Geschichten

Der Mann am Rande der Strasse

Jeder Bestatter kennt das. Mitten in der Nacht klingelt das Telefon. Es ist das Telefon an Deinem Bett und Du wirst unwirsch, weil Du Manni, Georg, Hans oder wie die Männer halt heißen, zur Bereitschaft eingeteilt hast und eigentlich mal durchschlafen möchtest. Du kannst aber nicht durchschlafen, irgendjemand wählte diese Nummer, die nur den Eingeweihten bekannt ist, und jetzt klingelt dich das Telefon aus dem Schlaf.

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„Chef, sorry, tut mir leid, aber großes Ding hier, schwerer Verkehrsunfall, das schaffen wir nicht alleine“, tönt es abgehackt aus dem Hörer und ich ärgere mich darüber, daß man trotz modernster Handys und teurer Mobilfunkverträge so eine teils unzuverlässige Wechselsprechqualität dafür angeboten bekommt.

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Meine Frau, die mit einen sehr tiefen Schlaf gesegnet ist, dreht sich nur auf die andere Seite um, als ich mich aus der warmen Decke schäle, kurz den Fußkontakt zu kühlen Fußboden scheue, während ich nach meinen Hausschuhen angele.
Sie, also die Allerliebste, kann ja mit ihren gelenkigen Zehen Stecknadeln aufheben, meine Füße hingegen sind so gelenkig, ich kann allenfalls Schaben tottreten, wüßte aber auch nicht, wozu ich mit den Zehen Stecknadeln aufheben sollte.

Während ich mich in einen halbwegs zivilisierten Menschen zu verwandeln versuche, eine Metamorphose, die mir nachts immer nur sehr schwer gelingen mag, fällt mein Blick in den Spiegel und ich sehe ein, daß eine notdürftige Rasur das Mindeste ist, was ich noch machen muß, um nicht als Heckenpenner an der nächsten Ecke verhaftet zu werden.

Frisch nach Rasierwasser duftend steuere ich einen unserer Bestattungswagen zur angegebenen Stelle, einer Kreuzung an irgendeiner Landstraße im Badischen, die nicht unbedingt den Ruf genießt, ein Unfallschwerpunkt zu sein. Die Strecke an sich ist aber bei all denjenigen beliebt, die gerne mal ein „Viertele“ über den Durst trinken und ohne behördliche Kontrolle nach Hause kommen möchten. Es geht die Mär, dort fänden gar keine oder nur höchst seltene Kontrollen statt.

Jetzt aber, und das sehe ich schon kilometerweit aus der Ferne, flackern dort Blaulichter ein gespenstisches künstliches Nordlicht in den nächtlichen Himmel und mir schwant schon, vorgewarnt durch den nächtlichen Anruf, daß das Großes auf mich wartet.
Nichts Großartiges im Sinne von toll oder prächtig, sondern etwas Umfangreiches im Sinne von Blut, Schmerzen und abgetrennten Körperteilen.

Der Uniformierte mit der roten Kelle läßt mich desinteressiert passieren, der Leichenwagen und mein Gesichtsausdruck, vielleicht auch meine unausgeschlafene Blässe, sind Ausweis und Berechtigung genug.
Am Ort des Geschehens ist es schwer, sich mit dem langen Fahrzeug einen Weg zwischen den Streifenwagen und den Krankenwagen hindurch zu bahnen, die Feuerwehr ist auch üppig vertreten und baut gerade einen Lichtmast auf, der kurz darauf die nächtliche und bisher eher spärlich beleuchtete Szene in gleißend helles Licht taucht und die blauen Nordlichter zu müden Blaublitzern degradiert.

An der Kreuzung, das sehe ich sofort, sind drei Autos zusammengestoßen. Von wo jedes von ihnen gekommen ist, kann man auf den ersten Blick nicht mehr erkennen. Sie stehen in Positionen, die darauf schließen lassen, daß der Aufprall heftig, die Geschwindigkeiten hoch und die einwirkenden Kräfte unermeßlich gewesenen sein müssen. Ein herausgerissener Motorblock, etwa 30 Meter vom Geschehen entfernt, kündet von Schlimmem.

Noch kämpfen die Retter weiter hinten, laut Anweisungen rufend, um das Leben einer Person, die auf einer am Boden stehenden Rettungstrage liegt. Manni und Georg tragen schon einen unserer grauen Kunststoffsärge zum Bestattungswagen weiter hinten, in dessen Laderaum ich eine schon belegte Leichentrage sehe.
Ein Polizeibeamter winkt mir zu: „Na, ihr Aasgeier, auch schon wieder da?“
Ich schenke ihm ein unfreundlich gemeintes Grunzen. So ein Volldepp. Aasgeier! Aasgeier wären wir, würden wir des nächtens stundenlang an unfallträchtigen Punkten oder vor Altersheimen und Krankenhäusern herumlungern, um uns dann auf die Toten zu stürzen.
Aber wir, wir werden gerufen, wenn Bruder Hein mal wieder seine Sense geschwungen hat, wir können nichts dafür, wir erledigen den Rest, oft genug den schmutzigen Rest. Aasgeier? Nein, das haben wir nicht verdient.

Manni kommt auf mich zu, sein Gesicht zeigt, daß es ihm nicht gut geht.
„Chef, ein Wagen voll mit Jugendlichen hat dem BMW da die Vorfahrt genommen, der war mit hundert Sachen unterwegs und ist voll in die rein. Der Geländewagen da hinter ist dann auch noch hintendrauf geknallt.“

„Und? Wieviele Verletzte, wieviele Tote?“

„Von den vier Jugendlichen hat nur einer überlebt, die anderen waren sofort tot. Den behandeln sie jetzt da auf der Trage da hinten, sieht aber ganz gut aus für den. Wahrscheinlich können ’se den stabilisieren und gleich wegbringen.
Schlimmer hat es den BMW-Fahrer erwischt, der ist auch hinüber, den müssen die von der Feuerwehr aber noch rausschneiden. Dem Mann im Geländewagen ist nix passiert, der hat bloß die ganzen Airbags vor den Kopf gekriegt und ist schon abtransportiert.“

„Dann sind’s vier?“

„Ja, zwei nehmen wir, zwei tun’wer Ihnen hinten rein.“

Ich nicke. „Jau, macht mal, ich habe eine Kunststoffwanne und ’ne Trage dabei.“

Während der verletzte junge Mann in einen Krankenwagen verladen und unter unnötigem Tatütata durch die abseits von der Unfallstelle menschenleere Nacht wegtransportiert wird, suche ich nach einem Beamten, der mehr zu der Sache und zu mir zu sagen hat, als „Aasgeier“. Ich entdecke einen mir bekannten Polizisten weiter hinten, aber der macht gerade Fotos und ist beschäftigt. Ich will gar nicht näher an den Unglücksort herantreten, ich bekomme Bilder von zerfetzten Leibern, eingeklemmt in zermalmtes Blech, nicht gut aus dem Kopf.
Ich bin nicht weich, nicht empfindlich, nicht zimperlich, habe so manches Bein schon wieder angenäht, Köpfe wieder an die richtige Stelle gemacht, aber irgendwann langt’s, nach so vielen Jahren. Wofür hat man Leute?

Ich soll ja nicht so viel rauchen, doch die Allerliebste ist weit, der Doktor weiß nichts davon und Harry, den freundlichen Tabakwarenmann freut es; ich klopfe mir eine Kippe aus der Schachtel, lehne mich an einen etwas in die Tage gekommenen grünen Transporter von der Polizei und schaue mir das Treiben, etwa 70 Meter entfernt, mit Gleichmut an. Bin ich aufgewühlt? Macht mir das alles was aus? Erschrecken mich die toten Menschen? So viel Leid?
Ja, sicher. Aber mir fehlt nach den vielen Jahren das Adrenalin. Zu viel habe ich schon gesehen, zu oft mußte ich in solchen Situationen einen kühlen Kopf bewahren, zu sehr ist man darauf trainiert, eben nicht in Aufregung zu geraten. Das würde unsicher machen, das könnte zu Fehlern führen und ich könnte vermutlich meinen Beruf irgendwann nicht mehr ausüben.
Retter, Feuerwehrler, Polizisten und Bestatter sehen Schlimmes und müssen doch damit umgehen können, das ist ihr Beruf. Das Leid und Elend jedes Mal tief in sich aufzunehmen, weit an sich heranzulassen, nein, das geht nicht, das würde einen kaputt machen.
Und doch bewahrt man sich die Empathie. Immer noch fühle ich mit. Mit den Angehörigen, die weinend vor mir sitzen, mit dem Menschen der kalt und leblos auf meinem Edelstahltisch liegt. Sie tun mir leid.

Das sind auch so in etwa die Gedanken, die mir in dieser Nacht durch den Kopf gehen und ich bin froh, daß Manni und Georg sich da um alles kümmern und ich meine Müdigkeit hinter einer glimmenden Zigarette verstecken kann.

Ich fahre zusammen, als wäre mir der Leibhaftige erschienen, als aus dem Dunkel hinter mir eine Stimme sagt: „Krieg ich auch eine?“
Mit einer Gänsehaut am ganzen Körper, so habe ich mich erschreckt, drehe ich mich um und sehe am Straßenrand fast ganz im Dunkeln einen Mann auf einem Kilometerstein sitzen. „Kann ich auch eine Zigarette bekommen?“ fragt er wieder und deutet mit dem Finger auf meine Kippe.

„Aber sicher“, sage ich, hole die Schachtel und das Feuerzeug heraus und reiche beides dem Mann. Ein Wagen fährt von der Unfallstelle weg und sein Scheinwerferlicht bringen die Jacke des Mannes am Straßenrand zu grellem Leuchten.
Erst da sehe ich, daß er eine rote Jacke mit breiten reflektierenden Streifen trägt. Er steht auf, will sich die Zigarette anzünden, doch der Wind ist etwas zu stark, deshalb dreht er sich um, schirmt die Flamme mit der anderen Hand und ich kann die Aufschrift auf seinem Rücken lesen. „Notarzt“.

„Ich rauche sonst gar nicht“, sagt der Mann und zieht den Rauch der Zigarette tief ein, dann fügt er hinzu: „Also jetzt seit acht Jahren nicht mehr.“

„Hab auch mal fast 13 Jahre nicht geraucht“, sage ich. Er nickt, meint dann aber: „Nee, ich fange jetzt nicht wieder an, aber jetzt ist mir danach.“

Ich nicke in Richtung der Unfallstelle und sage: „Schlimm, das Ganze da unten.“

Er winkt ab. „Eine große Scheiße ist das, eine ganz große Scheiße.“

Dann macht er eine abwehrende Handbewegung und sagt, so als ob er mir eine Erklärung schuldig wäre, weil ich etwas Falsches von ihm denken könnte: „Nicht, daß Sie meinen, ich würde mich hier herumdrücken. Nein, nein, da sind genug Leute da unten, fast schon zu viele. Ich war als Erster am Unfallort und…“
Er bricht ab, setzt sich auf das Trittbrett hinten am grünen Polizeitransporter, zieht nochmal an der Zigarette und tritt sie halbgeraucht auf dem Boden aus. „Schmeckt doch nicht“ sagt er und ich höre an seiner Stimme, daß er weint.
Ich setze mich neben ihn.

„Ich kann das nicht mehr“, weint er. Ich mache diesen Beruf, um Menschen zu retten, um Menschen zu heilen, um ihnen zu helfen. Und was ist das hier? Tote, lauter Tote! Alle so jung, so unfaßbar jung, so unnötig, alles so unnötig. Ich hau in den Sack, ich mach das nicht mehr, Station, Patienten im Bett, OP, alles gut und schön, aber das hier, nein, nein, das hier, das gebe ich mir nicht mehr. Das Mädchen ist zwei Jahre jünger als meine Tochter, der eine Junge ist genau so alt wie mein Ältester. Schluß, aus, vorbei. Ende der Fahnenstange.“

Ich lasse ihn weinen, sitze einfach nur so neben ihm und als es ihn unter Tränen regelrecht schüttelt, greife ich seine Hand und halte sie. Er drückt meine Hand, hält sie ganz fest und ich merke, wie allmählich das Zittern aus seinen Knochen schwindet.
Zwei Männer, Ende Vierzig, sie sitzen auf einem Gitterrost am Arsch eines Polizeiwagens und halten mitten in der Nacht Händchen.

Auch das ist Bestatterleben.

Bild: Ausschnitt aus einem Foto von Rainer Sturm/pixel io.de

© 2013

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  • blaulicht: Sascha

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