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Nur noch ein letztes Mal

„Das geht so gar nicht! Das geht überhaupt nicht!“, schnarrte eine unangenehm schneidende Stimme aus dem Telefonhörer.
Ich, der sich ordentlich mit Namen gemeldet hatte, hätte eigentlich erwartet, daß auch der Anrufer sich erst einmal vorstellt, aber offensichtlich gehörte dieser Mensch zu denjenigen Vertretern der Menschheit, die so von sich und ihrer Außenwirkung überzeugt sind, daß sie annehmen, jeder müsse auch sofort am Telefon ihre Stimme erkennen.
Ich hasse diese „Ich bin’s!“-Anrufe. Wie oft schon habe ich rätselraten müssen, wer da gerade am anderen Ende der Leitung war. In den Jahren, als ich mein Bestattungsunternehmen betrieb, hatte ich einen drehbaren Ständer mit Adresskärtchen und dieser Ständer war üppig gefüllt. Sagen wir, es seien an die 400 Kärtchen gewesen, eine Menge Leute also, die für einen Anruf in Frage kommen; und darunter doch recht viele, die ich eben nicht sofort an der Stimme erkennen konnte.

„Ja, und wer ist da bitte?“, fragte ich zurück und der schnarrende Anrufer ließ mich dann doch tatsächlich wissen: „Ich bin’s!“

„Ja klar“, antwortete ich: „Davon bin ich überzeugt. Aber vielleicht verraten Sie mir auch noch, wer Sie sind, oder hat man vergessen, Ihnen einen Namen zu geben?“

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Mit dieser Formulierung hatte ich mich recht weit aus dem Fenster gelehnt, denn es hätte ja auch ein Kunde sein können, der aus gutem Grund aufgebracht war und in seiner Aufregung vergessen hatte sich anständig zu melden, aber der Unterton, der da schnarrend mitschwang, klang eher nach Behörde und Ärger.

„Was?“, fragte der Anrufer nur verwirrt und genau das war der Moment, in dem es mir zu bunt wurde. „Wissen Sie was, ich leg jetzt auf, wenn Ihnen wieder eingefallen ist, wie Sie heißen, dann rufen Sie einfach noch mal an.“ Päng!

Keine zwanzig Sekunden später läutete das Telefon wieder und dieses Mal meldete sich die gleiche Stimme wie zuvor: „Hier ist Weibel, Verwaltungsdirektor Weibel!“
Okay, damit war dieser Punkt endlich geklärt und mir wurde klar, daß irgendwo im hoheitlichen Einflußbereich des verwaltenden Direktors, also vermutlich auf einem seiner Friedhöfe, sich irgendjemand, der zu meinem Einflußbereich gehörte, nicht so benahm, wie der direktierende Verwalter es sich vorstellte.
Dabei ist die Vorstellungskraft von beamteten Verwaltern zumeist sowieso nur von eingeschränkter Weite und paßt allemal in den engen Raum, den der Setzer zwischen zwei abgedruckte Paragraphen gelassen hat.
Einmal anders denken, etwas Neues zulassen, mal Menschen einfach Mensch sein lassen, das gehört alles sowieso nicht zur deutschen Leitkultur und somit ist alles, was nicht in vorauseilendem Gehorsam von beinahe jedermann hechelnd befolgt wird, von vornherein verdächtig, geht gar nicht oder sogar überhaupt nicht.

„Was ist denn los?“, fragte ich und er fragte sinnloserweise zurück: „Was los ist?“

Das nervte mich auch schon wieder, denn just an diesem Tag wurde in Indien der Mensch geboren, der das indische Volksfaß zum Überlaufen brachte und die Inder zum bevölkerungsreichsten Volk der Erde machte. Mit anderen Worten: Es mußte ab diesem Tag der berühmte Sack Reis nicht mehr in China, sondern in Indien umfallen; oder andersherum gesagt: Es passierte just an diesem Tag weltweit so viel, daß ich nicht im Geringsten ahnen konnte, was von den vielen Dingen, die gerade los waren, ausgerechnet Herrn Friedhofsoberdirektor Weibel bewegte.

„Ab jetzt machen wir Nägel mit Köpfen!“, schnarrte es aus dem Hörer.

Auch wieder so ein Blödsinn! Wurden denn die Nägel bisher ohne Köpfe gemacht? Und wozu hätten die kopflosen Nägel dienen sollen, ja, wofür sollen die mit Köpfen nun dienen und seit wann machen Friedhofsbeamte Nägel?
Ja und wenn schon, wer ist dann derjenige der die Nägel einschlägt, und noch interessanter: Wer hat den Hammer?

„Jetzt mal ganz ruhig, Herr Weibel, was ist denn passiert?“

„Diese Frau hat eine Leiche entführt und sie stellen das jetzt ab und zwar ein bißchen basta, aber tutto basta!“

Ah ja, Italienisch konnte er also auch nicht, was ich auch nicht erwartet hätte und ihm auch nicht zutraute, aber warum soll jetzt nur ein bißchen basta, also ein bißchen Schluß sein, und mit was? Und tutto basta sollte dann wohl bedeuten, daß jetzt sämtliche Schlusse auf einmal wären …?

„Was für eine Leiche ist denn von welcher Frau entführt worden und wohin?“

„Auf dem Waldfriedhof in der Trauerhalle … Und Sie fahren da jetzt sofort hin und beenden das … Die Polizei wird sich auch für den Fall interessieren, jawoll ja, die ruf ich jetzt auch gleich an.“

„Also gut, es passiert also gerade irgendwas in der Trauerhalle des Waldfriedhofs und bei diesem Geschehen spielen eine Frau und eine Leiche eine Rolle. Wesentlicher Bestandteil dieser Vorgänge ist die Tatsache, daß sich eine Leiche jetzt nicht mehr da befindet, wo sie sich befinden sollte? Habe ich das so richtig verstanden?“

Es muß wohl die richtige Schlußfolgerung gewesen sein, denn ich hörte nur noch ein schnarrend geschnaubtes „Polizei“ und dann hatte der Weibeldirektor auch schon ausgeweibelt und den Hörer auf die Gabel direktiert …

Es half ja alles nichts, ich mußte sofort zum Waldfriedhof fahren. Zuvor schrieb ich mir bei Frau Büser, der guten Seele unseres Büros, die Namen der vier Verstorbenen ab, die wir auf den Waldfriedhof gebracht hatten.
Zwei Männernamen, zwei Frauennamen.
Alle vier waren am Abend zuvor, beziehungsweise in der Nacht von Manni und seinem Kollegen geholt worden. Sandy hatte frühmorgens schon die Beratungen gemacht und ich war bei diesen Sterbefällen uninformiert und hatte Sandy auch nicht dazu befragen können, denn die junge Deutsch-Amerikanerin war zu den Standesämtern unterwegs, um die Papiere erledigen zu lassen.

Gleichzeitig mit mir traf Generalschnarrer Weibel am Waldfriedhof ein. Der feiste Graubartträger hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst vor Ort zu erscheinen, um mich sogleich wieder mit Lalldeutsch zuzutexten. „Jetzt werden wir ganz andere Seiten aufziehen, die man nicht so einfach umblättern kann!“, schnaubte er und wischte sich den Schweiß mit einem karierten Stofftaschentuch von der Stirn.
Gut, normalerweise zieht man Saiten auf und zwar auf ein Saiteninstrument und diese Saiten kann man für gewöhnlich nicht umblättern, aber das bißchen Wissen wollte ich ihm jetzt nicht auch noch vermitteln und sagte stattdessen: „Wußten Sie, daß nur noch 3,5 % aller Deutschen Stofftaschentücher verwenden?“
Weibel glotzte erst mich, dann sein Taschentuch an, sein Mund ging zwei-, dreimal auf und zu und ihm blieb das Schnarren im Halse stecken. Blubb, blubb!

Schnell hatte er sich gefaßt, ging schnellen und schnaufenden Schrittes in Richtung der Aufbahrungsräume und da Schnellgehen, Schnauben und Sprechen bei ihm nicht gleichzeitig gingen, deutete er mit der Stummelantenne seines Handys auf eine Frau, die vor der Tür einer Aufbahrungszelle auf und ab ging.
Als wir näher bei ihr waren, hörte ich, daß die Frau ein Lied sang. Erst dachte ich, sie sänge auf niederländisch, doch dann erkannte ich, daß sie plattdeutsch sang. Dabei wiegte sie ein in eine Decke gewickeltes Baby in den Armen und drückte es immer wieder an sich.

„Sehen Sie selbst! Das ist vorschriftswidrig, das ist eine Leiche, die der öffentlichen Obhut überstellt wurde und die dem Sarg entnommen wurde. Das ist Leichenfledderei und Störung der Totenruhe!“
Weibel hechelte kurzatmig nach dieser Amtsschnarrung.

Einige Meter weiter saß ein Mann auf einer Bank und weinte. Immer wieder blickte er auf die Frau mit dem Baby und schluchzte dann laut auf.

„Sie, Sie bleiben jetzt einfach hier stehen und halten mal für fünf Minuten die Klappe!“, sagte ich zum Amtsweibler und muß das, zweimetergroß und zweizentnerschwer, so überzeugend vorgebracht haben, daß Weibel wieder nur mit einem Blubb, Blubb auf den offenstehenden Lippen da stand und stehen blieb.

„Schlimm, das alles, oder?“, sagte ich zu dem Mann, während ich mich neben ihn auf die Bank setzte. Ja, zugegeben, die Frage war blöd, aber zweckdienlich, denn der Mann nickte und sagte: „Sie war doch erst 10 Monate alt, unsere Emma-Hermione-Auguste …“
Okay, Eltern gehören eigentlich geprügelt, wenn sie ihre Kinder Emma-Hermione-Auguste nennen, aber es war klar, daß der Mann gestraft genug war.
Den Namen Emma-Hermione hatte ich bei Frau Büser abgeschrieben, war aber davon ausgegangen, daß Emma der Vorname einer älteren Dame und Hermione der Nachname sei.
Nun gut, oder genauer: Nun schlecht, es war klar, daß es sich bei Emma-Hermione-Auguste um das Kind dieser beiden Leute handelte und es war auch klar, warum sich der Amtsschnarrer so aufgeweibelt hatte: Die Eltern waren zum Friedhof gefahren, um von ihrer Tochter am Sarg Abschied zu nehmen und die Mutter hatte nicht anders gekonnt, als das Mädchen hochzunehmen und an sich zu drücken.

Klar, das paßte nicht in des Weibels Amtsgehirn und deshalb schaute er auch die ganze Zeit von mir zu der Frau und deutete, immer noch nur zu mehreren Blubbs fähig, immer wieder mit der Stummelantenne seines Telefons auf die Frau.

Gerne hätte ich in diesem Moment dem Mann auf der Bank noch etwas Trost gespendet, aber ich erkannte, daß dem Friedhofsdirektor die Blubbs ausgingen und er wieder das Wort Polizei mit den Lippen formen konnte.
Was wollte der eigentlich? Das verstorbene Kind gehörte ihm nicht, es war auch nicht in die Obhut der Verwaltung gegeben und im Grunde genommen hatten allein die Eltern das Recht, zu bestimmen, was – innerhalb der gesetzlich gesteckten Grenzen – mit dem Leichnam ihrer Tochter geschah. Wenn sie das Kind in den Armen halten wollten, so war das ihre Entscheidung; sie hätten es auch mit Salbe einreiben, kämmen oder schminken dürfen. Wenn man Angehörigen die Möglichkeit einräumt, am offenen Sarg in direktem Kontakt mit dem Verstorbenen Abschied zu nehmen, dann muß man auch in Kauf nehmen, daß diese den Leichnam berühren, ihn küssen oder, wie das im Falle eines Kleinkinds möglich ist, ihn hochnehmen und ein letztes Mal an sich drücken wollen.

Aber nein, die Friedhofsverwaltung ist da anderer Meinung; war sie schon immer … Anders war es nicht zu erklären, daß eine ganz neu erstellte Trauerhalle auf einem anderen Friedhof wieder einmal mit gekachelten Schlachthof-Leichenzellen und einer Glasscheibe als Trennung zu den Angehörigen gebaut worden war.
Angucken ja, aber nur unter Inkaufnahme der städtischen Regeln, die durch kein Bestattungsgesetz eine Grundlage haben. Da baut man statt annehmlicher, gemütlicher Räumlichkeiten, die würdevoll den Schrecken der Situation mildern, weißgekachelte Räume wie in der Abdeckerei und verlangt von den Familien, ihren Verstorbenen durch eine zentimeterdicke Glasscheibe zu betrachten, die aufgrund der Kühlung auch noch die meiste Zeit beschlagen ist. Schön ist anders!

Weibel setzte sich in Bewegung und ging auf die Frau zu. Ich hätte gar nicht gedacht, daß ich zu so schnellen Bewegungen in der Lage sein würde, schaffte es aber, von der Bank los zu spurten und noch vor dem Blubbdirektor bei der Frau anzukommen und mich zwischen sie und den Amtsfriedhöfler zu stellen. Gerade war die Frau mit ihrem Lied fertig, da schien sie mich überhaupt erst zu bemerken, rang sich ein verzweifeltes Lächeln ab und sagte mit entschuldigendem Ton: „Das hat mir meine Oma immer vorgesungen. Ich kenne die Worte zwar, aber so richtig verstehen tue ich Plattdeutsch gar nicht. … ist aber trotzdem schön, das Lied, oder?“

„Ja, is‘ schön! Sehr schön sogar!“ sagte ich und spürte, daß mir Weibel die Stummelantenne in den Rücken pikste.

Ich fuhr herum, stand Gesicht an Gesicht dem Schwitzenden gegenüber und starrte ihn an. Meine Lider morsten ihm zu: „Noch einmal piksen und Du bist ein Fall für den Amtsarzt!“

Weibel hüstelte nur und trat einen Schritt zurück. Ich hob den Zeigefinger und zischte nur: „Vorsicht, Meister!“

Dann drehte ich mich wieder um, legte den Arm um die Frau und führte sie in die Aufbahrungszelle zurück. Ohne weitere Worte legte sie das Kind wieder in den Sarg, deckte es zu, fuhr noch einmal ordnend mit den Fingern durch das Haar des kleinen Mädchens und trat dann einen Schritt beiseite.
„Alles gut?“, fragte ich und sie nickte stumm.
Als ob es das Selbstverständlichste von der Welt sei, nahm ich den Sargdeckel und legte ihn auf den Sarg. „Emma muß bald gehen“, sagte ich: „Wir lassen Sie jetzt besser alleine.“
Wieder nickte die Frau ohne ein Wort zu sagen und ich führte sie aus der kargen Zelle ins Freie.

Weibel stürmte auf die Frau zu, die Handyantenne vorgereckt wie ein Degen, doch die Frau hielt ihm ihre Hand hin, die der Friedhofsmeister verdutzt ergriff. „Vielen Dank an Sie beide, daß Sie mir das ermöglicht haben“, sagte die Frau, schüttelte die Hand des Feisten und blickt zwischen ihm und mir hin und her.
Der Schwitzende war sprachlos und ich klopfte ihm auf die Schulter: „So isser halt, unser Friedhofsdirektor Weibel, eine Seele von einem Menschen, ein ganz Gutherziger, der gerne mal Fünfe gerade sein läßt, nicht wahr, lieber Weibel?“

Er nickte mit offenstehendem Mund und glotzte mich ungläubig an.

Ich glaube, der steht heute noch da …

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(©si)