Allen tut Klaus leid. Klaus hat multiple Sklerose und sitzt nun schon einige Jahre im Rollstuhl, kann nur noch die Fingerspitzen rühren und sprechen. Manchmal, vor allem im Sommer, geht es ihm so gut, da kann er mithilfe eines hochtechnischen Rollstuhls, der mehr kostet als ein VW-Golf, auch schon mal auf die Straße, fährt dann hier durch den Stadtteil und kehrt ab und zu sogar im Biergarten einer Gaststätte ein. Mit einem Trinkhalm kann er dann ein Getränk schlürfen und mit hoher, heiserer und kraftloser Stimme ein bißchen mit alten Bekannten plaudern.
Jetzt ist auch das vorbei, jetzt liegt Klaus fest im Bett und kann gar nicht mehr raus.
Klaus tut allen furchtbar leid.
Mir auch. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie aktiv er im Gemeindeleben war, wie agil er sein Immobilienbüro geführt hat und daß er immer auf Achse war; ein Hansdampf in allen Gassen.
Er tut mir leid, aber mehr bedauere ich seine Frau Helga. Ich bin da ganz ehrlich; ich empfinde Mitleid mit Klaus, der so eine schwere Krankheit hat, der in seiner Lebensqualität so eingeschränkt ist und der mit etwas über vierzig Jahren nicht mehr viel vom Leben zu erwarten hat.
Aber das ist eben sein Schicksal, das ist sein Leben und das ist seine Krankheit. Helga hingegen ist kerngesund, vital, aktiv und dennoch ist auch sie von der Krankheit betroffen, ebenfalls in ihrer Lebensqualität eingeschränkt und sicherlich hat sie sich ihr Leben auch ganz anders vorgestellt. Jetzt ist es an ihr, Klaus rund um die Uhr zu pflegen.
Das Leid der Angehörigen wird nämlich allzu oft vergessen.
Ich saß neulich auf dem Amt, ich brauchte eine Bescheinigung und am Tisch nebenan ließ sich eine ältere Dame gerade wegen einer Rentensache beraten. Sie erzählte der Sachbearbeiterin der Verwaltung, daß sie drei Kinder großgezogen hat, dann einen Enkel zu sich genommen und aufgezogen hat und dann 18 Jahre lang die Mutter ihres Mannes gepflegt hat, die nach einem Schlaganfall ans Bett gefesselt war.
„Ah ja“, sagte die Sachbearbeiterin, machte ein paar Kreuzchen auf einem Formular und fragte dann: „Aber richtig gearbeitet haben sie nie, oder?“
Da hat sich diese Dame ein ganzes Leben lang für ihre Familie den Buckel krumm geschuftet und muß sich nun im Alter fragen lassen, ob sie außerdem noch irgendwas gearbeitet hat…
Ich kann es nur zu gut verstehen, wenn Angehörige drei Kreuze schlagen, wie man so sagt, wenn ein Familienmitglied nach so langer Kranken- und Pflegezeit endlich die Augen zumacht.
„Lang hätt‘ ich das nimmer gekonnt, fuffzehn Jahr‘ sin‘ genug!“ sagte neulich erst eine Frau zu mir, die ihren schlaganfallgelähmten Vater so lange gepflegt hatte. „Von morgens bis abends hab ich nur Scheiße weggewischt und ihm seinen Sabber abgeputzt und der hat nur im Bett gelegen und fast rund um die Uhr um Hilfe gerufen.“
Das Wort Hilfe, das Wort Hunger und die Silben tama tata waren alles, was das Sprachzentrum des Alten noch hervorbrachten. Die Augen seit Jahren starr an die Decke blickend, hat er ununterbrochen entweder um Hilfe geschrien, wegen Hunger gejammert oder stundenlang immer und immer wieder die Silben tama tata, tama tata, tama tata wiederholt.
„Mer habbe den schon geliebt, sonst hätte‘ mer den ja net gepflegt, aber fuffzehn Jahr, nee des is‘ genug. Soller nu‘ in Frieden ruh’n.“
Es ist Sonntagabend und wir sitzen vor der Lindenstraße (die ich selbstverständlich immer nur ganz zufällig beim Zappen mal sehe, und das seit über 20 Jahren…), da klingelt das Telefon; es ist Helga, Klaus ist tot.
Zu Hause im Bett sei er gestorben, der Arzt war schon da, sie hat es gar nicht mitbekommen wie er gestorben ist, als sie nach ihm sehen wollte, lag er mit weit offenem Mund und aufgerissenen Augen im Bett, dann hat sie den Arzt gerufen und jetzt uns. Wir sollen bald kommen, bitte.
Der Zahnarzt hat mir ein Antibiotikum verschrieben, als Nebenwirkung tun mir alle Knochen, vor allem die Gelenke weh und mir graust es ein wenig vor der Schlepperei, aber ich kenne Klaus und Helga seit vielen Jahren, da kann und will ich es mir nicht nehmen lassen, selbst bei der Abholung dabei zu sein.
Ich rufe Sandy an, sie klingt etwas genervt und ich höre im Hintergrund (das würde sie aber niemals zugeben) daß auch bei ihr die Lindenstraße läuft. Draußen ist’s kalt, es ist schon dunkel, wer will da schon raus, um irgendwo einen Toten abzuholen?
Eine knappe Dreiviertelstunde stehen wir mit dem Bestattungswagen in der Straße, in der Klaus und Helga wohnen.
Ich klingele im Nachbarhaus, bitte den Bewohner, sein Auto wegzufahren, weil wir sonst nicht in die Einfahrt können. Die Straße ist nicht eng, aber ein Stückchen weiter ist die Feuerwehr und wir wollen da nicht mitten auf der Straße stehen. Der Nachbar reagiert unwirsch, ob wir nicht wüßten, daß Sonntagabend ist. Dann sieht er unseren Wagen, wird schlagartig ziemlich kleinlaut und fährt seine Nuckelpinne um die Ecke.
Helga macht uns auf, sie ist kreidebleich, ihre Augen sind rotgeweint. Klaus liegt immer noch so in seinem Bett wie er gestorben ist, Sandy schließt seine Augen und versucht, den Mund wenigstens etwas zu schließen.
Hega sitzt im Wohnzimmer vor einem Haufen Papiere, sie kann das Sterbezimmer nicht mehr betreten, sie will ihren Mann nicht mehr sehen. Unter dem Stapel zieht sie ein gerahmtes Bild hervor und hält es mir hin. Es zeigt Helga und Klaus, irgendwo am Strand mit einem großen bunten Aufblasball, sie sind sonnengebräunt und lachen in die Kamera. „So will ich ihn in Erinnerung behalten.“
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Solche Geschichten erinnern einen immer daran heute das zu tun, was man schon immer aufgeschoben hat. Es könnte morgen schon zu spät sein.
So traurig diese Geschichte auch ist, aber ich glaube es ist für Klaus und vor allem Helga nüchtern betrachtet das beste.
Hatte auch eine Freundin, die Ms hatte und der es von Schub zu Schub schlechter ging. Der Freund hat ihr bis zum Ende beigestanden. Sie starb mit 29 Jahren an Ihrer Krankheit. Sie sagte aber selbst, es ist besser sie stirbt, und ihr Freund , so sehr er sie auch liebte, war nach Ihrem Tod, gelöst, befreiter. Er weiß, dass er ihr mit seiner Pflege den größten Liebesbeweis gegeben hat.
ZU: „Ah ja“, sagte die Sachbearbeiterin, machte ein paar Kreuzchen auf einem Formular und fragte dann: „Aber richtig gearbeitet haben sie nie, oder?“
solche dummen Sprüche hört man doch ständig. Egal, ob man jemanden jahrelang pflegt oder als Mutter bei den Kindern zu Hause bleibt.
Wie durfte ich vor Jahren von einem „netten“ Arbeitsamtmitarbeiter hören: „Sie sind doch selbst schuld, was setzen sie auch drei Kinder in die Welt ?“
Lg
Meine Grossmutter hatte auch MS. Mit 40 Jahren fing es bei ihr an und sie konnte nach 5 Jahren kaum noch etwas machen. Ich selber kenne sie nur im Rollstuhl und dass sie den Kopf noch ein wenig bewegen konnte. Sie starb vor inzwischen etwas über 10 Jahren. Mein Grossvater hat immer zu ihr geschaut während 37 Jahren. Er hat seinen Rücken kaputt gemacht, alle Kollegen aufgegeben bis auf die wenigen, die ihn besuchen kamen. Er hat alles für seine Frau gemacht und so viel für sie aufgegeben. Mit 60 hat er sogar die Autoprüfung gemacht und ein Spezialauto gekauft, damit sie Ausflüge machen können etc etc… Sie musste nie ins Pflegheim.
Nach ihrem Tod ging er noch lange jeden Morgen mit einem Campingstuhl zu ihrem Grab, um ihr die Zeitung vorzulesen.
Heute sagt er, er hätte sich kein schöneres Leben wünschen können.
Ich empfinde eine riesige Hochachtung für ihn. Ich hoffe, dass ich auch einmal einen Mann finde, der mich so bedingungslos liebt, egal was passiert…
Einzig richtige Antwort auf die Frage der Sachbeabeiterin (» Aber richtig gearbeitet haben sie nie, oder?«):
»Sie doch auch nicht.«
@Kumi
Super die Antwort merke ich mir…Hast du auch eine für geifernede alte säcke mit sprüchen wie „na ,den ganzen Tag kaffée trinken und gemütlich vom Kindergeld leben,so gut möchte ich es auch mal haben“.
Oder für die Frage der Sachbearbeiterin:“Und da mußten sie unbedingt schwanger werden?“.(nachdem ich mich pro forma arbeitslos gemeldet hatte ohne auch nur einen cent zu beanspruchen…den job danach habe ich übrigens durch Eigenintiative gefunden!!!)
Lg Anouk
Irgendjemand muss ja den Lohn und die Rente für die Sachbearbeiter erwirtschaften, die selbst keiner produktiven Tätigkeit nachgehen.
Vorurteilen mit Vorurteilen zu beantworten ist natürlich die Lösung. Und sorgt dafür, dass der Antrag schnell und mit guten Willen bearbeitet wird.
Und ich dachte schon, ich sei der Einzige der „Lindenstraße“ anschaut.
Wenn man es verpasst, kann man die letzten fünf Folgen übrigens noch als Videostream anschauen. Also keine Panik.
Als langjährigem Lindenstrassenfan sind mir die Namen Klaus und Helga natürlich gleich aufgefallen… =) Danke für die Erheiterung in der sehr traurigen Geschichte.
Schöne Weihnachtszeit ohne Strickmützen.
@Elenaor:
Ja, so ist es. Man könnte aber auch sagen: Wer mir blöd kommt, dem komme ich blöd. Dass Verwaltung nötig ist, weiß wohl noch jeder, aber dafür muss ich mir nicht blöd kommen lassen wenn ich Kinder in die Welt setze.
Ich denke, die Sachbearbeiterin meinte mit „richtig arbeiten“ ein „abhängiges, sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis“ (ja, offensichtlich), und hat es nicht notwendigerweise despiktierlich gemeint. Unsere Sprache macht zwischen beiden Arten von Arbeit keinen Unterschied, die Formulierung „richtig arbeiten“ ist natürlich bestensfalls unglücklich, schlimmstenfalls herablassend. Schlimmer sind eben die eingefahrenen Vorurteile, die so in der Gesellschaft vorherrschen. Hab sonnen Fall auch in der Familie: Großfamilie, lange Pflege der (Schwieger)Eltern, keinen Cent Rente über Grundsicherung.
Das mit dem „richtig Arbeiten“ kenne ich auch:
„Wieviel Kinder haben Sie?“
„4“
„Was arbeitet Ihre Frau?“
„Hausfrau & Mutter“
„Also Sie arbeitet nicht.“
„Doch, aber ich bezahle sie nicht dafür.“
„…..“
Grüße
Michael
Diese Sachbearbeiterin hat ja wohl das Einfühlungsvermögen einer Atombombenexplosion … dummes Stück.
Ach ja MS, meine MS hat wenigstens eine deutlich bessere Prognose.
Den ganzen Sonntag ist nichts los, und kaum fängt Lindenstrasse an, klingelt es an der Tür oder das Telefon. Es ist wie verhext.
Seit ich zum Gegenangriff übergegangen bin, und grundsätzlich zur Sicherheit aufzeichne, ist Ruhe.
Sandy guckt nur, um auf dem Laufenden zu bleiben, wie es im Zickenkrieg ums Sorgerecht bei der zerbrochenen Frauenehe weitergeht.
Was gibt es Montags Tolleres, als mit Gleichgesinnten über gemeinsame Bekannte herzuziehen, als wären es echte Nachbarn.
So richtige Klatschdummys eben.
Ja, manchmal sieht man erst hinterher, dass ein junger Mensch den Großteil seines Lebens dafür geopfert hat, einen anderen zu pflegen und darüber fast vergessen hat sein eigenes Leben zu leben. Und ich fürchte, je älter die Menschen im Durchschnitt werden, desto öfter kommt es vor.
Zum „richtig arbeiten“: Man kann ja wohl z.B. auch fragen „aber Beruf ausgeübt haben sie keinen?“. Die deutsche Sprache ist nicht gerade arm an Wörtern, und wenn man in so einem Job arbeitet, kann man ja mal ne Weile darüber nachdenklen, wie man sowas am besten ausdrückt. Tom fragt seine Kunden ja sicher auch nicht „verscharren oder verkohlen?“.
Schön gesagt!
Tolle Geschichte, einfach aus dem realen Leben gegriffen. Du beleuchtest genau den Punkt, den viele vergessen.
Das ist ne wirklich traurige Geschichte… Tut mir leid, es klingt nicht so gut, aber das ist ja die Wahrheit! Sonst finde dein Blog schon sehr schön.Weiter so!
In dieser Geschichte kommt meine Urangst zu Tage: Irgendwann von anderen abhängig zu sein…
Tja mit der MS ist das manchmal eine fast lustiche Sache. Ein Kranker in der Familie ist sehr selten. „Zwei? Ne, das ist extrem selten, kommt kaum vor.“ „Drei? Ne, da können Sie auch nen Lottoschein abgeben. Die Chance auf sechs Richtige ist größer als drei MS Kranke in einer Familie.“ Was soll ich sachen, wir ham‘ halt richtich viel Glück ham‘ wir nämlich. Meine drei älteren Geschwister haben alle MS und mein Bruder bekommt nicht nur Schübe, sondern hat diesen chronisch progredienten Verlauf. Der liegt nun auch schon seit Jahren und kann nur noch leise Sprechen und die Augen bewegen. Als er noch selbständig war tuschelten die Leute gelegentlich das er trinkt, weil er immer so komisch torkelt. Meine Schwestern kennen das nun auch seit Jahren aus Eigenerfahrung. So ist das im Leben eben. Die Leute sehen nur und hören mit dem Denken auf, weil es sich ja auch besser anhört wenn einer betrunken torkelt als krankheitsbedingt. Selbst wenn es so wäre, dass man betrunken torkelt, ist man ja irgendwann wieder nüchtern. Aber die… Weiterlesen »
Mein Vater sitzt seit einem Jahr im Rollstuhl. Früher waren er und meine Mutter aktiv, jedes Jahr im Urlaub, immer unterwegs, Theater, Konzert, Kino. Jetzt traut er sich nicht mehr raus, und meine Mutter bleibt mit ihm zu Hause.
Ab und an hole ich sie raus, da unternehmen wir was zusammen, aber dann nörgelt mein Vater. Dabei könnte er ja mit, viele Theater sind barrierefrei, aber er beschwert sich immer, dass meine Mutter ihn alleine lässt. Mir graut es davor, wenn es schlimmer wird.
Meine Mutter kümmert sich gerne um ihn, das ist es nicht, aber ich finde nicht, dass sie ihr Leben aufgeben muss, wer weiß wie lange sie noch aktiv sein kann.