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Wie ich Herrn Klingenbacher anlog

„Sind Sie katholisch oder evangelisch?“, fragt Herr Klingenbacher und schaut mich durchdringend an. Ich sitze mit ihm und einigen anderen Bewohnern der Demenzstation am Tisch und lese aus der Zeitung vor. Die Gretchenfrage nach dem Glauben ist für Herrn Klingenbacher aus irgendeinem Grund heute sehr wichtig. Er hat schon mehrfach erzählt, dass draußen jetzt eine Prozession vorbeigehe und dass er bald zum Gottesdienst abgeholt würde. Beides stimmt objektiv betrachtet nicht, aber für ihn ist das Thema wichtig. „Und, sind Sie katholisch oder evangelisch?“, wiederholt er seine Frage.

Mir bleibt nichts anderes übrig, ich muss sie wohl beantworten. „Katholisch“, sage ich und warte für einen Moment auf den Blitz, der sicher gleich auf mich herniedergehen wird. Tatsächlich bin ich nämlich schon mit Anfang 20 aus der Kirche ausgetreten und habe das keinen Moment lang bereut. Im Gegenteil, ich stehe der Kirche wirklich mehr als skeptisch gegenüber. Aber soll ich damit jetzt einen dementen alten Mann beunruhigen, der meinen Argumenten sowieso nicht folgen könnte? In dessen Welt es neben katholisch und evangelisch einfach nichts gibt? Und der sich scheinbar auch noch Sorgen um mich macht? Ganz sicher nicht.

„Katholisch“ scheint die richtige Antwort gewesen zu sein. Herr Klingenbacher nickt zufrieden. Das Thema ist erledigt, er zeigt mir mit einem kleinen Winken, dass ich wieder aus der Zeitung vorlesen kann.

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Hintergrund: Der Umgang mit Demenzkranken

Menschen mit Demenz leben ab einem gewissen Krankheitsgrad zunehmend in ihrer eigenen Welt. Sie erzählen Dinge, die nicht der Realität entsprechen. Dass sie heute noch Besuch von Onkel Hubert bekommen, um mal ein Beispiel zu konstruieren. Und die meisten Menschen reagieren dann korrigierend: „Nein, der Onkel Hubert ist doch schon lange tot, der kommt heute nicht!“ Diese Information kann der Demenzkranke aber kaum in seine Wirklichkeit integrieren. Er ist verwirrt, beunruhigt, verärgert, vielleicht auch verängstigt. Es geht ihm jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit schlechter. Und merken wird er sich die Information, dass Onkel Hubert tot ist, auch nicht. Deshalb empfiehlt man, Menschen mit Demenzerkrankung in ihrer Wirklichkeit anzunehmen. Eine sinnvolle Reaktion wäre zum Beispiel: „“Ach, da freust du dich sicher, gell?“ Dann könnte man zum Beispiel über Erinnerungen mit Onkel Hubert sprechen. Der Demenzkranke fühlt sich ernst genommen, kann sich mit positiven Gefühlen beschäftigen und ist zufrieden. Und der Gesprächspartner ist mitten in einem angenehmen Thema statt mit ihm über den Wahrheitsgehalt von Aussagen zu streiten. Eine sehr viel bessere Situation für alle Beteiligten.

Hattet ihr schon mal mit Demenzkranken zu tun? Was sind eure Erfahrungen?  

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(©si)