Geschichten

Rhododendron

Ich habe diesen Text als Antwort auf einen Kommentar begonnen. Dann habe ich gemerkt, dass meine Auslassungen länger werden und sie lieber hier in einen eigenen Artikel verschoben.

Ich bin vor 41 Jahren aus meiner ehemaligen Heimat, dem Ruhrgebiet, weggezogen.
Groß geworden bin ich in Essen-Kray einem Stadtteil im Norden der Stadt, direkt an Gelsenkirchen angrenzend.
In meiner Erinnerung lebt dort ein ganzer Mikrokosmos von Leuten, die in meinem Kopf das gesamte Leben und Umfeld dort ausmachen. Das sind Verwandte, Freunde, Mitschüler, Studienkollegen, Arbeitskollegen, Bekannte, Nachbarn und alle möglichen Kaufleute und andere Personen.
Meine Erlebnisse mit ihnen und meine Beobachtungen über ihr Leben bewege ich noch heute in meinem Kopf. Die Geschichten rund um diese Leute sind u.a. die Geschichten, die ich meinen Kindern erzählte und die ich heute noch mit meiner Frau bespreche. Wir erzählen uns oft von früher, da sind wir uns sehr ähnlich.

Nun ist das aber eine lange Zeit. Wie gesagt, lebe ich seit über 40 Jahren in Mannheim und überwiegend hier in Edingen. Und die Geschichten, die ich in meinem Kopf habe, sind ja noch viel älter, sie reichen bis in meine Kindheit zurück.

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Nun ist es eine Eigenschaft unserer Psyche, dass wir Eindrücke konservieren, was bedeutet, dass Menschen beispielsweise nicht mehr altern. An meine Schulkameradinnen und -kameraden erinnere ich mich weitestgehend so, wie sie damals waren.
Natürlich weiß ich, dass auch sie zwischen 40 und 60 Jahre älter geworden sind, aber in meinem Kopf handeln sie ja in einem Kontext, der vor, sagen wir 50 Jahren spielt, und somit sind sie dann natürlich auch sozusagen auf ewig sechs, zehn oder fünfzehn Jahre alt.

Kray Rathaus
Ganz vorne rechts stand ein großer Rhododendron-Busch, in dem wir Kinder uns prima verstecken konnten

Eine ganze Zeit hatte ich immer noch die Möglichkeit, anlässlich von Besuchen bei meiner Mutter, einige Leute wiederzusehen. Aber meine Mutter ist auch schon über 30 Jahre tot.
Mit ein paar wenigen Leuten war ich enger befreundet, aber die sind inzwischen entweder auch schon gestorben, ausgewandert oder der Kontakt ist erkaltet.

In den Anfängen der sozialen Medien habe ich noch nach Weggefährtinnen und -gefährten gesucht. Hilfreich war hier vor allem die inzwischen eingestellte Plattform „Wer kennt wen?“, weil da die Mädchen auch über ihren Mädchennamen auffindbar waren.
Aber das war zu einer Zeit, als ich mich noch problemlos an die ganzen Namen meiner Schulkameraden und Studienkollegen erinnern konnte. Mittlerweile wird das auch eher zu einem Namenskompott und aus Markus Potthoff und Beatrix Wurbel wird Matrix Wubhoff…

Vielleicht habe ich in meinem Leben doch zu viel Rindfleisch gegessen…

Ich habe noch ein paar Verwandte in der Gegend, die ich alle Jubeljahre mal besuche. Dann führt mich mein Weg auch meist nach Essen-Kray und ich fahre dann durch die Straßen, in denen sich meine Kindheit abgespielt hat. Ich zeige meinen Kindern (die inzwischen ja auch junge Erwachsene sind) und meiner Frau, wo vor dem Rathaus der große Rhododendron stand, in dem man sich so gut verstecken konnte. Ich zeige ihnen, wo ich in die Grundschule gegangen bin, wo der Spielplatz war und wo mein Vater mich als Dreijährigen in die Ruhr geworfen hat, damit ich Schwimmen lernte…

Anlässlich eines solchen Besuchs treffe ich den älteren Herrn, der mir das Orgelspielen beigebracht hat. Er und seine Familie spielen in meinen Erinnerungen eine große Rolle. Ich habe viel Zeit in deren Haus verbracht, war mit seinen Kindern eng befreundet.
Und er? Er erinnert sich schemenhaft an meine Mutter, weiß aber nicht, wer ich bin. Und als ich dann Grüße an seine Frau bestelle, bekomme ich zur Antwort: „Kannste selbst machen, auf dem Friedhof, Feld 13, Grab 8.“

Ich erfahre in den seltensten Fällen, ob jemand von diesen Erinnerungsmenschen gestorben ist. Nur, wenn ein anderer daran denkt, mir Bescheid zu sagen. Ich habe ja zu kaum einem dort noch irgendeinen Kontakt. Nun weiß ja keiner, was ich in meinem Kopf bewege. Ich denke viel an meine Kindheit, Jugend und die Menschen dort. Aber von diesen Leuten denkt wahrscheinlich kein einziger mehr an mich.

Wenn ich im Netz über irgendeinen Namen stolpere, der es in meinem Kopf klingeln lässt, schaue ich hin und wieder mal bei Google nach. Es ist erstaunlich, wie wenig Spuren meine Generation im Netz hinterlässt. Verwaiste Profilseiten auf LinkedIn, leere Profile auf Xing und auf Facebook ein seit 2000 nicht mehr gepflegter Eintrag mit zwei Bildern von einem Adventskranz. Manchmal kommt es mir so vor, als würden die sich alle extra vor mir verstecken.

Vermutlich ist das aber auch gut so. Der Mathe-Weltmeister vom Gymnasium ist heute Zigarettenautomatauffüller. Die Sportskanone mit Aussicht auf eine Bundesligakarriere ist Aufpasser in einem Spielsalon geworden.
Heidi, für die ich mich damals hätte umbringen lassen, und die wegen ihrer Schönheit von Transixillionen Burschen umschwärmt wurde, sieht heute aus, wie eine Mischung aus Rudi Carell und einer schottischen Schlabberbulldogge, hat acht Kinder und 26 Enkel.

Falsche Vorstellungen
Im Kopf sind alle noch 50 Jahre jünger

Ja, ich weiß, ich bin auch kein George Clooney, und ich will das Lebenswerk und das Aussehen dieser Menschen auch nicht abschätzig beschreiben; ich möchte nur klarmachen, dass meine Erinnerungen und was ich in meinem Kopf fortgeschrieben habe, einfach nicht mehr stimmen.

Verstehe mich da nicht falsch. Ich liebe und mag diese Menschen immer noch, sie sind ja in meinem Kopf, ich lebe mit ihnen. Aber man neigt doch dazu, in der Fortschreibung, wenn ich das mal so nennen will, eine positive, wenn nicht wenigstens konservative Entwicklung zu projizieren. Die schöne Heidi müsste eigentlich keine solariumsgegerbte Oma mit viel zu weißen Zahnüberkronungen sein. Gemäß meinem Kopf müsste sie viel, viel schöner sein.
Aus Frank hätte ein Ingenieur oder ein Architekt werden müssen, aber er ist Packer auf dem Flugplatz geworden.
Und auch damit will ich gar nichts gegen diesen Berufsstand sagen. Jeder, der sich und seine Familie auf ehrbare Weise nährt, macht das gut. Ich wäre beispielsweise mein ganzes Leben lang gerne Kehrmaschinenfahrer gewesen. Ich habe höchsten Respekt vor jedem, der einen Beruf ausübt, egal welchen.

Faun Kehrmaschine
Als Kind haben mich diese Kehrmaschinen fasziniert und ich wollte eigentlich nie etwas anderes werden als Kehrmaschinenfahrer

Aber Frank hat studiert, wir haben zusammen gebüffelt, Prüfungsängste durchlebt, Tonnen von Büchern gewälzt, Pläne für die Zukunft gemacht und uns ausgemalt, wie er als Architekt riesige Flughafenanlagen entwirft; und dann wird der Packer und belädt Mallorca-Flieger mit Koffern.

Ich selbst habe alles Mögliche gemacht. Ich wollte nur nie mit 65 sagen müssen, dass ich 40 Jahre jeden Tag mit derselben Aktentasche immer in dieselbe Firma gegangen bin. Mir war die Abwechslung wichtiger, ich war immer neugierig auf was Neues.
Wenn ich davon erzähle, sagen meine Zuhörer manchmal: „Meine Güte, wann hast Du das alles gemacht? Du müsstest ja 200 Jahre alt sein!“
Ich habe Gebrauchtwagen verkauft, war mal Immobilienmakler, habe ein Rechenzentrum geleitet, war Bestatter, Vertreter, Lokalreporter, Fahrer, Computerverkäufer, Vollstrecker und Soldat und Militärpolizist. Und immer, schon seit frühester Jugend, habe ich geschrieben, geschrieben und geschrieben.

Vermutlich sagen also auch die anderen über mich, dass ich als erfolgreicher Uni-Absolvent es auch nur in ein unstetes Berufsleben geschafft habe.

Aber ich gehe davon aus, dass 99 % (um mal wieder diesen Prozentsatz zu bemühen, der nur bedeuten soll: fast alle) meiner Kopfmenschen sich überhaupt nicht an mich erinnern. Und die, die es tun, erinnern sich an mich als das Arschloch.
Ja, ich bin ein Arschloch. War ich schon immer. Weiß ich.

Mir wohnt das Talent inne, Sachverhalte und Situationen schnell erfassen zu können. Ich kann sehr gut antizipieren und Probleme erkennen. Außerdem kann ich gut reden und habe so etwas wie Charisma.
Wenn ich in eine Firma, einen Verein, eine Partei oder einen Freundeskreis komme, dann dauert es nicht lange, bis die Leute das erkennen. Ich weiß gar nicht, wie oft ich schon irgendwo einfach nur mitmachen wollte und wenige Wochen später der Vorsitzende oder Abteilungsleiter war… Und ich war immer zu eitel und selbstverliebt, um die Konsequenzen zu berücksichtigen.

Es ist mir immer gelungen, zügig Erfolge zu erzielen und echt was zu bewegen. Ich glaube, ich habe ungefähr ein Dutzend Vereine, die kurz vor der Auflösung standen, wiederbelebt und so gut positioniert, dass sie heute noch existieren und sich eines regen Vereinslebens erfreuen. Jetzt bin ich aber nicht der Mensch, der 40 Jahre in einem Beruf, in einem Verein oder in einer Stammtischrunde seine Heimstatt findet. Dafür bin ich viel zu mannigfaltig interessiert.
Nach 1.000 Tagen, maximal aber 2.000 erlahmt mein Interesse, weil ich mich Neuem und Anderem zuwenden mag, und dann muss ich weiterziehen. Das empfindet mancher als charakterliche Schwäche. Aber es ist eben nicht mein Charakter, stehenzubleiben und immer dasselbe zu machen. Das kann ich nicht, das würde mich verrückt machen.

Und so kommt dann der Tag, an dem ich verkünden muss, dass ich weiterziehen will und dass nun ein anderer meinen Job übernehmen muss. Und spätestens ab dann bin ich das Arschloch.
Ich habe das nicht nur für mein Leben so beobachtet. Nein, diese Beobachtung habe ich immer wieder und für ganz viele Menschen und Situationen gemacht. Wenn jemand geht, wird gerne der ganze Müll zusammengekehrt, alles Schlechte und Negative gesammelt und dem Gehenden hinterhergekübelt.

Da kannst Du machen, was Du willst. Du kannst einen super Nachfolger finden, Du kannst einen harmonischen Übergang gestalten, Du kannst es so schön und richtig machen, wie Du willst. Am Ende bist Du das Arschloch.

Aber vielleicht bin ich auch nur das, ein Arschloch. Kann ja auch sein.

Oft genug ist es allein schon die Tatsache, dass man weggeht, die einen zum Arschloch macht.
Man geht ja woanders hin, nimmt eine neue Position an, zieht in eine andere Stadt, begibt sich in ein neues soziales Umfeld. Man lässt die anderen zurück, die möglicherweise eben genau dieses Schicksal vor Augen haben, nämlich die nächsten 40 Jahre im Status quo zu verharren. Da spielt dann oft auch Neid eine gewisse Rolle.

Ein Herr geht von einem Stammtisch weg und die Zurückgebliebenen schimpfen
Wenn Du jetzt gehst… Wenn Du gehst, dann bist Du das Arschloch!

Wie ist das bei Dir? Teile es mit uns! Ich weiß nicht, ob es Dir vielleicht so ähnlich geht. Schreib mir das gerne mal in die Kommentare.

Wie denkst Du rückblickend an frühere Weggefährten?

Bei mir ist das so, dass ich sogar sehr gerne auf Google-Earth den Streeview-Modus aktiviere und nochmal Plätze besuche, mit denen ich Erinnerungen verbinde.
Ich frage mich dann oft, ob die Menschen, die ich von früher kenne, noch leben – und oft genug verliere ich völlig aus dem Blick, dass die teilweise gar nicht mehr leben können.

Ein Herr steht mit einem Blumenstraß vor einem Haus, dessen Bewohnerin längst tot auf einem Stuhl sitzt
„Hallo, Frau Klünkes, schön Sie mal wiederzusehen!“

So bin ich tatsächlich vor ein paar Jahren mal durch eine Straße in Essen-Freisenbruch gefahren und bekam spontan die Idee, Frau Klünkes zu besuchen. Doch dann stand ich an der Haustüre und fand ihren Namen nicht mehr auf den Klingelschildern.
Die Allerliebste fragte mich dann im Auto, wie alt Frau Klünkes denn sei, und ob sie nicht vielleicht schon in einem Altersheim lebe. Ich musste mich schämen, denn nach kurzen Nachdenken kam ich darauf, dass Frau Klünkes 137 Jahre alt sein müsste, wollte ich sie noch dort antreffen…

Bei meinen Streetview-Reisen stoße ich aber auch auf Erstaunliches:

Essen, Gymnasium

Auf dem obigen Bild siehst Du einen Teil der Schule, die ich als Kind mal besucht habe. Es sind Container. Aneinandergestellte, schlecht isolierte Container. Immer drei ergeben ein Klassenzimmer.
Als diese Container aufgestellt wurden, war die Aufregung unter den Eltern groß. Und: Damals gab es noch keine Hubschraubereltern, die die Stühle im Klassenzimmer mit dem eigenen Hintern vorwärmen, damit Jens-Jonas nicht friert.
Im Sommer wurde es unerträglich heiß in diesen Blechkästen und im Winter reichten die damals modernen Nachtspeicheröfen nicht aus, um die Klassenräume richtig warm zu halten.
Aber das gesamte Schulzentrum befand sich noch im Bau und wir Boomer fluteten die Schulen in so großer Zahl, dass man nicht wusste, wohin mit uns vielen Kindern.
Nur für den Übergang, nur für zwei bis drei Jahre… Ist nur eine Notlösung… Nur vorübergehend…

Heute, 55 Jahre später, stehen die Container immer noch und werden immer noch genutzt.

Es gibt also doch noch so ein paar Sachen, die immer noch so sind wie früher.

Spielen Dir Deine Erinnerungen auch manchmal einen Streich?


Nachtrag 17. Juni 2025

Leser Claus-Rudi hat einen Kommentar zu meinem Text geschrieben, wie auch sonst viele Kommentare eingegangen sind, wofür ich mich ganz herzlich bedanke.

Claus-Rudi schrieb:

Ach, Peter, natürlich mal wieder ein schön geschriebener Text, aber ganz ehrlich: das klingt aber schon alles viel nach alter Mann und ein bisschen Selbstmitleid. Und eben nach „alter Mann“ im Kopf. Der Blick in, die Sehnsucht nach der Vergangenheit, das alles wohnt wohl dem Menschen inne – aber er bringt uns nur sehr bedingt nach vorne. Oftmals kostet es einfach viel Kraft sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die einfach nicht mehr änderbar sind. Kennst Du das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse? Mir hilft das manchmal sehr, wenn ich mich zu sehr an der Vergangenheit festhalten will.

Eine ganz wunderbare Darstellung des Gedichtes von Hermann Hesse, dem diese Zeile entstammt „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,“ findest Du hier:

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/stufen-5494

Vielen Dank, Claus-Rudi.
Mit Selbstmitleid hat das echt nix zu tun. Mit „alter Mann“ schon.

Der Begriff Selbstmitleid ist ja negativ konnotiert, deshalb würde ich ihn lieber durch Wehmut ersetzen, dann passt es. Durch meine Krankheit, die mich zunehmend ans Haus und immer mehr ans Bett fesselt und das langsam schwindende Augenlicht bin ich meiner Zeit etwas voraus. Mich beschäftigen Dinge, die sonst vielleicht bei 20 Jahre älteren Menschen in den Fokus rücken.

Dazu gehören die Gedanken, die ich neulich hier mit Euch teilte1, über die Metamorphose von eben noch geliebten Stücken zu Entrümpelungsmüll. Und auch diese Essenz im obigen Text.

Dort schrieb ich ja von Eitelkeit und Selbstverliebtheit. Auch das wird oft negativ konnotiert, dabei kann beides auch kreative Triebfeder sein und einen gewissen Selbstschutz darstellen. Manchmal bewundere ich junge Menschen, die voll mit jugendlichen Hormonen, ohne nach links und rechts zu schauen, risikobereit und eben mit diesem jugendlichen Elan voranstürmen. Und dann wird mir bewusst, dass ich ja früher auch so war; wenngleich das, worauf wir zustürmten, sich grundlegend von Dubai-Schokolade und Influencer-Ruhm, was ja heute als erstrebenswert gilt, unterschieden hat.

Das Wehmütige entsteht aus zwei Dingen. Einmal ist es die Erkenntnis, dass man besser doch nichts aufschieben sollte. Meine Allerliebste und ich haben uns nicht viel Urlaub, sprich große Reisen, gegönnt. Das wollten wir alles mal machen, wenn wir in Rente sind. Und jetzt? Jetzt können wir nicht mehr. Und das ist mit vielem so. Leute, die wir noch unbedingt besuchen wollten, sterben weg, Plätze, die wir bereisen wollten, sind unerreichbar geworden, Freunde, mit denen wir noch Freundschaft ausleben wollten, sind längst keine Freunde mehr, und so, wie wir es uns vorgestellt haben, dass es mal mit unseren Kindern sein würde, hat leider unberücksichtigt gelassen, dass die ja ihr eigenes Leben mit eigenen Präferenzen führen, in dem wir nicht zu den Präferenzen gehören.

Und ein anderer Punkt, auf den Du wahrscheinlich anspielst, ist diese Sache mit dem „Arschlochsein“.
Ich bin mit mir im Reinen. Es gibt so zwei, drei Dinge in meinem Leben, die mir echt leid tun, und die ich wirklich bereue, weil ich da andere so schwer verletzt habe, dass ich mir wünsche, es wäre anders gelaufen.
Meine Frau beruhigt mich in diesem Punkt immer, indem sie mir, ganz nach Hermann Hesse, klarmacht, dass unser Leben jetzt und im Kommenden stattfindet und nicht in den abgewohnten und nicht mehr zu ändernden Räumen der Vergangenheit.

Doch besteht ein Haus eben nicht nur aus den Steinen, die immer weiter oben drauf gebaut werden, sondern auch aus dem Fundament und den Steinen darunter. Und auch um die muss man sich kümmern, sonst hält das oben irgendwann nicht mehr.
Das, was gewesen ist, ist ja oft genug exakt die Grundlage für das, was heute ist und sollte eben nicht vergessen werden.

Aber, und da gebe ich Dir und Hesse recht, man muss damit im Kopf abschließen können. Und da offenbart sich eine meiner Schwächen, ich kann das nicht gut.
Das ist keine therapiepflichtige Störung, sondern eine Charaktereigenschaft. Ich kann unheimlich gut Negatives und Schlimmes verdrängen und wegschieben. Dafür ist mir das Gute und Schöne zu wichtig.
Ich will auch den Moment und das, worauf ich zustrebe, nicht durch längst Vergangenes kaputtmachen lassen.

Doch wenn man kein ganz ereignisloses Leben geführt hat, gibt es eben diese Fundamentsteine, und wenn man dann noch ein Mensch mit einem Hang zu früheren Geschichten, zu Nostalgie und zum Bewahren ist, wird es schwer, immer loszulassen.

Wie bin ich geworden, was ich bin? Wie war mein Weg? Welche Klippen habe ich umschifft und welche Gipfel habe ich erklommen? Wo und wann bin ich in eine Schlucht gefallen?
Doch, das darf man in seinem Kopf bewegen, solange es nicht das Hier und Jetzt hemmt. Denn Hesse wendet sich an die, die keinen zauberhaften neuen Anfang finden. Für mich ist das beispielsweise die Frau, von der ich hier im Bestatterweblog schon erzählte, die sich nach einer Fehlgeburt jeden weiteren Kinderwunsch versagte, um zeitlebens um diese toten 400 Gramm Fötus zu trauern.

Anders ist das, wenn man Bilanz zieht und über Vergangenes nachdenkt. Und genau das habe ich im obigen Text getan. Es ist eine Momentaufnahme meiner Gedanken, nicht die Beschreibung dessen, was mich permanent beschäftigt und an Neuem hindert.

Und in der Rückschau findet man doch eben Punkte, auf die man stolz ist, Erfolge, über die man sich heute noch freut, aber eben auch Punkte, bei denen man Undankbarkeit und Ungerechtigkeit erfahren hat.

Bildquellen:

  • prinzessin: Peter Wilhelm KI
  • frueher: Peter Wilhelm KI
  • Krayer_Rathaus: Benutzer:USt, CC BY-SA 3.0, wikimedia.org
  • faun-kehrmaschine-ki: Peter Wilhelm KI-generiert
  • frau-kluenkes: Peter Wilhelm KI
  • geh-doch: Peter Wilhelm KI
  • esse-pinxtenweg-google-earth: Google Earth ©

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#Arschloch #Erinnerungen #früher

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(©si)