Geschichten

Opa Kleiber -III-

Ich denke natürlich nicht jeden Tag an Opa Kleiber. Um ehrlich zu sein, habe ich mich in all den Jahren nicht besonders um ihn gekümmert. Ein paar Mal mußte ich vor dem Friedhofsbüro auf den Verwalter warten und hatte mich zum Zeitvertreib mit dem alten Mann unterhalten.
Daher wußte ich, wer das war und warum er da saß. Daß er mir irgendetwas bedeutete, kann man wirklich nicht sagen, es war eben nur ein alter Mann auf einer Friedhofsbank. Man kannte sich, man sprach gelegentlich ein paar Sätze, das war’s.

Für mich persönlich losgegangen ist die Opa-Kleiber-Geschichte an dem Tag, als mir sein Fehlen aufgefallen war. Da begann ich überhaupt erst, über ihn nachzudenken. Aber das war auch gleich wieder vorbei; ich kann heute nicht einmal mehr sagen, wie lange Opa Kleiber von Quallen-Gustl vertrieben gewesen ist.

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Der alte Herr war mir erst wieder aufgefallen, als er eines Tages doch wieder dort saß. Und natürlich war das wohl schon immer so gewesen, daß er mit dem Eintritt in die kalte Jahreszeit seine Besuche auf dem Friedhof kürzer gehalten hatte. Aber so ist das eben manchmal mit der Wahrnehmung der vermeintlichen Wirklichkeit.

Frau Sonnentau, uralte Witwe eines jüdischen Arztes und inzwischen selbst schon lange verstorben, sah mich vor vielen Jahren einmal, wie ich mit einem Schlauch neu eingepflanzte Sträucher bewässerte; das war da, als wir so einen furchtbar heißen Sommer hatten. Meine Frau hatte noch mit mir geschimpft, weil ich die neuen Pflanzen so selten begossen hatte und als ich es dann doch eines Tages wieder tat, kam abermals die Witwe Sonnentau des Weges. Es vergingen wieder fast zehn Tage, die Sträucher kümmerten in der flirrenden Hitze und nur dem ungemein freundlichen Bitten meiner Allerliebsten war es zuzuschreiben, daß ich mich mal wieder mit dem Schlauch in den Vorgarten stellte, wo mich dann wieder die alte Frau Sonnentau gesehen hatte.

Ein Tag später stehe ich bei der Gemüsefrau und freue mich gerade über besonders prächtige Feldfrüchte, da sagt die zu mir: „Ja, und die sind so schön, obwohl da nicht jemand ständig dabei steht und tausende von Litern wertvolles Trinkwasser drübergießt. Sie stehen ja praktisch den ganzen Tag im Vorgarten und wässern alles, soviel Zeit und Geld möchte ich auch mal haben. Sagen Sie nichts! Die Witwe Sonnentau hat Sie gesehen. Immer wenn die da vorbeikommt, dann stehen Sie da und gießen.“

Dreimal hatte ich in diesem Jahr damals das Gießen übernommen und jeweils für fünf bis zehn Minuten gewässert. Von ’ständig‘ und ‚den ganzen Tag‘ konnte überhaupt keine Rede sein.
Doch in der Wahrnehmung der Witwe Sonnentau war es schiere Realität: Dieser Mann gießt Tag für Tag, stundenlang seine Blümchen.

Genau so war das mit Opa Kleiber, der saß eben immer da.

Also, jetzt saß er wirklich wieder da und das freute mich. „Na, wieder da?“ lautete meine mehr als dämliche Frage, aber was Besseres war mir nicht eingefallen. Diese Einstiegsfragen sind ja oft an Blödheit nicht zu überbieten und verlangen ja eigentlich auch keine wirklich Antwort, sie dienen nur der Gesprächseröffnung, so als wenn zwei Schachspieler sich vor der Partie ihre Hände reiben und dann der eine zum anderen sagt: „So, dann wollen wir mal spielen.“
Ja was denn sonst?

Ja, er sei jetzt wieder da, er habe sich ja so über den dicken Mann geärgert, der ihn wie einen Landstreicher oder Pennbruder vertrieben hatte. „Aber ich hab‘ jetzt mal im Friedhofsamt angerufen und nachgefragt, da haben die mir gesagt, daß ich hier sitzen darf. Ich darf nur nichts verkaufen, keine Reklame machen, keine Tauben füttern und kein Picknick veranstalten.“

Von rechts näher sich Quallen-Gustl in seiner unnachahmlichen Art. Ich weiß nicht genau, ob Dicke besonders oft X-Beine bekommen oder ob X-Beinige besonders oft dick werden, jedenfalls hat die Qualle X-Beine. Dabei laufen die Oberschenkel schön gerade und parallel und ab den Knien sind die Unterschenkel etwas ausgestellt. Dadurch, daß die Beine von Gustl ziemlich dick sind, macht er beim Laufen so ein reibend-schmatzendes Geräusch, wenn seine graue Uniformhose zwischen den Oberschenkeln reibt.
Vielleicht sind seine Oberschenkel aber auch doch nicht gerade und parallel, denn um seine Knie ordentlich aneinander vorbeibewegen zu können, macht Gustl so einen merkwürdigen Außenschwung, mal mit dem linken, mal mit dem rechten Bein, was ihm, bei aller Langsamkeit, eine Art schwankenden Gang beschert. Dadurch sieht es so aus, als sei das Laufen für ihn überaus anstrengend und mit viel mehr Bewegungen verbunden, als für andere Menschen.
Durch diese schwankende Gehweise wabbelt sein Speck um Bauch und Hüften noch viel mehr und das zigarrenrauchgeschwängerte Schnaufen des dicken Mannes unterstreicht gewisse Parallelen zu einem See-Elefant in der Brunst.

Damit ihn bei dem ganzen Geschwanke und Gelaufe der dicke Oberkörper nicht aus dem Gleichgewicht bringt, läuft Gustl mit v-förmig weit auseinandergestellten Füßen, sozusagen um die Unterstützungsfläche zu vergrößern.
Es sieht fast ein bißchen aus, als wolle ein See-Elefant mit den Füßen Schnee räumen.

Als die Qualle auf unserer Höhe ist, er ist noch etwa fünf Meter entfernt, bleibt er kurz stehen, blickt in unsere Richtung, zieht einen Lappen aus der Hosentasche und wischt sich den Schweiß von der Stirn und dann macht er eine wegwerfende Handbewegung und geht weg.

„Ach ja, der ist nicht gut auf mich zu sprechen, der hat von ‚oben‘ einen Anruf gekriegt, daß ich hier sitzen darf“, sagt Opa Kleiber und malt mit der metallenen Spitze seines Spazierstocks Kringel in das Gemisch aus grauem Kies und Sand, das die Friedhofswege bedeckt.
„Dabei sitz‘ ich doch so gerne hier. Da hinten…“, er deutet mit der Spitze seines Stocks in eine bestimmte Richtung, „…da liegt doch meine Frau. Hier ist so schön, ich sitz hier so gern‘. Aber jetzt muß ich heim.“

Ein paar Minuten unterhalten wir uns noch, dann erhebt sich der Alte und ich begleite ihn noch bis vorne auf den Gehweg vor dem Friedhof, dann trennen sich unsere Wege.

Na ja, dann ist ja alles wieder gut, Opa Kleiber darf wieder da sitzen: Punktsieg für den alten Herrn. Und wieder einmal bestätigt sich meine Theorie, daß die älteren Leute gut daran tun, wenn sie ihren Mund aufmachen und nicht nur in sich hineingrummeln. Sie haben doch schließlich den Vorteil, daß sie auch mal jung waren und den etwas jüngeren Leuten nur sagen müssen, was sie genau wollen. Wir etwas Jüngere waren aber noch nie alt. Woher sollen wir wissen, was die alten Leute wirklich wollen?

Bei Opa Kleiber ist das klar, er will nur da sitzen, einfach nur da auf dieser einen Bank hinter der Trauerhalle sitzen, jeden Tag ein bißchen, da freut er sich drauf, da ist er zufrieden.

Am Nachmittag, gerade ist die letzte Trauerfeier vorbei, bin ich mit dem Bestattungswagen zum Friedhof gefahren und lade gemeinsam mit Sandy unsere Trauerhallendekoration ein.
Die Trauerhalle ist zwar vor ein paar Jahren sehr aufwendig renoviert worden, aber immer noch eine schmucklose, kalte Bude. Deshalb bringen wir oft ein paar Edelstahlständer über die wir Tücher spannen und als Hintergrund hinter den Sarg stellen. Auch ein paar Kerzenständer und Buchsbäume (künstlich, aber superklasse aussehend und verflixt teuer) stellen wir dann und wann auf.

„Ob das überhaupt erlaubt ist… Da muß ich mal drinnen nachfragen“, meldet sich die Qualle zu Wort, pafft kurz an seiner Zigarre und deutet auf ein paar Blütenblätter die von einem der Kränze der etwa vier Beerdigungen an diesem Tag heruntergefallen sein müssen: „Den Dreck macht ihr aber auch fein weg, ne?“

Die Arbeit auf dem Friedhof wird von Antonio und Pedro erledigt. Antonio ist Sizilianer und Pedro kommt aus Spanien. Irgendeine uralte Rivalität scheint es zwischen diesen Völkern zu geben und so kabbeln sich die beiden, obwohl sie wirklich gerne zusammen arbeiten und inzwischen die besten Freunde sind, ständig mit fast schon bösartigen Sprüchen über die jeweils andere Nation. „Sinte die ßpanier zu doof zumme Pizza mache, könne’se auch nicht Laub fege, gell Pedro, biste zu doof für Laub!“

„Inselaffe, italienischer! Mafiosi!“ kontert der Spanier und die beiden setzen sich in ihren Zweizylinder-Minipöttpött und fahren lachend los, um den Kampf gegen das herbstliche Laub wieder aufzunehmen. Später müssen sie noch zwei Gräber komplett verschließen, dann nochmal ans Laub und dann ist irgendwann Feierabend.
„Ja, die Arbeit reißt nicht ab“, sagt die Qualle, kratzt sich oben auf dem Kopf, spuckt sich in die Handfläche und klebt sich seine Lügnerfrisur wieder fest, dann geht er in sein Büro.
Vermutlich setzt die faule Sau sich jetzt auf ihren fetten Arsch und wartet auf den Feierabend, denke ich, doch weit gefehlt. Wenige Minuten später kommt Gustl mit einem grauen Werkzeugkasten und stapft hinter die Trauerhalle.

Ach, du meine Güte! Der wird doch wohl nicht irgendwas arbeiten?

Sandy macht hinter seinem Rücken eine Geste, so als wolle sie sich ihre ganze linke Hand in den Rachen schieben und meint: „Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte, wenn ich den sehe. Wenn Du nicht dabei bist, Chef, dann fällt der mir immer fast in den Ausschnitt und leckt sich blöd seine Lippen; und zotige Sprüche macht der auch immer.“

Wir sind fertig, der Quallenmann kommt auch wieder und hat neben seinem Werkzeugkoffer ein Brett dabei.

„Warte mal Sandy“, sage ich zu ihr, während sie hinter dem Rücken des Dicken eine Sammlung sämtlicher vorhandener Mittelfinger präsentiert und ihre unglaublich lange Zunge herausstreckt.
„Ich will mal eben gucken, was der gemacht hat“, sage ich und gehe hinter die Leichenhalle, dorthin wo der kleine Platz ist, an dem Opa Kleiber immer auf der Bank sitzt.

Auf den ersten Blick sieht man nicht, was die Qualle gemacht hat, auf den zweiten Blick sehe ich, daß er das vordere der beiden Sitzbretter der Bank abgeschraubt hat und ein selbstgemaltes Pappschild an die Bank gehängt hat: „Deveckt!“

„Das können Sie doch nicht machen!“ protestiere ich in seinem Büro und der Dicke glotzt nur, grinst dann zähnebleckend und sagt: „Ich bin hier der Friedhofschef und ich werde ja wohl noch eine Bank stilllegen können, wenn die Sicherheit gefährdet ist. Da war das Brett lose, das muß erst gemacht werden, so lange darf da keiner sitzen.“

„Ach kommen Sie, Sie machen das doch nur um den alten Mann da zu vertreiben.“

„Kenn‘ ich nich'“, sagt die Qualle, grinst und schiebt mich aus seinem kleinen Büro, schließt ab und geht paffend in die Halle rüber.

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(©si)