Geschichten

Monsieur Otto

Herr Otto, Brüssel 1964

Als ich im frühen Nebelmond des Jahres 1959 geboren wurde, war die Welt wieder in Ordnung. Die Welt im Allgemeinen erholte sich vom Zweiten Weltkrieg, der gerade einmal 14 Jahre her war. Und auch das Familienglück meiner Eltern lief in entspannten Bahnen, denn der erstgeborene Sohn, mein älterer Bruder, war mit 16 aus dem Gröbsten raus.

Wir wohnten noch in der kleinen Wohnung meiner Großeltern, wo meine Eltern geblieben waren, um die Großmutter bis zu ihrem Tode 1957 pflegen zu können. Ein Jahr nach meiner Geburt war es dann so weit: Mein Vater hatte eine gute Anstellung und meine Eltern hatten eine erste schöne Wohnung in Aussicht, und ein wahnsinnig hoher Kredit von 2.000 Mark würde es ermöglichen, diese auch ganz im Stil der 50er-Jahre einzurichten. Der pomadige Cousin Hans, von dem die Eltern die schöne neue Wohnung übernahmen, hatte von dem Kredit erfahren und das hatte Begehrlichkeiten in ihm und noch mehr in seiner drallbusigen Frau Marianne geweckt. Damals im zerbombten Ruhrgebiet eine schöne, große Wohnung zu finden, war etwas ganz Besonderes und wertvoll wie ein Treffer in der Lotterie.
Hans konnte hoch pokern und verlangte eine Ablöse. Akribisch listete er Nägel, Schrauben, Fußleisten und Gardinenstangen auf, Pegulanböden, Haken, Ösen, Farben, Lacke und Tapeten und Steckdosen. Das alles hatte er in der Wohnung angebracht und verlangte fast die ganzen zur Verfügung stehenden 2.000 Mark als Abstandssumme. „Wenn ihr das nicht zahlen könnt, kein Problem, es stehen dreißig Familien Schlange, um die Wohnung zu bekommen.“

So kam es, dass die schweinefüßige Marianne sich eine vergoldete Weltkugel zum Umhängen beim Juwelier kaufen und Hans mit seiner Familie seine neue Wohnung neu einrichten konnte. Meine Eltern zogen mit uns zwei Kindern in eine über 100 qm große nahezu leere Wohnung und waren trotzdem glücklich.
Als ich zwei Jahre alt war, ging mein Bruder zur Bundeswehr und blieb auch weg. Ich habe also zwar einen Bruder, doch ich wuchs trotzdem als Einzelkind auf. Es war schön, in den 1960er-Jahren aufzuwachsen. Die Welt war geordneter, die Menschen sprachen noch miteinander und man hatte Respekt voreinander. Wir Kinder waren frei und konnten machen, was wir wollten. Heutige Kinder würden das nicht überleben, keine zehn Minuten.

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Große Sprünge konnten sich meine Eltern nicht erlauben, aber rückblickend muss ich sagen, dass es mir an nichts gemangelt hat. Wer hätte nicht gerne das eine oder andere auch noch gehabt? Aber das, was man brauchte, war alles da. Es war eine Zeit, als der Verdienst eines einfachen Mannes für den Unterhalt einer ganzen Familie reichte. Man konnte sogar noch ein bisschen was zur Seite legen.
Es war schon so, dass meine Mutter streng mit mir war und ich oft genug einfach nicht das bekam, was andere Kinder hatten. Das hatte seine Gründe, die zu erzählen, hier zu weit führen würde, an denen ich aber keine Schuld trug. Im Grunde war mir das auch egal, mich beschämte nur, dass ich als Kind es sein musste, der sich beispielsweise in der Schule dann rechtfertigen musste, weshalb der benötigte Zirkelkasten nicht angeschafft worden war.
Egal, einfach egal. Ich konnte mit viereinhalb Jahren schon lesen und mit neun schon Schreibmaschine schreiben. Meine Welt waren die Bücher der Erwachsenen, die ich in Massen verschlang. Also die Bücher jetzt, ist ja klar.

Doch es gab da eine Sache, die mir wirklich gefehlt hat. Es gab da was, das alle anderen Kinder hatten, bloß ich nicht. Großeltern!

Ich habe meine Großeltern nie kennengelernt, sie waren schon tot, als ich geboren wurde. Obwohl! So ganz stimmt das nicht. Die Mutter meines Vaters, also meine Oma, die ist erst gestorben, als ich zwei Jahre alt war. An sie habe ich eine schemenhafte Erinnerung und sehe einen einmaligen Besuch bei ihr vor meinem geistigen Auge, in dessen Verlauf ich einen Teddy geschenkt bekommen habe, der heute noch im Schlafzimmer bei mir auf der Fensterbank sitzt. Aber trotzdem bleibt es dabei: Wenn wir meine Großeltern besuchten, dann bedeutete das, nach Gelsenkirchen oder Freisenbruch auf den Friedhof zu gehen.

Wenn ich also zu Oma und Opa ging, wartete kein Schoß auf mich, auf den ich mich setzen konnte. Keiner hatte Leckereien für das Enkelkind parat und niemand war da, mit dem reden konnte, wenn es zu Hause mal schlecht lief. Es gab auch niemanden, der einem eine Mark zusteckte, wenn man eine gute Note nach Hause brachte, und keinen, den man in den Ferien besuchen konnte.

Mein Umgang mit den Großeltern bedeutete Erde schleppen, Gießkannen füllen und an Allerheiligen Laternchen aufs Grab stellen. Meine Opas und Omas waren zwei Quadratmeter groß und hatten einen Grabstein.

Ich mag fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als wir meine Cousine Waltraud und ihren Mann in Brüssel besuchten. Cousin Marcel verdiente gut und er und Waltraud lebten in der belgischen Hauptstadt in bescheidenem Wohlstand.
Der Besuch in Brüssel brachte drei ganz tolle Neuerungen für mich mit sich: Ich sah das erste Comic-Heft mit den Schlümpfen, durfte mir Sprühsahne direkt aus der Sprühdose in den Mund schäumen, bis mir schlecht wurde, und da war Herr Otto.

Herr Otto wohnte im selben Hochhaus wie Waltraud und Marcel und gehörte bei denen irgendwie zum Inventar.

Eigentlich hieß Herr Otto gar nicht Herr Otto. Er hatte einen unaussprechlichen und abenteuerlich langen Vornamen und einen noch viel schlimmeren Konsonantensteinbruch als Nachnamen. Der Einfachheit halber nannte ihn jeder einfach nur Monsieur Otto.
Der schon über 70-Jährige stammte aus irgendeinem Teil der ehemals belgisch kolonialisierten Welt und sprach ein harsches Französisch. Deutsch konnte er auch, das sprach er aber nicht mehr, nachdem er von den Deutschen nach der Besetzung Belgiens in ein KZ verschleppt worden war. Seine Peiniger im KZ hatten ihn so schwer verprügelt, dass seine Rippen die Lungen durchbohrt hatten. Davon hatte sich Herr Otto nie wieder richtig erholt, weshalb er nur sehr leise sprechen konnte.

Herr Otto sah aus, wie ich mir einen alten Juden oder genauer gesagt einen alten Rabbiner vorstellte. Dunkle Augen, eine orientalisch wirkende Kappe auf dem Kopf, unter der an den Schläfen lange Locken hervorschauten, ein langer, seidiger Bart und an den Füßen so etwas wie eine Mischung aus Pantoffel und Schnabelschuh.

Der Alte hatte Freude an dem kleinen, dünnen blonden Jungen mit der sahneverschmierten Schnute und so kam es, dass ich fast die ganze Zeit bei ihm auf dem Schoß saß, seinen schönen Bart streichelte und seiner warmen Stimme lauschte. Denn, obwohl der Mann zwanzig Jahre lang kein Wort Deutsch mehr gesprochen hatte, die Sprache seiner Peiniger, redete er leise mit mir dann doch auf Deutsch.
Ein Märchen nach dem anderen erzählte er mir, sagte den Erlkönig und Schillers Glocke auf und erklärte mir, wer Faust und Mephisto waren. Monsieur Otto hätte mir auch das Telefonbuch von Brüssel vorlesen oder aus der Tora vorbeten können, mir wäre das egal gewesen.

Das erste Mal in meinem Leben konnte ich einen echten Opa spüren, riechen, anfassen und hören. Ich weiß heute noch genau, wie der Bärtige roch: Nach Kümmel und Rosenwasser.

Für vier oder fünf Stunden hatte ich das einzige Großeltern-Erlebnis meines Lebens.

Ich habe den Mann danach nie wiedergesehen, ein paar Jahre später ist er an seinem Lungenleiden gestorben.
Wenn ich heute irgendwo Sprühsahne bekomme oder etwas von den Schlümpfen sehe, muss ich sofort an diesen Opa für fünf Stunden denken.

Bildquellen:
  • herr-otto: Peter Wilhelm KI


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Die teils auch als Bücher erschienenen Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Sie haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Ähnlichkeiten mit existierenden Personen sind zufällig, da Erlebnisse nur verändert-anonymisiert wiedererzählt werden.


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Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 11. März 2025

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2 Kommentare
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Tia
6 Stunden zuvor

Seufz, ja ich weiß ganz genau was Du meinst ich hatte das Glück eine Art Opa wie „Monsieur Otto“ gehabt zu haben, und ganz sicher waren Beide die besten „Opas“! Schade dass Du den Deinen nur einmal haben konntest!

Bowler58
2 Stunden zuvor

Ich bin Jahrgang 58 und unterschreibe jeden Satz! Um so unverständlicher ist die heute häufige „Zurückhaltung“ der Eltern, den Umgang ihrer Kinder mit den Großeltern betreffend. Sind wir wirklich so „schädlich“ mit unserer Lebensart? Es ist sooo traurig…




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