Geschichten

Mit einem Apfel im Maul II

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Da saß ich also nun äußerst elegant auf dem Barhocker in Dr. Schündlers Salon und trug eine sehr aktuelle Geschichte vor. Da ich nicht ständig irgendwelche Büchlein mit mir herumtrage, die gespannt Lauschenden aber auch nicht enttäuschen wollte, nahm ich ein Blatt aus meiner Jackentasche und hielt dies so, als ob ich dort ablesen würde.

flugferkel

Tat ich aber nicht, denn es war nichts weiter als eine Bescheinigung der Krankenversicherung, die ich für nichts brauche und die irgendwie den Weg in meine Jackentasche gefunden hatte und dort dann vergessen worden war. Habe dann noch schnell meine Brille zurechtgerückt, um so zu tun, als ob ich wirklich eine Geschichte ablesen würde.

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Aus dem Stegreif erzählte ich von der Erfindung der selbstgestrickten Astronautenmützen, mit denen Kinder in meiner Kindheit gequält wurden und von Handschuhfäustlingen, die von sorgsamen Müttern mit einer langen Schnur miteinander verbunden worden waren, damit die Kinder sie nicht verlieren.
Die Schnur lief dann durch die Ärmel der Jacke von einem Fäustling zum anderen; eine durchaus praktische Sache.

Allerdings war die Sache nur so lange praktisch, wie das Kind darauf verzichtete zu wachsen. Wurden nämlich die Arme länger, was ja bei Kindern manchmal schneller geht, als man glauben mag, dann war die Schnur sehr schnell zu kurz und ganze Generationen von Kindern liefen jahrelang nur mit angewinkelten Ellenbogen herum.

Vermutlich sind ganz viele wegen dieser vermeintlichen Fehlstellung der Extremitäten in Behindertenheime gekommen, operiert worden oder zumindest mal als Krüppel bemitleidet worden. Dabei hätte man nur die Schnur durchschneiden müssen.

Okay, diese Geschichte trage ich immer mit massivem Körpereinsatz vor, habe dann noch zu kurze Kniebundhosen und Stretchhosen mit Gummibandsteg unter dem Fuß auf Lager und gehe dann nahtlos zur heutigen Mode über, wo mir die Erwähnung der unter dem Arsche hängenden Sechswochenklo-Jeans immer einen garantierten Lacher einbringt.

Jedenfalls hat keiner gemerkt, daß ich nur improvisiere und mein Vortrag kann durchaus als voller Erfolg gewertet werden.
Kaum haben sich die Leute wieder etwas beruhigt und so manche Lachträne aus den Augenwinkeln gewischt, da klatscht Frau Dr. Schündler in die Hände und öffnet die große Schiebetür zum hinteren Teil des Salons, wo traditionsgemäß das große Büfett aufgebaut ist.
Herrliche Köstlichkeiten von allen Kontinenten dieser Erde sind da aufgetürmt und in mir brodelt der Saft des gierigen Hungers. Meine Frau hat vorsichtshalber den Zeigefinger ihrer rechten Hand von hinten in meinen Hosengürtel eingehakt; so macht die Hexe das immer und so verhindert sie seit Jahren äußerst wirkungsvoll, daß ich einer der Ersten am Bufett bin. Nie, nie, nie bekomme ich welche von den getrüffelten Kapereiern ab, nie!

Endlich spüre ich, wie ihr Finger sich lockert und ich hätte sogar noch die Chance, wenigstens eine der gewickelten Lachstrompeten zu bekommen, da hält mich Optikermeister Zirbel am Ellenbogen fest. „Ganz vortrefflicher Vortrag, mein Lieber, ganz vortrefflich!“ Ich bedanke mich artig, will mich schon in Richtung Büfett wenden, da zieht mich der Brillenfuzzi noch etwas weiter an die Seite.
Er habe da ganz zufällig ein Manuskript dabei, auf das ich doch mal ein Auge werfen solle. Es handele sich um einen Kriminalroman und der spiele, wie kann es anders sein, in einem Optikerladen. Da komme also ein Optiker drin vor, der der russischen Brillenmafia auf die Schliche gekommen sei und nun entspinne sich ein grausames Katz- und Maus-Spiel, in dessen Verlauf wenigstens vierzig fettleibige Frauen durch vergiftete Kontaktlinsen ums Leben gebracht würden. „Ganz tolles Buch, habe ich zwanzig Jahre dran gearbeitet, müssen Sie unbedingt mal lesen, sie haben da doch so einen Verlag, der könnte doch auch mal mein Buch drucken, wird bestimmt ein Bestseller, mit Brillen gibt es ja noch nichts, es heißt ‚Friedhof der Brillenkuschler‘, ha, was meinen Sie?“

Ich komme gar nicht dazu, ihm zu antworten, denn schon hat mich der vorsitzende Oberpräsident der Industrie- und Handelskammer am Wickel, der anläßlich des 60. Geburtstages seines Schwippschwagers dritten Grades aus erster Ehe eine gereimte Geburtstagsrede geschrieben hat, die er mir gerne geben möchte, damit ich ihm geschwind die eine oder andere Pointe hineinzaubere.
„Passen Sie auf, es geht so los“, sagt er und hebt an zu rezitieren: „Kaum zu glauben aber wahr, der Hugo wird heut‘ 60 Jahr‘! Na, wie finden Sie das? Sagen Sie’s mir ganz ehrlich, ich kann Kritik vertragen, es soll ja auch gut werden, na, was meinen Sie? Jetzt noch den einen oder anderen Gag rein, so was Zündendes, so was Lustiges, dann ist die doch perfekt, oder meinen Sie nicht?“

Jetzt sind auch die mit Kaviar gefüllten Reiskörner alle!

Ich deute auf einen mir völlig unbekannten Herrn am anderen Ende des Raumes und raune dem Industrie- und Handelspräsidenten zu: „Ach, da drüben ist ja Staatssekretär Dr. Friedbert von Wilde-Schaffrath, der ist ja für die Verleihung der Bundesverdienstkreuze zuständig…“ und schon ist der Handelspräsident verschwunden, um sich seinen ganz persönlichen Hosenlatzorden zu sichern.

Inzwischen ist das Büfett schon ziemlich abgegessen, aber wenigstens ist der große Ansturm jetzt vorüber und ich kann endlich einen Teller nehmen und mir etwas nehmen.
Das heißt, ich könnte mir was nehmen, wäre da nicht die 87jährige Mutter von Frau Dr. Schündler, die mit krummgebeugtem Rücken ihren Gehfrei-Roller vor das Büfett geschoben hat. Die alte Dame hat etwas gichtige Finger, es fällt ihr nicht mehr leicht, ein Messer zu halten aber genau das versucht sie. Zittrig schneidet sie sich ein Scheibchen von diesem ab, ein Stückchen von jenem und noch ein Zipfelchen von was anderem. Meine angebotene Hilfe lehnt sie höflich aber energisch ab: „Meinen Sie, ich bin gaga? Ich hab die Russen überlebt, drei Kinder durchgebracht und zwei Ehemänner ertragen, da werde ich wohl mit einem Büfett fertig werden.“

Ich habe keine Chance, an der Alten vorbei zu kommen, sie blockiert den Weg zu den gesoßten Entenmägen und legt eine Langsamkeit an den Tag, wie ich sie sonst nur von meiner Frau kenne noch nie zuvor gesehen habe.
Ich bekomme Sodbrennen, soviel hungrige Säure bereitet sich darauf vor, die tollen Ferkelflügelchen in Aspik da hinten zu vertilgen und von den gepilzten Gänsestopfohren sind auch noch welche da!

Die alte Dame dreht sich zu mir um: „So, junger Mann, ich bin jetzt fertig.“

„Das ist aber fein“, sage ich artig und will zur Seite treten, damit die Großmutter mit ihrem Rolator an mir vorbei kann, doch sie winkt mich herbei. „Bitte sind Sie doch so freundlich und tragen mir diesen Teller da drüben an den Tisch?“

Ich rupfe ihr den Teller aus den gichtigen Fingern und abermals stellt sich mir die Frage, warum so viele junge Menschen sterben müssen….
Den Teller stelle ich am angegeben Platz ab, doch als ich ans Büfett zurückkomme, ist die alte Dame damit beschäftigt, noch einen Teller zu füllen. „Ich mach jetzt noch die Häppchen für meinen Schwiegersohn fertig, der ist ja noch im Gespräch gefangen und es mag ja nicht angehen, daß ausgerechnet er als Gastgeber gar nichts bekommt. Ach, könnten Sie ihm sein Tellerchen bitte bringen? Ich mach‘ dann noch was für meine Tochter und dann ist ja auch schon alles alle…“

Ich nehme Dr. Schündlers Teller und will gerade in seine Richtung steuern, da fällt mein Blick auf die ganzen Köstlichkeiten, die die unglaublich langsame Alte da für ihren Schwiegersohn zusammengeschabt hat. Da sind sogar eingemachte Himbeerkerne aus den Vogesen drauf!
So halbrechts gibt es da einen Vorhang, der ein weiteres Zimmer abtrennt, durch den verziehe ich mich, setze mich im abgedunkelten Nebenzimmer auf ein Sofa und lasse es mir schmecken. Herrlich!
Kurz darauf stehe ich schon wieder bei der Alten am Büfett: „Ihr Schwiegersohn hat noch Hunger, machen Sie ihm doch noch ein paar Häppchen, ich bringe derweil ihrer Tochter diesen Teller hier…“

Ich glaub‘ ich hab‘ sechs oder sieben Teller leer gegessen… Die ist wirklich furchtbar nett, die Mutter von Frau Dr. Schündler.

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    Geschichten

    Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

    Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

    Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

    Lesezeit ca.: 10 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 27. September 2010 | Revision: 17. Dezember 2014

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    Salat
    14 Jahre zuvor

    [img]http://www.portraitfee.de/DSCN7670.JPG[/img]

    grinst
    Salat

    14 Jahre zuvor

    Sehr geschickt, wie Du die Situation zu Deinen Gunsten gedreht hast *fg*

    „eingelegte Himbeerkerne“ bääähhh, das einzige, was an Himbeeren eklig ist Wenn das Entkernen nicht so lästig wäre, würde ich die sogar essen 😉

    14 Jahre zuvor

    Herrliche Satire am frühen Morgen. Und Tom beweist ja hier absolute Standup-Qualitäten.

    Ach ich ärgere mich immer noch, dass ich nicht in Forchheim dabei war. 🙂

    Und jetzt schau ich mal ob ich noch Ferkelflügel bekomme. Stammen die vom Wolpertinger?

    Gruß
    Joe

    14 Jahre zuvor

    Man muß nach jungen Flugferkeln fragen.

    Big Al
    14 Jahre zuvor

    Oder nach jungen Stubenferkeln.
    B. A.

    turtle of doom
    14 Jahre zuvor

    *laaaach*. Sechswochenklo-Hosen…

    Ich bekomme gerade perverse Lust, an einer Hobbydichter-Lesung teilzunehmen.

    Tzosch
    14 Jahre zuvor

    Evtl. wäre es besser/gesünder gewesen wenn der Autor etwas weniger gegessen hätte 🙂

    Matze
    14 Jahre zuvor

    [quote]…müssen Sie unbedingt mal lesen, sie haben da doch so einen Verlag, der könnte doch auch mal mein Buch drucken…[/quote]

    Heißt jetzt aber nicht, dass dieser Optiker von Blog und Buch weiß, oder? O_o

    turtle of doom
    14 Jahre zuvor

    @ Matze:

    Wenn dieser Taugenichts vom Buch hört, kriegt der grad unheilbare Minderwertigkeitsgefühle und Tom einen Auftrag mehr… 😉

    14 Jahre zuvor

    Na die Speisen waren ja sehr ausgefallen 😉 Schön geschrieben.

    Und siehste, das nächste mal garnicht ans Büfett stellen sondern einfach behilflich sein. Da spielt dann auch die werte Gemahlin mit 😀

    14 Jahre zuvor

    Woher kommt mir nur der Name Wilde-Schaffrath bekannt vor?

    turtle of doom
    14 Jahre zuvor
    turtle of doom
    14 Jahre zuvor

    …und jetzt kommt von der Anstandsfraktion sicher der Vorwurf, ich lese zuviel in der Wikipedia. 🙁

    AnstandsFraktionsWauWau
    14 Jahre zuvor

    Pst, sonst kriegt Tante Jay wieder alles gesperrt im Krankenhaus-Web, wg. ***-Seiten. Und wegen *****-Seiten.
    Da fällt dann das Bestatterweblog auch wieder drunter.
    Turtle of doom, du liest zuviel in der Wikipedia.

    kall
    14 Jahre zuvor

    Für diese Klientel sind Quellen wie Bunte, goldenes Blatt etc. doch viel besser geeignet.

    Aber auch die „seriöse“ Presse meldet ab und an was in der Richtung z.B. dass Dolly Buster grad mal wieder frei sein soll 😉

    http://www.sueddeutsche.de/leben/prominente-liebesgeschichten-reife-damen-junge-herren-1.334841

    Alleswisser
    14 Jahre zuvor

    Beide Teile der Geschichte sind wahrhaft grandios! Ich habe Tränen in den Augen. Mein Kopf wäre beinahe geplatzt vor Überdruck – ich muss ja hier im Büro das Lachen unterdrücken. Naja, man soll während der Arbeit ja sowieso keine Blogs lesen…

    Auf jeden Fall DANKE für die Kurzweil!

    14 Jahre zuvor

    Da denk ich natürlich sofort an die Szene mit Loriot beim Bankett, wo der arme Kerl nicht beachet wird und nichts zu essen bekommt…

    Schweizer
    14 Jahre zuvor

    „Turtle of doom, du liest zuviel in der Wikipedia.“

    Vielleicht guckt er gerne Biologiefilme 🙂

    turtle of doom
    14 Jahre zuvor

    Waaaaa…. jetzt ist mein Ruf hier dahin!

    kall
    14 Jahre zuvor

    was für ein Ruf? 😉

    turtle of doom
    14 Jahre zuvor

    Oh warte… *taxi bestell* *in den Knast zurückfahr*

    kall
    14 Jahre zuvor

    Warum, Du weißt doch:
    Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich völlig ungeniert.

    14 Jahre zuvor
    turtle of doom
    14 Jahre zuvor

    *notier*

    Sensenmann
    14 Jahre zuvor

    *lach* Tom, du bist ja ein echter Kavalier! Dass du dem Ömchen völlig selbstlos die ganzen Teller zu den gewünschten Adressaten transportierst, finde ich wirklich gut 🙂

    Bei dem Optiker hab ich aber auch gedacht, dass der das Blog hier kennt…

    Und @turtle: Du liest zu viel im gesammelten Halbwissen 😉

    Mareike
    14 Jahre zuvor

    Oh je… ist das Kunst oder kann das weg? Das klingt schlimmer als ein Vampire Live-Toreador-Treffen.

    14 Jahre zuvor

    Tom? Wo machst du deine nächste Lesung? Mal gucken, ob ich dann endlich mal hier türmen kann und zugucken 🙂




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