Geschichten

Popeline-Jacken

Älterer Herr in einer Popeline-Jacke

Popeline ist das Material meiner Kindheitsträume. Nahezu jeder Kriminalkommissar, allen voran Kommissar Maigret, trugen beigefarbene Popelinemäntel. Und ich wollte doch, außer Kehrmaschinenfahrer, so gerne eines Tages Kriminalkommissar werden.

Heute ist Popeline1 als Material ziemlich aus der Mode gekommen und wurde von pflegeleichteren und günstigeren Mischgeweben weitestgehend ersetzt. Nicht ausgerottet wurde allerdings die Farbe Beige und der Ausdruck Popelinejacke für alles, was bei Rentnern als beigefarbene Jacke beliebt ist. Wichtigstes Merkmal dieser, auch als Übergangsjacke bezeichneten Kleidungsstücke ist es, dass sie möglichst leicht, möglichst winddicht und vor allem möglichst frei von jeglicher Farblichkeit sind. Sie müssen zwangsweise hellgrau, bleu oder eben beige sein, aber immer nur mit einem Hauch von Tönung, sonst geht die vereinheitlichende Wirkung verloren.

Es ist Donnerstag und der immer viel zu gut gelaunte Wettermann im Radio hatte diesen Tag zum heißesten Tag des Jahres ausgerufen. Woher will der Knülch eigentlich wissen, dass in diesem Jahr nicht noch viel heißere Tage folgen werden?
Immerhin hatte er Recht damit, dass es sehr heiß werden würde, schon gegen zehn Uhr lümmelte sich die Nadel des Thermometers um die 30 Grad herum.

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Um 14 Uhr hatten wir die Beerdigung der seligen Frau Riemer angesetzt. Die Gute war 99 Jahre alt geworden und wirklich jeder aus der Trauerfamilie hatte mir erzählt, dass sie nur noch bis Sankt Martin hätte durchhalten müssen, dann hätte sie im November ihren Hundertsten feiern können, mit Gratulationsurkunde vom Ministerpräsidenten.

Wäre mir auch lieber gewesen, denn im November liegen die Temperaturen zuverlässig weit unterhalb der 30-Grad-Marke. Aber nun ist die gute Margarethe eben im Juni gen Walhalla geritten und so mussten wir uns auf dem Friedhof der sengenden Mittagshitze stellen.
Für diese Zwecke hatte ich mal für meine Angestellten ganz dünne schwarze Jacken gekauft, die wie gute Jacketts aussahen, aber wirklich luftig und leicht waren. Doch an diesem heißen Donnerstag hatte ich meine Männer selbst vom Tragen dieses Kleidungsstücks befreit. Irgendwann ist auch mal Schluss mit der Förmlichkeit, und dieses irgendwann ist bei 34 Grad erreicht.

Selbst der Pastor hatte sich für ein schwarzes Hemd ohne Jacke entschieden und auch die Friedhofsangestellten verzichteten auf ihre altehrwürdige Amtstracht, den grauen Kittel.

Glücklicherweise mussten wir keinen Sarg schleppen, Margarethe Riemer hatte sich für eine Feuerbestattung entschieden und wartete in einer handlichen Blechurne auf ihre Beisetzung.

Die Trauerhalle ist zur Hälfte gefüllt, etwa 40 Personen sind gekommen. Bis auf sechs Enkelinnen und Enkel in der ersten Reihe und uns Außenstehende sind alle Anwesenden weit über 70 Jahre alt. Ich will nicht despektierlich sein, aber bei wenigstens zehn der Anwesenden würde ich sagen, dass der Heimweg sich kaum noch lohnte…

Und was soll ich sagen? Nahezu alle trugen die oben beschriebenen Popeline-Jacken oder Derivate davon. Eine ältere Dame auf Krücken meinte zu mir, es sei doch immer recht kühl in den Trauerhallen und ob es nicht ein Kissen gebe, wegen ihrer Hämorrhoiden „die sind so lang wie ein kleiner Finger“. Kopfkino!

Die Friedhofsangestellten hatten Mitleid mit uns allen und die Türen an der Frontseite und seitlich weit offen gelassen, es ging zwar kein Wind, aber man hatte doch wenigstens das Gefühl, es würde gegen die Hitze helfen.

„Tschulligung!“ Der Sohn der Verstorbenen, auch schon ein älterer Herr, mit der Physis eines aufgeweichten McDonalds-Trinkhalms und der Physiognomie von Meister Yoda zupft mich an meiner Hose. „Die Türen zu machen, sie können? Furchtbar, es zieht!“ Dabei rafft er zur Unterstreichung seiner Worte seine Popelinejacke vor der Brust zusammen und schüttelt sich wie ein nasser Dackel.

Wohlgemerkt: Draußen sind es mittlerweile 34 Grad und in der von mir als kühl empfundenen Halle haben wir knapp unter 30 Grad.

Ich sage ihm, das gehe nicht, wegen der neuen Brandschutzbestimmungen und verdrücke mich.

Der Pastor beendet seine Rede immer mit dem Satz „Nach der nun folgenden Musik werden wir die Urne zum Grab begleiten“. Für mich das Zeichen, die Träger in Position zu bringen. Die beiden Träger stehen in einem seitlichen Gang bereit, um in die Kapelle zu gehen. Ich will gerade die Träger losschicken, da steht der frierende Meister Yoda plötzlich auf und schiebt die Schwester seiner Mutter im Rollstuhl in Richtung Ausgang.

Das ist scheinbar das Zeichen für die anderen Trauergäste, ihm zu folgen. Während meine Männer versuchen, in die Trauerhalle zu gelangen, um die Urne an sich zu nehmen und vor der Trauergemeinde zum Grab zu tragen, quetschen sich die ganzen alten Trauergäste an den Trägern vorbei nach draußen. Ich blicke kurz zum Organisten rüber und der fragt mich flüsternd: „Hab ich so scheiße gespielt, dass die alle flüchten?“.

Die alten Leute hab schließlich alle das Trägerhindernis überwunden und versuchen, vor der Trauerhalle allesamt unter dem einzigen kleinen Baum Schatten zu finden.

Endlich können sich die Träger der Urne bemächtigen und kommen heraus. Feierlich gehen sie los in Richtung des etwa 400 Meter entfernten Grabes.
Doch die alten Herrschaften bleiben unter dem Schattenspender stehen und quatschen. Viele haben sich lange nicht gesehen, es gibt viel zu bereden. Eine 0,2-Liter-Plastikflasche mit Mineralwasser macht die Runde. Die dürfte noch ein Stündchen reichen…

Doch so lange haben wir keine Zeit. Als ich auf Meister Yoda zugehe, realisiert der, wo er und die anderen sich befinden und meint: „Auf uns Sie warten, ja?“

Dann geht es endlich los, die Schwester der Toten im Rollstuhl vorneweg, geschoben von Yoda. Ihr folgt das Feld der Rollatoren, dahinter die Gruppe mit den Krückstöcken.
Und alle plaudern aufgrund ihrer Hörschwäche laut miteinander. Wenigstens hält das Fiepen und Piepen der lauter gestellten Hörgeräte die Mücken fern.

Der Trauerzug zieht sich auseinander. Als die Ersten am Grab ankommen, sind die Letzten gerade losgewackelt.

Alles bei 34 Grad.

In der Mitte des Zuges hält eine Oma an und lässt eine weitere kleine Wasserflasche kreisen, es bildet sich ein Pulk in Popeline um sie.

Am Grab angekommen, versucht die Schwester im Rollstuhl, ihre Popelinejacke auszuziehen. Das dauert. Das dauert vor allem deshalb, weil Meister Yoda ihr nicht helfen kann. Er kann nur deshalb aufrecht stehen, weil er sich hinten an ihrem Rollstuhl festhält.

Älterer Mann zieht seine Windjacke aus

Der Pastor wartet geduldig, aber auch ihm macht die Hitze zu schaffen, sein schwarzes Hemd klebt an seinem Körper, wie einst bei Tom Jones nach einem langen Bühnenauftritt in Las Vegas.
Aber nun fangen -gleich der Rollstuhlschwester- auch alle anderen an, ihre Popelinejacken auszuziehen. Da ist die Gruppe mit den Rollatoren klar bevorteilt, sie setzen sich dabei einfach auf ihr Gehwägelchen.

Die Krücken-Gruppe hat es deutlich schwerer. Die wenigen Enkelinnen und Enkel kommen kaum nach, ihnen zu helfen. Wohin mit den Stöcken, wenn man sich die Jacke ausziehen will? Wohin dann mit der Jacke?
Viele von ihnen schwanken dabei gefährlich. Nach einer guten Viertelstunde kreist noch einmal die kleine Wasserflasche, und dann endlich ist die Gemeinschaft bereit, den Abschlussworten des Pastors zu lauschen.

Vor vier Jahren ist bei einer Beerdigung bei so einer Sommerhitze schon mal ein älterer Herr tot umgefallen.
Wir sind am Ende alle froh, dass die Herrschaften dieses Mal alle überlebt haben.

Ich habe eine Lektion gelernt: Wenn die Leute schon so alt sind, legen wir die Beerdigung auf einen Termin ganz früh am Tag. Besser ist das.

Bildquellen:

  • popeline2: Peter Wilhelm KI
  • popeline1: Peter Wilhelm KI

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(©si)