Ich war schon mitten im Studium und machte gerade ein Semester-Zwischenpraktikum an einem Gymnasium. Dorthin fuhr ich meistens mit dem Bus, weil es so wenig Parpklätze an der Schule gab.
Dummerweise musste ich immer auf halber Strecke umsteigen und die beiden Buslinien waren nicht gut synchronisiert, sodaß ich manchmal eine gute halbe Stunde auf den Anschluss warten musste. Von der Haltestelle aus hatte ich einen guten Blick auf ein kleines Modegeschäft. Nun ist mein Interesse für Mode, zumindest was mich selbst betrifft, in etwa so groß wie mein Interesse für Klauenerkrankungen von mittelsibirischem Milchvieh. Ehrlich, mein Modeverstand lässt sich in etwa auf diese Formel verkürzen: Alle anstößigen und schutzbedürftigen Stellen des Körpers sind irgendwie bedeckt.
Meine Mutter hatte für sich die Kunst des Handarbeitens erobert und strickte und häkelte für ihr Leben gern. Seit frühester Kindheit quälte sie mich mit nicht enden wollenden Anproben halbfertiger Strickwaren. An manchen Tagen trug ich als Kind so gut wie nichts, was meine Mutter nicht gestrickt hatte.
Und wuchs das Kind aus diesem Schafsgewölle heraus, wurde das Strickwerk aufgeribbelt und unter Befeuchtung des wiedergewonnenen Garns zu neuen Knäuel aufgewickelt. Aus diesen Knäuel wurde dann wieder etwas Neues geklöppelt. Eine schöne Form der Nachhaltigkeit. Schön? Na ja…
Ich sag es mal so: Die Wolle wurde nicht besser durch das mehrmalige Verstricken und Aufribbeln. Die sowieso der Schafswolle innenwohnende Tendenz zur Verwandlung in kratzende Kleidung, wurde meiner Meinung durch das Recycling noch verstärkt. So klangen die Worte meiner Mutter: „Du brauchst eine Strickjacke!“ auch eher wie eine Drohung. Und um dem Fluch zu entgehen, eine Jacke aus einer Wolle gedrechselt zu bekommen, die mich schon seit meiner Kindheit verfolgte, hatte ich mich auf eine Strickjacke im Schaufenster jenes kleinen Modeladens an der Bushaltestelle hin orientiert.
49 Mark für eine beige-braune Strickjacke in meiner Größe, das war nicht gerade wenig, aber zumindest hatte ich das Gefühl, dass mich diese Jacke schmücken und kleiden könnte.
Also beschloss ich, an einem Mittwoch die Wartezeit an der Bushaltestelle dazu zu verwenden, um mir dieses Wollteil Teil zu kaufen, um den Wirkwareexperimenten meiner Mutter zuvorzukommen.
Aber daraus sollte erst eine Woche später etwas werden.
Denn an diesem Mittwoch war die Straße rund um die Haltestelle zugeparkt von großen Bussen und LKW einer Fernsehproduktionsgesellschaft. Am Eingang des nahegelegenen Friedhofs standen Kameras, große Scheinwerfer und ein Haufen Menschen wuselte durcheinander. Das weckte meine Neugier.
Ein „Tatort“ wurde dort gedreht. Einer mit Hansjörg Felmy und Willy Semmelrogge und beide Schauspieler waren auch da. Ich gesellte mich zu den übrigen Neugierigen und wollte nur mal so gucken, was die da so machen. Wann kann man so etwas denn schon mal sehen?
Ein Auto mit den beiden Schauspielern wurde von Produktionshelfern angeschoben und rollte dann bis vor das Friedhofstor. Die beiden stiegen aus und gingen auf den Friedhof. „Dankeschön!“, rief ein Mann, der wohl der Regisseur sein musste.
Das war’s. Das war die ganze Szene, die an diesem Tag dort gedreht werden sollte.
Mal war das Licht nicht gut, mal störte das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos und mal stiegen die beiden Schauspieler nicht gleichzeitig genug aus… Jedenfalls wurde diese Szene unzählige Male wiederholt. Dann gab es eine Pause und etliche der maßgebenden Leute standen beisammen und diskutierten.
Es stellte sich heraus, dass der Regisseur noch irgendetwas Belebendes für den Hintergrund haben wollte. Und so begann eine Frau von der Produktionsgesellschaft, unter den Umstehenden nach geeigneten Komparsen Ausschau zu halten. Einen älteren Mann sprach sie an und wurde mit ihm handelseinig. Und dann? Dann fiel die Wahl auf mich!
Ob ich mir 20 Mark verdienen wolle, fragte sie mich und erklärte, ich müsse nur mit dem älteren Herrn im Hintergrund zwischen zwei Grabsteinen stehen. Nicht bewegen, nicht reden, nur da stehen, dauert ’ne halbe Stunde.
Na klar habe ich zugesagt.
Also standen der Mann und ich uns zwischen den Grabsteinen die Beine in den Bauch, und das nicht nur eine halbe Stunde, sondern geschlagene zwei Stunden. Das gleiche Spiel wie vorher: Auto anschieben, Kommissare steigen aus, Dankeschön, und das immer wieder.
Ich bewundere bis heute die Geduld, die Schauspieler zwischen ihren Einsätzen aufbringen.
Aber nach gut zwei Stunden war es vorbei, ich musste einen Zettel unterschreiben, bekam meine 20 Mark in bar auf die Hand und durfte sogar noch zu Herrn Felmy gehen und schüchtern um ein Autogramm bitten. Ein freundlicher Mann, der sehr gut gerochen hat, an das kann ich mich noch erinnern.
Fast ein Jahr später wurde diese Tatort-Episode ausgestrahlt. Ich hatte wirklich jeder und jedem erzählt, dass ich in diesem Krimi „mitspielen“ würde, ohne meine Beteiligung zu übertreiben. Ich hatte schon gesagt, dass ich bloß rumgestanden habe.
Meine Mutter hatte die gesamte Verwandtschaft benachrichtigt, die an die hundertfünfundreißig Damen ihres Kaffeekränzchens und natürlich jeden, den sie in den Wochen davor getroffen hatte…
Der Vorspann mit dem rennenden Mann und dem Auge im Fadenkreuz, ein Anruf im Kommissariat und dann kam meine Szene, mein großer Auftritt…
Der Wagen rollt auf den Friedhof zu, die Kommissare steigen aus und gehen auf den Friedhof.
Der Regisseur hat die allererste gedrehte Szene genommen, also eine, bei der ich noch gar nicht herumgestanden habe.
So kam es, dass ich nie in einem Tatort mitgespielt habe.
Obwohl – mitgespielt hab‘ ich ja, bloß gezeigt hat man das nicht. Nehmen wir es sportlich: Dabeisein ist alles.
Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:
Schlagwörter: Felmy, friedhof, mord, Peter Wilhelm, Schauspieler, Semmelrogge, tatort
Ja, die WDR-Folgen mit Hansjörg Felmy als Haferkamp sind noch immer sehenswert, haben aber vergleichsweise wenig Ruhrpott-Lokalkolorit. Ich fand immer ungewöhnlich, dass sein Assistent (Semmelrogge) deutlich älter war. Irgendwann wollte der Sender gerne die „jungen Wilden von der Filmhochschule“ Regie führen lassen, was Felmy ablehnte. So kamen wir zu Götz George als Horst Schimanski, der sich in seiner ersten Folge über ein Felmy-Werbeplakat lustig machte.
Ach, schade.
Ich hätte gerne gesehen, wie du dir zusammen mit einem älteren Herren die Beine in den Bauch stehst.
Aber wenigstens hast du mich jetzt auf die Idee gebracht, mal wieder ein paar Tatort-Folgen mit Hansjörg Felmy zu gucken. Ist schon ne Weile her, dass ich das zuletzt gemacht habe.