Menschen

Wie schwer ist eigentlich ein Nagel?

Inventur

Es liegt in der Natur der Sache, dass Auszubildende, oder wie ich damals immer noch sagte „Lehrlinge“ jüngere Menschen sind. Man kann ja so tun, als sei man nur von edlen Gedanken getrieben und es läge einem nur das Wohl der kommenden Generationen am Herzen. Aber wenn man ehrlich ist, sind Auszubildende immer auch wichtige Arbeitskräfte.

Unternehmen, wie beispielsweise die BASF, können es sich erlauben, ganze Heerscharen von Azubis recht unproduktiv zu schulen und den Fokus fast ausschließlich auf die Ausbildung zu lenken. Durch meine Tätigkeit als Prüfer bei der IHK habe ich aber Hunderte von Auszubildenden kennengelernt und immer wieder gehört, dass die meisten in erster Linie zum Arbeiten da waren. Oft genug hörte ich, wenn ich beispielsweise nach bestimmten Kenntnissen fragte: „Dafür war bei uns keine Zeit, ich war von morgens bis abends mit auf Montage.“

Viele Betriebe übersehen, dass wir ein duales Ausbildungssystem haben, das die Ausbildung in der Berufsschule und die Ausbildung im Betrieb vorsieht. In vielen Fällen findet Ausbildung fast ausschließlich in der Berufsschule statt und im Betrieb wird gearbeitet. Schlimmer noch: Die in der Berufsschule erlernten Abläufe dürfen im Betrieb noch nicht einmal angewandt werden.

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Auf der anderen Seite bin ich aber auch der Meinung, dass Auszubildende am besten lernen, wenn sie relativ schnell in die täglichen Abläufe des Betriebs eingebunden werden. Ich bin schon ein Verfechter von Learning by doing und Training on the job.
Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass es wichtig ist, jedem Auszubildenden gleich auch einen Bereich zu geben, für den er die Verantwortung trägt. Es ist wichtig, dass er es lernt, Verantwortung zu übernehmen, Konsequenzen zu tragen und in wenigstens einem Teilbereich der Chef zu sein.
Meine Erfahrungen zeigen, dass das die Bindung an den Betrieb stärkt, das Selbstbewusstsein fördert und zu höheren Leistungen anspornt.

Vor allem von den Eltern der Auszubildenden habe ich ganz oft positive Rückmeldungen bekommen, wie sehr zum Positiven sich die jungen Leute entwickelt haben, wenn sie erst einmal so einen eigenen Bereich bekommen haben.

Natürlich sind es die Auszubildenden, die auch mal die langweiligen Sachen erledigen müssen. Eine gewisse Hierarchie gibt es in jedem Betrieb und „Scheiße fällt nunmal nach unten„, heißt es. Aber es heißt auch ganz zurecht: Lehrjahre sind keine Herrenjahre.

Einmal hatte ich einen Azubi, dessen Mutter mir immer wieder auf den Senkel gegangen ist. Die rief mich immer mal wieder an und beklagte sich, wie sehr wir doch ihren Sohn ausnutzen würden. „Ich hab da schon bei der Handwerkskammer angerufen! Sie nutzen Clemens zur Sklavenarbeit aus!“
Der Sklave Clemens hatte eine bittere Lektion lernen müssen. Einmal im Jahr ist Inventur. Da zählen Kaufleute Waren und Lagerbestände, um Werte für die Buchhaltung zu ermitteln. Lästig und manchmal auch sinnbefreit, aber anders geht es nicht. Schließlich bekommt man so auch heraus, wenn geklaut oder geschludert wird oder etwas mit den betrieblichen Abläufen nicht stimmt.

Ich stehe bei Clemens in der Werkstatt und sage: „Wir müssen Inventur machen. Dabei müssen wir ermitteln, wie viele Urnen, Särge und Leichenhemden wir haben. Aber leider müssen wir auch feststellen, wie viele Schrauben und Nägel wir haben. Bei den losen Nägeln und Schrauben machst Du das so: Du zählst 100 Nägel ab und wiegst die. Dann weißt Du, was 100 Stück wiegen. Dann wiegst Du die restlichen und kannst ausrechnen, wie viele das ziemlich genau sind. Es kommt da nicht auf einzelne Nägel und Schrauben an. Hast Du das verstanden?“

„Nee.“

„Okay. Du zählst 100 Nägel ab. Mach das mal!“

Clemens zählt 100 Nägel ab und glotzt mich an.

„Gut, nun legst Du die hier auf die Waage. Du siehst, sie wiegen 120 Gramm. Okay?“

Der Sklave nickt.

„So, und jetzt nimmst Du die restlichen Nägel dieser Sorte und wiegst die alle zusammen ab.“

Er kippt die Nägel in die Waagschale, es sind 5 Kilo.

„Das sind also 5.000 Gramm. Jetzt weißt Du, dass 100 Nägel 120 Gramm wiegen und Du weißt, dass 5000 Gramm insgesamt da sind. Du musst jetzt die 5000 durch 120 teilen, dann weißt Du, wie oft diese 120 in den 5000 enthalten sind. Kannst Du mir folgen?“

Clemens nickt. Ich tippe das in den kleinen Taschenrechner ein und komme auf rund 42. „So, da wir wissen, dass 120 Gramm ziemlich genau 100 Nägeln entsprechen, können wir ausrechnen, dass wir 42 mal 100 Nägel haben. Das müssten 4.200 Nägel sein.“

Der Junge strahlt: „Und ich hätte die jetzt alle gezählt. Ich wusste nicht, dass man so was auch ausrechnen kann.“

Er macht sich ans Werk.

Ich dachte eigentlich, er würde für den Rest der Arbeit noch eine Stunde benötigen, doch zur Mittagszeit war Clemens immer noch nicht wieder im Büro.
Also schicke ich Sandy, um nach ihm zu sehen. Sie kommt wieder hoch und ich frage sie, was Clemens denn macht. Sandy rollt nur mit den Augen und meint: „Der versucht gerade, einen Sarg zu wiegen.“

Abends ruft mich seine Mutter an: „Ich bin entsetzt! Mein Mann und ich sind fassungslos! Unser Sohn hat Mittlere Reife! Außerdem lernen (sic!) sie ihm alles falsch. Ich bin selbst gelernte Kauffrau. Was nutzt es Ihnen, wenn Sie wissen, was alles wiegt, Sie müssen das zählen! Es kann ja nicht sein, dass ich mich abends hinsetzen muss, und alles, was Sie Clemens beibringen, nochmal mit ihm nacharbeiten muss. Im Buch von der Berufsschule steht das nämlich anders. Wenn der Junge den ganzen Tag im Keller sitzt, kann der ja nichts lernen.“

Ich hole tief Luft, will der Alten mal eben den Schneid abkaufen, mir fallen tausend Sachen ein, die ich ihr sagen könnte, aber ich schaue auf die Uhr, es ist Feierabend und ich habe eigentlich keine Lust, mit der Frau herumzustreiten. Deshalb sage ich nur: „Sie haben ja so recht! Wenn Sie wüssten, wie sehr Sie recht haben. Aber das sind alles EU-Vorschriften, wissen Sie, da kommt alles aus Brüssel und Straßburg.“

Dass ich ihr Recht gab, damit hatte sie nicht gerechnet. Das Gespräch war damit auch beendet.

Clemens ist heute übrigens im Möbelgroßhandel tätig. Ob er Schrankwände wiegt?

Bildquellen:
  • urnen-wiegen: Peter Wilhelm KI


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Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 18. Mai 2025

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