Es gibt so Dinge im Leben, die einem auch nach vielen Jahrzehnten noch wehtun oder einen ärgern. Bei mir ist das die Geschichte um das kaputte Sommerkleid. Eine große Ungerechtigkeit! Ich will sie Euch erzählen. Und ich möchte Dich einladen, mir Deine große Ungerechtigkeiten-Geschichte zu erzählen.
Frau Seegers war eine Kindheitsfreundin meiner Mutter. Die beiden hatten schon im Sandkasten miteinander gespielt. Nach der Schule haben sich die jungen Frauen aus den Augen verloren. Dann kam der Krieg, dann die Aufbaujahre, und so dauerte es fast 40 Jahre, bis sie sich eines Tages zufällig auf dem Markt über den Weg liefen.
Ich musste die Frau Tante Seegers nennen und konnte sie auch ganz gut leiden. Eine höfliche, respektvolle und vielleicht etwas zu betuliche Dame, die immer elegant gekleidet war und ein gutes Benehmen hatte.
Tante Seegers war Kriegerwitwe und bewohnte immer nur kleine Einzimmerwohnungen oder gar Mietzimmer bei anderen Leuten. Für Führer, Volk und Vaterland einzutreten, ist man nur dann gut entlohnt worden, wenn man rechtzeitig Gold nach Argentinien geschafft hatte oder nach dem Krieg Beamter oder Richter geworden ist. Die armen Frauen der Gefallenen hingegen hat man mit einem Almosen abgespeist.
Da die beiden Frauen verabredet hatten, sich von nun an regelmäßig zu besuchen, kam Tante Seegers immer mittwochs zu uns zu Besuch. Meine Mutter war eine von den Frauen, die sich durch Besuch nicht stören ließ. Sie machte einfach ihr Ding, wie man heute sagen würde. Lina Seegers saß dabei, half mit oder machte eben ihr eigenes Ding. So backten die beiden zusammen Plätzchen, häkelten, schauten Fernsehen oder tranken einfach Kaffee oder Likörchen. In der Hauptsache wurde gequatscht.
Um nicht immer nur zu uns zu kommen, und uns eventuell zur Last zu fallen, oder auch, um die vielen Besuche bei uns auszugleichen, lud Lina meine Mutter ein- bis zweimal im Jahr auch zu sich ein.
Einmal musste ich mitgehen. Da war ich vielleicht 5 Jahre alt.
Wir kamen in eine schreckliche Wohnung. Küche, Waschgelegenheit und Wohnzimmer in einem Raum, kaum Möbel und alles viel zu aufgeräumt. Das Klo war eine halbe Treppe tiefer.
Durch einen Vorhang abgetrennt, gab es noch ein weiteres, „halbes“ Zimmer, das Schlafzimmer mit Bett und Kleiderschrank.
Oft genug hatten die Frauen was zu tuscheln. Das war dann der Fall, wenn so ganz „schlimme“ Themen, wie Scheidung, Mann und Frau, der homosexuelle Schwager Fritz oder andere, nicht kindgerechte Sachen zur Sprache kamen. Wenn es ganz schlimm wurde, etwa, wenn besprochen wurde, dass Helmut, „der Bruder von der Jutta ihrer Schwägerin ihren Onkel“, eine Geliebte hat, dann wurde ich auch schon mal zum Spielen nach nebenan geschickt.
An einem heißen Sommertag war das auch wieder so. „Peter, geh mal in Tante Seegers Schlafzimmer, und spiel watt mit den Wollknäuls!“
Ich habe lieber mit einem Matchboxauto gespielt.
Nach einer Viertelstunde war das heikle Thema besprochen und es gab Kaffee und Kuchen.
Auf dem Rückweg spendierte Mutter noch ein Hörnchen mit Eis von Bertram’s Eisdiele.
Vier Wochen später waren wir überraschenderweise schon wieder bei Tante Seegers eingeladen.
Doch dieses Mal wartete dort Gottes schlimmstes Strafgericht auf mich.
Mit einer unbeschreiblich pikierten Jammermiene präsentierte Frau Seegers ein geblümtes, mittellanges Sommerkleid, das auf einem Bügel hing.
„Das hat mir der Peter beim letzten Mal mit einer Schere zerschnitten!“, lautete ihr Vorwurf.
Ich sei, so behauptete sie, in den Kleiderschrank geklettert, habe dort aus dem Handarbeitskorb die teure Stoffschere genommen, und habe dann an die 20 lange Schnitte in das hübsche Kleid geschnitten.
„Bestimmt, weil der nicht alleine im Schlafzimmer sein wollte.“
Ich kannte es nicht anders, als dass meine Mutter mir in solchen Situationen niemals beistand, sondern jedwede Schuldbehauptung immer für bare Münze nahm, und mich bestrafte.
Damals wurde noch geschlagen.
Ich konnte tagelang nicht richtig sitzen.
Der Kleiderfrevel wurde zur Matrize für alle möglichen anderen Vergehen.
Egal, was mir vorgeworfen wurde, egal, was auch abseits meines Einflussbereichs passierte, Mutter argumentierte immer: Das muss der gemacht haben, der war das ja auch mit dem Kleid.
Ich habe gezetert, geweint, beteuert, geschworen – nichts hat geholfen. Nichts war mir je ferner gelegen, als Frauenkleider zu zerschneiden. Ich fühlte mich so zu Unrecht beschuldigt und bestraft.
Es gibt kaum etwas, das so an einem nagen kann, wie erlittene Ungerechtigkeit. Dabei kommt es überhaupt nicht darauf an, wie schwerwiegend der Vorwurf oder die Strafe sind. Es kommt darauf an, dass der kleine innerfamiliäre Leumund zerstört wird, dass man per se als Lügner vorverurteilt wird.
Später in meinem Studium musste ich dann von einem Freudianer-Professor erfahren, dass dem Zerschneiden von Frauenkleidern oder dem Abschneiden von Frauenhaaren der tiefe, unerfüllte Wunsch innewohnt, Frauen zu zerstückeln.
Mit ein Grund, dass ich in meinem Studium, meiner Forschung und Lehre immer ein Anhänger und Verfechter des Behaviorismus1 gewesen und geblieben bin und mit dem steilen Thesen des bärtigen Österreichers nichts anfangen konnte.
Bis heute hatte ich auf jeden Fall noch nie den Wunsch, eine Frau zu zerstückeln. Wozu auch? Am Stück sind sie doch viel praktischer und schöner.
Und falls ich jemals den Wunsch verspüren sollte, Hackepetra zu machen, dann drehe ich die Psychologie um, und werde vor Gericht behaupten, die ungerechtfertigte Schuldzuweisung, ein Sommerkleid zerschnitten zu haben, habe mich zu dieser Tat getrieben.
Los, was ist Dir passiert, das Du uns erzählen könntest?
Alternative Teilnahmemöglichkeit per Kontaktformular:
Teilnahmebedingungen: Du gestattest mir mit Deiner Einsendung als Kommentar unter diesem Text, dass ich Deinen Text räumlich und zeitlich unbegrenzt honorarfrei verwenden darf, und Du versicherst, dass Du der alleinige Urheber des Textes bist.
Bildquellen:
- schere_800x500: Peter Wilhelm KI-Kunst
Fußnoten:
- Der klassische große Gegenpol zum Freudianismus ist der Behaviorismus (z. B. B. F. Skinner). Während Freud innere, unbewusste Prozesse betont, konzentriert sich der Behaviorismus ausschließlich auf beobachtbares Verhalten und dessen Konditionierung – ohne Tiefenpsychologie, Triebe oder Unbewusstes. (zurück)
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