Ach du meine Güte! Schwester Maria!
Schwester Maria ist Nonne und zwar aus genau jenem Orden, für den wir seit Jahr und Tag weiße Särge liefern und die Gräber auf dem Klosterfriedhof selbst graben müssen.
Nur ist Schwester Maria schon seit vielen Jahren nicht mehr in Klausur, sondern lebt außerhalb des Konvents bei uns in der Stadt, um ihren alten, kranken Bruder zu pflegen.
Jeder hier bei uns kennt sie und jeder liebt die Frau, die jeden Sonntag, mit viel zu lauter, zittriger Stimme ganz hoch und immer etwas falsch die Kirchenlieder mitsingt.
Für jeden hat sie stets ein freundliches Lächeln, einen warmen Händedruck und man kommt nicht an der gottesfürchtigen Frau vorbei, ohne daß sie einem einen Psalm oder einen Vers aus der Bibel aufgesagt hat.
Mit einem freundlichen „Vergelt’s Gott!“ zieht sie dann auf ihren krummen, dünnen und etwas wackeligen Beinen ihres Weges.
Ihr Bruder ist nach einem Schlaganfall völlig auf fremde Hilfe angewiesen. Ach, was sage ich?! Er ist in der glücklichen Lage, eben nicht auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, sondern er wird von seiner Schwester gepflegt, was sie mit großer Liebe tut. „Der liebe Gott allein schenkt mir die Kraft, das durchzustehen, ich bin doch auch schon über Achtzig.“
Vor einigen Wochen nun hat der liebe Gott mit dem Bruder und der Ordensfrau ein Einsehen gehabt und den Mann nach vielen Jahren des Leidens erlöst. Während seine Schwester für ihn den Rosenkranz betete und der Hausarzt neben ihm wachte, hatte er seinen letzten Atemzug getan und dann mit glasigen Augen an die Decke geschaut. Bruder Hein hatte seine Sense geschwungen.
Die Beerdigung war sehr schön. Schwester Maria hatte keinen Grund knauserig zu sein, ihr Bruder hatte viel gespart und als Alleinerbin würde sie sowieso alles ihrem Orden geben. So stand also für die Beerdigung genügend zur Verfügung, das freut den Bestatter, denn auch der ist Kaufmann.
Für Sandy und die neue Auszubildende Alex war das Zusammentreffen mit Schwester Maria ein besonderes Erlebnis. Die schwarze Seele der rassigen Amerikanerin schien der Nonne besonders rettungswürdig und sie verwickelte Sandy in allerlei, teils sehr witzige, Debatten.
Alex wiederum ist eine Auszubildende, die nur halbtags zu uns kommt, weil sie gefördert durch das Arbeitsamt und das Mütterwerk, als alleinerziehende junge Mutter eine besondere Form der Ausbildung machen kann.
Die Tatsache, daß Alex daheim einen von einem Marokkaner gezeugten, unehelichen und vor allem ungetauften Wurm hat, versetzte die alte Schwester in geradezu euphorische missionarische Verzückung.
Nun ist es vier Monate her, daß wir Schwester Marias Bruder beerdigt haben und ich komme zur Gemüsefrau.
Die steht lachend und kopfschüttelnd in ihrem Laden und mit ihr lachen noch drei andere Frauen.
Was denn heute so lustig sei und woher denn die allgemeine gute Laune stamme, frage ich und die Gemüsefrau antwortet: „Ich kann gar nicht aufhören zu lachen! Meine Güte! Diese Alte! Ach, was haben wir gelacht?“
„Ja, was war denn?“
„Ach, die Schwester Maria. Die war eben hier und hat gefragt, ob ich Birnen habe. Jetzt hab ich drei Sorten Birnen und frage zurück, welche Sorte sie denn will. Und wissen Sie, was die gesagt hat? Wissen Sie das? Nein! Die hat gesagt: ‚Dann nehme ich zwei Sechziger!‘
Können Sie sich das vorstellen? Die hat doch tatsächlich Glühbirnen gemeint!“
Die Frauen lachen wieder und eine der drei Kundinnen sagt: „Beim Bäcker ist sie vorgestern auch gewesen und wollte einen Mantel zum Reinigen abgeben.“
Das ist wirklich lustig und auch ich mußte lachen. „Dann geben Sie mir zwei Sechziger!“ Ha!
Doch auf dem Heimweg ziehen nicht nur die eklig dünnen Griffe der Plastiktüten der Gemüsefrau an meinen Fingern, sondern mich drückt auch das schlechte Gewissen.
Ich machte mir Sorgen um Schwester Maria. War das Demenz?
Ja, es war Demenz.
Und ich kann gar nicht sagen, wie mich das getroffen hat, als ich nur wenige Tage später erfahren habe, daß Schwester Maria nicht mehr dazu gekommen ist, den Haushalt ihres Bruders aufzulösen, sondern in ihr Kloster zurückgeholt werden mußte, weil sie von Tag zu Tag verwirrter wurde.
Nur drei Wochen später war sie tot.
Die Schwester Oberin des Klosters erzählte mir, als wir den Sarg brachten, der Arzt habe gesagt, die Frau sei schon so lange und so hochgradig erkrankt gewesen, die hätte eigentlich selbst seit über einem Jahr völlig abwesend im Rollstuhl sitzen müssen.
Es sei ein Wunder, daß sie überhaupt noch klar denken konnte.
Ich sage mir, daß die Sorge um einen Menschen einem ganz schön Kraft verleihen kann. Und den Rest, den hat in diesem Fall wohl der liebe Gott besorgt, jawoll!
Schwester Maria hat daran so fest geglaubt, dann tu‘ ich das jetzt auch!
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Ich finde es immer schade, wenn so nette Menschen sterben.
Amen. Möge sie in Frieden ruhen. :-*
Zitat aus obigem Text:
…hat in diesem Fall wohl der liebe Gott besorgt, jawoll!
Schwester Maria hat daran so fest geglaubt, dann tu’ ich das jetzt auch!
Und warum denn auch nicht? Das schadet niemandem und jeder der behauptet das wäre dumm, der kann selbst aber auch nicht beweisen, dass es nicht so ist/war.
Auch wenn ich selbst immer scherzhalber sage: „Der Glaube versetzt Berge, sieh‘ mal aus dem Fenster. Die Alpen kommen immer näher.“ So glaube ich auch daran und besonders wieder in den letzten Tagen sind Dinge passiert, die selbst bei größtem Optimismus schwer vorstellbar waren. Alles ergab sich wie von selbst zum Guten. Fast unlösbare Dinge die mir z. B. vorgestern Nacht noch eine ab 3.00h morgens wache Nacht berscherten haben sich positiv wie von selbst erledigt.
Vielleicht war es Schwester Marias Aufgabe, ihren Bruder bis zum Tod zu geleiten, um selbst in Frieden sterben zu dürfen.
Es gibt immer wieder so Geschichten, dass Menschen nur durch ihre Aufgabe am Leben gehalten werden. Der Mensch ist schon erstaunlich. Manchmal klappt es auch nur fast – der Dresdner Denkmalpfleger Hans Nadler ist drei Wochen vor der Einweihung der Frauenkirche gestorben, deren Rekonstruktion er maßgeblich vorangetrieben hat. Das ist dann schon etwas bittere Ironie.
Nicht umsonst gibt es den Spruch „Wer rastet, der rostet“. Soll im Grunde einfach heissen, solange man mit etwas – Pflege, Rekonstruktion, etc – beschäftigt ist, baut der Mensch nicht derart ab wie einer der im Heim im Rollstuhl nur aus dem Fenster starren darf.
Hm…. gibt es nicht auch das Phänomen das Personen die z.B. aus Bergnot oder anderen lebensgefährlichen Situationen gerettet werden gerade dann sterben, wenn sie in Sicherheit sind?
Unter anderem dadurch bedingt, dass der Druck weg ist und der Körper die Prozesse die einem in der Situation noch am leben gehalten haben runterfährt….
Gibt glaube ich sogar einen Begriff dafür…..
bombjack
Jibbet für allet nen Bejriff: http://de.wikipedia.org/wiki/Bergungstod
Danke, lieber Peter für diese anrührende und – hoffentlich – auch nachdenklich stimmende Geschichte.
In der Tat gibt es wohl etwas, das jemanden mit einer Aufgabe zu später (aus Sicht der Medizin) nicht nachvollziehbarer Leistung „treibt“. Ich erinnere mich an Berichte aus Kriegszeiten (die ich glücklicherweise nicht erlebt habe), in denen von derartigen Vorällen berichtet wurde
.. und wenn der „Stress“ wegfällt, ..
Der menschliche Körper ist doch ein Wunderwerk!
Sowas gab es in meiner Familie auch… Ein entfernt verwandter Onkel hat seine schon mit 30 an Multipler Sklerose erkrankte Frau bis ins hohe Alter (über 80!) hin gepflegt und umsorgt. Zwei Tage nach ihrer Beerdigung starb auch er… „Mission erfüllt“