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Sonntagmorgen in der Stadt

Es fängt schon langsam an hell zu werden und die restliche Feuchtigkeit der Nacht versucht mir in die Hosenbeine zu kriechen, so als ob sie sich da vor dem Tag verstecken wolle. Mein Kopf ist ziemlich leer und ich giere nach einer schönen heißen Tasse Kaffee. Manni, unserem Fahrer, geht es offenbar auch nicht anders, er wiegt von einem Fuß auf den anderen, bläst sich hin und wieder Atemluft in die klammen Finger und seine Augen sind leicht gerötet.
Es ist Mitte September und da kann es nachts schon empfindlich kalt werden, das wissen wir, deshalb sind wir entsprechend angezogen, doch die Warterei scheint die Poren nur zu öffnen, damit die Kälte erst richtig eindringen kann.

„Hoffentlich geht’s bald weiter“, murmelt Manni und ich nicke ihm zustimmend zu. „Ich will in mein Bett“, sage ich, er kräuselt die Stirn, nickt und meint: „Och, jetzt so schön an die Frau kuscheln und aufwärmen, das wär‘ schön.“

Ja, das wäre schön, aber das können wir nicht, wir müssen noch warten. Warten auf den erlösenden Wink vom Einsatzleiter der Polizei, dann können wir endlich tun, wozu wir gekommen sind.

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Es ist doch schon merkwürdig, in deinem eigenen Bereich bist du der King, da leitest du ein Unternehmen mit etwa einem Dutzend Leuten, nährst an die vierzig Menschen, machst zehn Vermieter glücklich und bist wer. Tja und hier stehst du als Randfigur, als unwichtiges Rädchen im Getriebe, als einer der beiden, die nachher die Leiche einpacken und mitnehmen.

„Ihr könnt jetzt!“ ruft uns ein Polizeibeamter zu und winkt mit einem Schreibbrett. Jetzt kann es ihnen nicht schnell genug gehen, auch die wollen jetzt alle wieder ins Warme.
Die Feuerwehrmänner, die auch anwesend sind, packen schon ihr Zeug zusammen; sie waren es, die so lange gebraucht hatten und dann dauerte es ewig, bis der Rettungshubschrauber gelandet war.
‚Der Arzt kommt mit dem Heli“, hatte es geheißen, dann trafen acht Minuten später die Rettungsassistenten mit dem Wagen ein und nach weiteren zehn Minuten der Hubschrauber. Bis der dann gelandet war, bis die Feuerwehr die Leiche geborgen hatte, bis dann alle mal geguckt, fotografiert, geschrieben und sich beraten hatten…
Anderthalb Stunden, in denen immer mehr Polizisten erschienen, und in denen wir warten mußten. So ist das eben manchmal, selbst wenn es gar keinen Zweifel gibt, daß jemand tot ist, die Retter kommen trotzdem und der Arzt stellt den Tod fest. Ist ja auch besser so, auf das Urteil eines Polizisten würde ich mich im Zweifelsfall nicht verlassen.

In diesem Fall kann es gar keinen Zweifel geben, deshalb waren wir zeitgleich mit den Rettungskräften verständigt worden. ‚Autounfall, eine Leiche‘ hieß es und wir waren gleich losgefahren.

„Los, hopp, jetzt beeilt euch mal!“ ruft uns einer von der freiwilligen Feuerwehr zu, den kenne ich, der ist im Hauptberuf Hausmeister in der Seifenfabrik und dort vorwiegend für verstopfte Klos zuständig. Was Uniformen doch für Macht verleihen, es ist die scheinbare Macht, die die Amtstracht verleiht, die einen vom Volke abgrenzt, einen zu erhöhen scheint und die diesem etwas kurzhalsigen, ortsbekannten Schulabbrecher die Möglichkeit gibt, uns herumzuscheuchen. „Los jetzt, ich will nicht noch den halben Tag hier verbringen, nur wegen euch!“

Manni zuckt kurz, doch ich gebe ihm mit der Trage, die wir gerade gemeinsam zum Fundort der Leiche tragen, einen leichten Stoß. Es wäre ein leichtes für Manni, Lord Helmchen eins auf den selben zu geben und ich frühstücke solche Gnome für gewöhnlich, aber komm, das hält alles nur auf…

Die Spur, die der Golf in den weichen Ackerboden gepflügt hat, ist tief, lehmig und lang. Am böschigen Feldrand hört sie plötzlich auf, da muß der Wagen abgehoben haben, etwa 15 Meter kommt nichts, dann ist der Boden aufgewühlt, dort wo der Wagen in den Boden einschlug, sich überschlug und dann auf dem Dach liegengeblieben war.
Die Retter haben eine ganze Seite aufgeschnitten, um den Fahrer zu bergen; man kann von der Seite von der wir kommen, nicht richtig erkennen, was nun durch den Unfall verursacht worden ist und was eine Folge der Bergung ist, jedenfalls sieht das Auto aus, als habe ein Riese damit Fußball gespielt. Das kann keiner überlebt haben, denke ich und dann sehe ich ihn.
Er sieht gar nicht so schlimm aus, alle Gliedmaßen sind noch dran, der Kopf ist an Ort und Stelle, aus der Nase und den Ohren hat er geblutet.

„Mensch, macht hinne“, schnauzt Lord Helmchen, der wahrscheinlich das erste Mal in seinem Leben erwachsenen Leuten etwas sagen darf, glaubt er zumindest. „Wir haben noch Wichtigeres zu tun“, motzt er.

„Ey, sie da!“ ruft mir ein Polizist zu und winkt mit einem Stapel Zettel, er hat die Papiere und die Unterlagen über die vorläufige Leichenschau, das brauchen wir, das geht alles zusammen mit dem Toten in die Rechtsmedizin. Manni und ich setzen die Trage neben der Trage des Rettungsdienstes ab, worauf man das Opfer gebettet hat, ich gehe die paar Schritte über den weichen Acker zum Polizeibeamten, der mich freundlich begrüßt, wir haben uns schon oft bei solchen Einsätzen gesehen. „Gut, daß ihr gleich gekommen seid“, sagt er, drückt mir die Zettel in die Hand und fügt hinzu: „Wie immer, Rechtsmedizin.“

Hinter uns gibt es einen kurzen Schrei, wir fahren herum und sehen, daß Lord Helmchen auf dem Rücken im Dreck liegt und mit den bestiefelten Beinchen strampelt. Manni steht ein kleines Stück daneben und hebt mit einer abwehrenden Bewegung die Arme in die Höhe und ruft: „Der ist nur gestolpert, ehrlich!“

Während ich zu Manni zurücklaufe, werfe ich einen Blick auf den Ausweis des Toten, geboren am 23. April 1990…
Zu jung, um mit zerrissenen inneren Organen auf irgendeinem Acker sein Blut zu vergießen. Wir nehmen das weiße Tuch der Malteser, schlagen es über ihm zusammen, drehen es an den Füßen und am Kopfende zusammen, dann schauen wir uns kurz an, Manni nickt und eine Sekunde später liegt der junge Mann auf unserer Trage. Beim Hochheben habe ich gemerkt, daß der Kopf nachgibt, da ist wohl doch noch mehr kaputt, als ’nur‘ innere Organe.
Man wird das jetzt alles genau feststellen; dort wo wir ihn hinbringen, da bleibt nichts verborgen. Lord Helmchen watschelt vor uns her zu seinem VW-Bus, den Hintern mit Lehm verschmiert und trotz der traurigen Fracht, die wir in unseren Wagen schieben, müssen wir grinsen, als wir hören, wie die Wehrkollegen das behelmte Männlein wegen seiner angeblich vollgeschissenen Hose aufziehen.

Leise zieht der Servo die Heckklappe ins Schloss, wir ziehen unsere Überschuhe aus und verstauen sie im seitlichen Stauraum, dann geht es los zur Rechtsmedizin. Hoffentlich hat da nicht heute wieder die Kröte Dienst. Die Kröte, das ist Joseph Wissmann, Abkömmling Siebenbürger Sachsen, der vor Jahren aus Rumänien hierher gekommen ist und dem das genetische Schicksal ein Gesicht voller Warzen und Beulen beschert hat. Der Name „Kröte“ passt einfach zu ihm und er nimmt das gleichmütig hin, daß alle ihn so nennen, er meldet sich manchmal sogar so am Telefon: „Hier ist Joseph, die Kröte, sie wissen schon…“
Unfreundlich ist er nicht, aber sowas von langsam! Bis der allein seinen Kugelschreiber aus der Hemdtasche genommen, den kleinen Knopf oben gedrückt hat und dann kontrolliert hat, ob unten auch die Mine ordnungsgemäß ausgefahren ist… In dieser Zeit schreibe ich eine ganze Geschichte auf.

Kröte ist der Leichenwächter, Nachtaufseher, Leichennachtwachtaufseher, oder wie man auch immer sagen will, bei der Rechtsmedizin und nur er ist berechtigt, mit dem großen Schlüsselbund die Leichenkammern aufzuschließen, damit wir jemanden bringen oder holen können. Nur eine Zeile muß er dann im Leichenverzeichnis-Buch ausfüllen, aber das dauert. Seine Zunge schiebt er vor Anstrengung mal in den linken, mal in den rechten Mundwinkel und malt Buchstabe für Buchstabe in sein Buch. Immer wieder setzt er ab, kontrolliert auf unseren Unterlagen, ob er bis dahin auch alles richtig geschrieben hat, dann folgen die nächsten Buchstaben. Länger würde es auch nicht dauern, würde man chinesische Schriftzeichen abmalen!

Hat man Pech und die Uhr hinter Kröte schlägt das falsche Stundensignal, dann kann es passieren, daß er zu behender Aktivität aufschwingt, alles wegschiebt und sich erst mal in aller Ruhe ein Ei pellt und eine Tasse Kaffee einschenkt. „Watt mutt, datt mutt“, sagt er dann und vespert seine vorgeschriebene Ruhepause ab, egal wer da alles vor seinem Kabuff steht…

Ja, es ist Kröte der Dienst hat, aber wir haben Glück, Kröte muß aufs Klo, hat es eilig und erstaunlicherweise legt er sich einen Zettel von unseren Unterlagen ins Faxgerät und macht sich eine Kopie: „Ich schreib datt später auf.“

Nur fünf Minuten brauchen Manni und ich, dann rollen wir schon wieder durch die mittlerweile erwachende Stadt, an einer Ecke steht ein Mann in weißem Unterhemd, Jogginghose und Badelatschen. Sein wirres Haar zeigt, daß er dem Bett gerade entstiegen sein muß, er gähnt mit weit aufgerissenem Mund in eine Hand die eine Zigarette hält, mit der anderen Hand hält er eine Leine an deren anderem Ende ein lächerlich kleiner Hund mit gekrümmtem Rücken auf den Gehsteig kackt.
Ja, die Stadt erwacht, selbst an der Rosi-Bar sind schon die Lampen aus.

Und irgendwo in dieser Stadt wohnt eine Familie, bei der jetzt ein paar Leute klingeln und ihnen den Sonntag verderben werden, vielleicht das ganze Leben, wer weiß?

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