Geschichten

Frau van Ende

Frau van Ende war eine sehr beeindruckende Person. Die gebürtige Belgierin, die stolz darauf war, daß ihr Urgroßvater noch geboren worden war, als es Belgien noch gar nicht gab, war nach dem Krieg bei Familie Sondern einquartiert worden.
Ihr Haus war in einer Bombennacht dem wütenden Feuersturm zum Opfer gefallen, ihr Verlobter nicht aus dem Krieg heimgekehrt.
Deshalb ist auch schon das erste Wort dieser Geschichte im Grunde genommen falsch, denn die alte Dame legte bis zu ihrem Tode allergrößten Wert auf die Anrede ‚Fräulein‘.

Das Zimmer, das Familie Sondern dem ausgebombten Fräulein zur Verfügung stellen mußte, war vielleicht knappe 20 Quadratmeter groß, aber vom ersten Winkel bis zur letzten Zimmerecke angefüllt mit kuriosen Mitbringseln aus aller Welt.
Fräulein van Ende war Handelskorrespondentin von Beruf gewesen und hatte von ihren ausgedehnten Auslandsaufenthalten Souvenirs mitgebracht, die man nicht nur als abstrus, sondern sogar als apokryph bezeichnen könnte.
Ein Aschenbecher aus einem Gürteltierrücken, ein Hocker aus einem Elefantenfuß und ein kleines ausgestopftes Krokodil mit seltsam schräg stehenden Glasaugen standen neben bunten Flaschen mit eingelegten Reptilien und einem fast meterlangen Segelschiffmodell mit spinnengespinstüberzogener Takelage.
Von der Decke baumelten die merkwürdigsten Musikinstrumente, bei deren Anblick man sich schon vorstellen konnte, daß kaum jemand hierzulande sie jemals hätte spielen können.
Nur ein schmaler Weg von der Tür bis zum großen dunkeleichenen Himmelbett war wirklich frei, der ganze Rest des Zimmers war, bis auf eine Ecke mit einem Schaukelstuhl hoffnungslos vollgestellt.

Familie Sondern hatte sich irgendwann an die alte Dame gewöhnt und ob ihres inzwischen hohen Alters mochte man sie auch nicht mehr drängen, sich etwas anderes zu suchen und wartete lieber ab, daß Bruder Hein eines Tages das dringend benötigte Zimmer ‚entmieten‘ würde.

Werbung

Doch es kam anders.
Eines Tages erwachte Fräulein van Ende, die sonst so schön von fernen Ländern fabulieren konnte, und war von einem nächtlichen Schlaganfall halbseitig gelähmt, ihrer Sprache beraubt und im Kopf verwirrt.
Das Agneshaus sollte zu ihrer letzten Heimstatt werden, ein Altenheim mit Pflegestation.

Schon vor vielen Jahren hatte die weitgereiste Belgierin bei mir eine Bestattungsvorsorge abgeschlossen. Die Dame wollte eingeäschert werden und ihre Asche sollte in den Ort ihrer Geburt gebracht und dort auf einem kleinen Friedhof beigesetzt werden.

Als ich erfuhr, daß es Fräulein van Ende so schwer erwischt hatte, hatte mich das sehr betrübt gemacht, denn gerne hatte ich ihren wirklich spannenden Erzählungen gelauscht.
‚Na ja‘, dachte ich, ‚die kommt nicht mehr richtig auf die Beine, nicht in dem Alter.‘

Doch auch hier kam es anders. Mit unermüdlicher Beharrlichkeit und einer Kraft, die man einer so alten Person gar nicht zugetraut hätte, schaffte sie es, sich so weit wieder aufzurappeln, daß von dem Schlaganfall ein halb gelähmtes Gesicht und ein unbeweglicher, kraftloser Arm zurückblieben, sie aber wenigstens wieder bei altersgemäß klarem Verstand halbwegs verständlich sprechen und mit Hilfe zweier Stöcke kurze Strecken gehen konnte.
Das durfte ich mit großem Erstaunen bewundern, als ich eines Tages von der Heimleitung angerufen und zu der alten Frau gebeten worden war.

Was war das für eine Freude, als ich sie besuchte; noch nie war nämlich irgendjemand zu ihr gekommen, alleinstehend und etwas sonderlich wie sie war.
Das Zimmer mußte sich Frau van Ende mit einer anderen Dame teilen, die allerdings verkalkt war und nicht mehr wußte, wo und wann sie lebte; heute würde man von Demenz sprechen, damals sagte man einfach, die alten Leute seien verkalkt.

„Ach Gott, die fragt mich jeden Tag dreimal, ob ich ihre Mutter oder die Mutter Gottes bin, aber ansonsten ist datt ne ganz Liebe“, sagte Frau van Ende und bedeutete mir, Platz zu nehmen.
Sie habe sich umentschieden, jetzt wolle sie nicht mehr verbrannt werden, sondern lieber in einem kleinen Reihengrab auf dem Friedhof ganz in der Nähe des Agneshauses beigesetzt werden. Ich schrieb das auf, rechnete nach und kam auf einen nicht besonders üppigen Betrag, den Fräulein van Ende noch zu zahlen hatte, denn diese Variante war etwas teurer.

„Nee, dann nehme ich doch noch einen etwas teureren Sarg. Wissen Sie, das ist nämlich so, daß ich im Moment das Heim noch von meinem Vermögen bezahle und so teuer wie das hier ist, ist mein Geld in ein paar Monaten alle. Ein Leben lang gespart, genug für eine Reise um die ganze Welt und dann geht das hier für ein halbes Zimmer und dreimal täglich schlechtes Essen in wenigen Monaten drauf. Da nehm‘ ich lieber noch ’nen schönen Sarg, watt weg ist, datt is weg.“

Ich nickte, wir unterhielten uns noch eine Weile und dann bat mich Frau van Ende noch, ihr doch ein Dutzend Nachthemden zu besorgen. „Ich muß fast den ganzen Tag liegen, manchmal geht es mir auch nicht so gut wie heute und da brauche ich viele Nachthemden. Die Schwestern schneiden die hinten auf, damit sie mich besser damit ankleiden können, aber dann kann ich nicht auf den Gang, weil man von hinten meinen Poppes sieht und wer will schon den Hintern von’ner alten Frau sehen?“ Sie lachte, als sie mir das sagte und schüttelte den Kopf. „Verrückte Welt“, fügte sie noch hinzu und drückte mir einen Geldschein für die Hemden in die Hand.

Meine Frau kaufte die Nachthemden, denn ich bin im Kauf von Nachtwäsche für alte Frauen eher weniger geübt. Ich kenne mich mit Nachtwäsche für jüngere Frauen aus und mit Wäsche für die Reise ins Jenseits. Männer brauchen ja sowieso nicht so viel Wäsche, eine Unterhose hat man an, eine ist in der Wäsche und eine hat man im Schrank, falls man mal ins Krankenhaus muß…
(Nein, ich habe mehr, mindestens zwei Dutzend.)

Als ich die Hemden ins Heim brachte, erschrak ich. Frau van Ende lag in ihrem Bett wie tot. Eingefallene Wangen, der Mund stand offen und hätte sie nicht leise röchelnd geatmet, hätte ich nach den Sterbepapieren gefragt, sie gleich auf die Trage gepackt und mit ins Bestattungshaus genommen.
Ja, sie habe wieder einen leichten Schlaganfall gehabt, von dem sie sich auch keinesfalls mehr so erholen würde, wie beim ersten Mal, sagte etwas unwillig die Pflegerin an der Rezeption.
Traurig ging ich ins Zimmer zurück und kam gerade dazu, als man Frau van Ende fütterte.
Es war das Abendessen, irgendein weißer Brei, der glasig war, wie Tapetenkleister.
Im Sekundentakt schaufelte die Pflegerin der alten Dame Brei in den Mund, Frau van Ende schien gar nicht zu schlucken, jedenfalls lief das meiste von dem Brei an ihrem Kinn herunter; und trotzdem – wieder einen Löffel voll ins Maul, das Übergelaufene abwischen und wieder einen Löffel voll.
Dann den Mund einmal rundherum abwischen, eine Plastiktrinkflasche angesetzt und ein paar ordentliche Schlucke in dem Mund gedrückt. Die Brühe lief der armen Frau einfach nur aus den Mundwinkeln.

Das konnte ich nicht mit ansehen und sagte: „Meine Güte, was machen Sie denn da? Kann man Fräulein van Ende nicht etwas aufsetzen und sie richtig füttern? Sie schaufeln das ja in die arme Frau rein, wie ein Heizer die Kohlen in eine Lok!“

„Was? Ich habe keine Zeit, ich muß noch sechs andere abfüttern“, lautete die Antwort.

Weg war die Schwester.

Fürchterlich! Das Erlebte beschäftigte mich einige Tage und ich sprach oft mit meiner Frau darüber. Wir beschlossen, gemeinsam Fräulein van Ende regelmäßig zu besuchen und wenigstens einmal täglich, entweder mittags oder abends zu den Mahlzeiten da zu sein, um sie menschenwürdig mit Nahrung zu versorgen.
Als wir an einem der nächsten Tage in das Zimmer kamen, stank es nach Urin und Kot. Grauenvoll!
Ich schaue auf das Schreibbrett am Fußende des Bettes und sehe, daß angeblich eine Viertelstunde vorher die alte Dame gewaschen worden sei.
Wütend holte meine Frau eine der Pflegerinnen, die darauf beharrte, Fräulein van Ende eben erst gewaschen und ihr die Windeln gewechselt zu haben.
Dabei klappte ich die Bettdecke zurück und wir sahen, daß der Kot schon dick seitlich aus der Windel quoll; ich möchte gar nicht wissen, wie lange die Frau schon in ihrem eigenen Dreck gelegen hatte.

„Nee, nee“, rief jemand von der Tür; die Oberschwester, oder wie man das nennt: „Da waren wir gerade mit am Anfangen mit der Hygiene und hatten das schon eingetragen, da war ein Notfall auf Zimmer 26 und wir mußten schnell weg. Das haben wir noch nicht gemacht, machen wir aber jetzt. Gehen’se mal ruhig nach Hause, wir kümmern uns um ihr‘ Oma.“

Nein, wir haben vor der Tür gewartet und meine Frau hat sich dann davon überzeugt, daß wirklich alles in Ordnung war.
War es. Man hatte die alte Belgierin gewaschen und neu gewickelt, nur hatte sie jetzt ein Nachthemd aus Papier an.

„Warum hat die denn so einen Fetzen an und wo sind die neuen Nachthemden, die wir neulich erst gebracht haben?“ fragte meine Frau eine der Pflegerinnen.

„Keine Ahnung, die sind von der Wäscherei nicht zurückgekommen.“

„Wir haben zwölf nagelneue Nachthemden gebracht und extra noch mit dem Namen beschriften lassen…“

„Keine Ahnung, jedenfalls hat die keine Hemden mehr, das eine von vorhin ist ja jetzt schmutzig und muß in die Wäscherei…“

„…von wo es nie wieder zurück kommt?“ fragte meine Frau.

Die Schwester zuckte nur mit den Achseln, glotzte uns verständnislos an und ging.

Wieder zu Hause angelangt meinte meine Frau: „Da muß man doch was machen, das geht doch so nicht. Unternimm irgendwas, egal was, aber unternimm was!“

Ich kam nicht mehr dazu. Vier Tage später war Fräulein van Ende tot.
Gestorben war sie nicht wegen der Umstände in diesem Heim, aber in diesen Umständen.

Ich gehe heute noch manchmal zu der Stelle an der Friedhofsmauer, wo sie unter einem großen Grabstein, der das ganze Grab bedeckt, begraben liegt. Und wenn ich da stehe, dann meine ich manchmal ihre Stimme zu hören, mit dem leichten flämischen Akzent, wie sie von Surinam und Casablanca erzählt. Ich bilde mir das natürlich nur ein, aber ich schließe dann die Augen und verharre in dieser Einbildung, weil ich sonst die Bilder nicht aus meinem Kopf bekomme, in welchen unwürdigen Verhältnissen die Frau ihre letzten Monate zugebracht hatte.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

Keine Schlagwörter vorhanden

Lesezeit ca.: 12 Minuten | Tippfehler melden


Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)