche arbeiten und immer nur den Kopf austauschen…

Gut, es ist makaber, das gebe ich zu, aber wir haben uns kringelig gelacht und genau mit dieser Stimmung im Bauch sitze ich Frau Sackgesicht gegenüber, die am Tannenbaumsyndrom leidet. Das Tannenbaumsyndrom? Das kennst Du nicht? Es ist bei Bestattern bekannt und gefürchtet. Da wirst du zu einer Verstorbenen gerufen, gehst in das Schlafzimmer, wo sie friedlich im Bett liegt, schaust sie an und siehst ein kleines, schmales Mütterlein. Ein kleiner Kopf, ein dünner Hals und dürre Arme über der Decke… Ein leichter Fall, im wahrsten Sinne des Wortes, denkst du und dann stellt man die Trage neben das Bett und schlägt die Bettdecke zur Seite. Ja und dann haut das Tannenbaumsyndrom zu: Das Mütterlein ist eine Mogelpackung! Unter der Bettdecke ist die alte Dame dick; eben wie ein Tannenbaum, oben ganz schmal und unten ganz breit.
Zwei Mann reichen fast nicht, um den Kawentsmann (2) durch das enge Treppenhaus zu wuchten.

Ja und so ein Kaventsmanntannenbaum ist auch Frau Sackgesicht. Als sie aufsteht, um ein Formular aus dem Schrank links an der Wand zu holen, bleibt ihr unglaublich dicker Hintern zwischen den Armlehnen ihres Schreibtischsessels klemmen und sie hebt den Sessel ein Stück mit hoch. Offenbar passiert ihr das häufiger, denn durch zwei, drei wedelnde Bewegungen mit dem Hintern schüttelt sie das lästige Anhängsel einfach ab. Dieses Wedeln mit dem Sessel sieht aus, als versuche ein Elefant durch rektale Nahrungsaufnahme einen Drehstuhl zu verspeisen…

Und da soll ich ernst bleiben?
Ich presse die Lippen aufeinander, halte kurz den Atem an und fixiere stur den imaginären Punkt an der Wand. Nur nicht an das Wort Sackgesicht denken!!!
Die Frau nimmt wieder Platz, hoffentlich verschluckt sich ihr Hintern nicht… Mir steigt ein Lachen in die Nase und ich muß leicht prusten, kann es nicht halten.
„Sind’se erkältet?“ will die Standesbeamtin wissen, beugt sich über den Tisch zu mir herüber, legt dabei zwei weitere Kaventsmänner auf dem Tisch ab (Meine Güte, was bauen die stabile Tische heutzutage!) und hält mir ein Papiertaschentuch hin. Ich nehme es dankend und schrabautze ein bißchen lautstark in das Tuch, das hilft.

Am Tisch nebenan geht es irgendwie um einen Ausweis. Es ist ja ein Bürgerdienst, da wird von Standesamtsachen bis hin zur Ausgabe von Müllsäcken alles gemacht. Die Kollegin von Frau Sackgesicht sagt zu einem Herrn: „Bringen Sie den alten Ausweis mit, ein Paßfoto und acht Euro.“
Fragt der alte Herr: „Und watt kost‘ datt?“
Die Sachbearbeiterin: „Acht Euro.“
Der Herr: „Und ein Passbild?“
Die Sachbearbeiterin: „Den alten Ausweis, ein Passbild und acht Euro.“
Der Herr: „Geht datt hier?“ Er legt ein postkartengroßes Urlaubsbild hin.
Die Sachbearbeiterin: „Nein, das ist ja schon ewig alt, da hatten sie ja noch Haare und außerdem sind sie viel zu klein abgebildet und mit Sonnebrille, nee, das geht gar nicht.“
Der Herr: „Und watt kost‘ datt?“
Die Sachbearbeiterin: „Acht Euro!“
Der Herr: „Schreien Sie doch nicht so!“
Die Sachbearbeiterin: „Den alten Ausweis mitbringen, dann noch ein aktuelles Passbild und acht Euro.“
Der Herr: „Acht Euro kost‘ datt?“
Die Sachbearbeiterin: „Jahaaaa!“

Frau Sackgesicht meldet sich wieder zu Wort und ich muß mich ihr zuwenden. Sie hat inzwischen die Unterlagen durchgesehen und meint: „Da fehlt noch die aktuelle Meldebescheinigung.“

„Die was?“ frage ich, denn eine Meldebescheinigung habe ich noch nie vorlegen müssen. So eine Meldebescheinigung muß man oft bei irgendwelchen Behördengängen vorlegen. Meist dann, wenn es darauf ankommt, daß man wirklich an einer bestimmten Anschrift gemeldet ist. Ein Personalausweis muß ja nicht die aktuelle Adresse tragen.

„Die Meldebescheinigung vom Toten“, sagt Frau Sackgesicht und fügt als Erklärung hinzu: „Das Personenstandsrecht hat sich zum 1.1.2009 geändert. Jetzt brauchen wir eine Meldebescheinigung.“

„Aha, und was machen wir jetzt?“

„Tja, sie werden wohl nach Bimmelberg fahren müssen und die Meldebescheinigung besorgen.“

Zähneknirschend verlasse ich die Büroschönheit und fahre die ganze lange Strecke nach Bimmelberg. Das kostet mich Zeit und vermutlich wird diese Bescheinigung auch wieder 5 Euro kosten.
In Bimmelberg komme ich schnell dran, die Dame auf dem Einwohnermeldeamt ist auch sehr freundlich, ich erkläre ihr worum es geht und sie erklärt, daß es kein Problem sei, mir meine Meldebescheinigung auszustellen. „Nein“, sage ich, „ich brauche keine Meldebescheinigung für mich, ich wohne ja gar nicht hier, ich brauche eine Meldebescheingung für den verstorbenen Herrn Gimmel, der hier gewohnt hat.“

„Auch kein Problem. Haben Sie denn bitte mal die Vollmacht vom Herrn Gimmel?“

„Der Mann ist tot, wie soll der mir eine Vollmacht unterschreiben?“

„Ja, so geht das aber nicht, da könnte ja jeder kommen.“

„Ich brauche das Ding aber, sonst stellt sich die Dame beim Standesamt in Klockenstadt quer.“

Langer Rede kurzer Sinn: Ich fahre unverrichteter Dinge wieder ab. Ohne Vollmacht keine Meldebescheinigung.
In Klockenstadt sitze ich eine gute Stunde später wieder Frau Sackgesicht gegenüber, die sich inzwischen ein Ei gepellt hat und großzügig Salz über das Ei und meine Unterlagen streut. „Schmeckt auch gut mit Maggi“, sagt sie kauend zu mir und guckt auf meine Ohren. Dann kaut sie: „Hab‘ aber keins.“
Ich sage: „Ich auch nicht.“
„Schade.“

Sie zutzelt (3) mit gebleckten Zähnen und meint dann: „Und?“

„Ich habe keine Meldebestätigung bekommen“, sage ich und erkläre ihr, daß es an der Vollmacht gehapert hat.
Ich bin Frau Sackgesicht dankbar, daß sie nicht viel Aufhebens darum macht und sich bereiterklärt, mir die Sterbeurkunden trotzdem fertig zu machen.

So weit so gut.

Es vergehen einige Tage, ich habe Frau Sackgesicht schon fast vergessen, da erreicht mich ein Schreiben aus Klockenstadt. Der Amtsleiter teilt auf städtischem Papier mit:

„…wird auf die Vorlage einer Meldebestätigung vorläufig verzichtet, weil Tote keine Vollmacht unterschreiben können. Es genügt, wenn Bestatter ihren unterschriebenen Auftrag mit Vollmacht der Angehörigen vorlegen.“

Na also!


(1) Ich hab Rücken = Ruhrgebietsdeutsch für: eine Erkrankung des Wirbelsäulenapparates oder irgendwie rückwärts gelegenen Körpers zu haben.
(2) Kaventsmann: Bezeichnet in der Seemannssprache eine sogenannte Monsterwelle, eine riesengroße Welle auf offener See. Im übertragenen Sinne wird dieses Wort auch für alles übernormal Große, Schwere und Breite verwendet.
(3) Zutzeln: Aussaugen. Hier: Durch intragutturale Saugtätigkeit, die sich auch auf den nasolabialen Bereich erstrecken kann, Speisereste aus dem Mund- und Rachenraum oder den Zahnzwischenräumen entfernen.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#maggi? #nicht

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(©si)