„Sie liegt da drüben. Klingeln Sie einfach, wenn Sie gehen.“ Das sind die ersten Worte, die ich von Lina Eckert höre. Und auch die einzigen. Ich komme heute zum ersten Mal zu ihr nach Hause. Ihre Schwester Elsbeth liegt im Sterben. Lina und Elsbeth sind ledig, „alte Jungfern“ hätte man früher gesagt. Und sie leben seit Jahrzehnten in zwei kleinen Doppelhaushälften nebeneinander. Die Treppe führt zu zwei identischen Türen, hinter denen die beiden Schwestern wohnen. Ich klingle bei Elsbeth, so wurde es mir am Telefon gesagt. Lina öffnet mir, weist mir das Wohnzimmer, in dem Elsbeth im Pflegebett liegt, und verschwindet durch eine Tür, die die beiden Wohnungen miteinander verbindet. Da stehe ich nun und bin ein bisschen verwirrt.
Elsbeth braucht nicht viel. Sie schläft oder dämmert vor sich hin. Zwischendurch wird sie ein wenig unruhig, aber das gibt sich recht schnell wieder, wenn ich mir ihr rede. Dazwischen sind wir beide ruhig und lassen einfach die Zeit vergehen. Manchmal befeuchte ich ihren Mund, weil sie mit offenem Mund atmet und dadurch die Schleimhäute so austrocknen. Nach etwa eineinhalb Stunden verabschiede ich mich von Elsbeth. Ich gehe nach draußen durch die Tür und klingle zwei Meter daneben an der identischen Tür von Lina. „Danke“, sagt sie. „Wann kommen Sie wieder?“ Wir vereinbaren einen Termin für zwei Tage später und ich gehe.
Beim nächsten Besuch läuft es genauso. Lina Eckert öffnet mir, sagt „Klingeln Sie einfach“ und verschwindet. So kenne ich das nicht. Die meisten Zugehörigen haben großen Redebedarf, wenn jemand im Sterben liegt. Sie wollen wissen, ob alles normal läuft, was sie tun können und wie lange es wohl noch dauern wird. (Übrigens eine Frage, die man nie wirklich beantworten kann.) Und sie wollen erzählen, wie alles gekommen ist, wie der Zustand jetzt ist, was sie schon alles gemacht haben, wie es ihnen geht. Häufig wünschen sie sich auch Zuspruch, wollen hören, dass sie ihre Sache gut machen. Bei Lina Eckert ist das anders. Sie braucht nichts von mir, außer einer Sache: Zeit. Sie ist rund um die Uhr für ihre Schwester da, pflegt sie und schaut nach ihr. Und zwischendurch braucht sie einfach mal eine oder zwei Stunden für sich alleine, in dem Wissen, dass für ihre Schwester gesorgt ist. Und auch das ist natürlich in Ordnung, wenn auch erst mal ein wenig ungewohnt für mich.
Die Begleitung von Elsbeth ist unaufgeregt, so kann man es wohl am besten beschreiben. Ich komme ein paar Mal und verbringe Zeit bei ihr, ohne allzu viel zu tun. Jedes Mal werde ich sehr knapp von Lina begrüßt und wieder verabschiedet, als wollte sie jede Sekunde meiner Anwesenheit für sich nutzen. Dann bekomme ich den Anruf, dass Elsbeth verstorben ist. Ruhig und unaufgeregt. Bei dieser Begleitung habe ich mal wieder erlebt, wie unterschiedlich Menschen und ihre Bedürfnisse sind. Und dass es nur darum geht, diese Bedürfnisse so gut wie möglich zu erfüllen. Auch wenn das bedeutet, dass ich so gut wie gar nichts tue. Manchmal ist genau das richtig.
Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:
Schlagwörter: angehörige, Hospizarbeit, Sterbebegleitung, sterben?
Die eigene (mentale) Gesundheit ist mindestens genauso wichtig (wenn nicht wichtiger). Darum kann ich Lina sehr gut verstehen.
Ich auch, nachdem die erste Irritation abgeklungen war 🙂
Vielleicht hat Lina auch schon genug Menschen sterben sehen und braucht deshalb keine beratende Gespräche – oder sie macht alles mit sich selber aus.
Sehr gut möglich 🙂