Geschichten

Leise Töne

Die Familie sitzt im Beratungszimmer und Antonia bringt Kaffee und ein paar Plätzchen.
Es sitzen da die Witwe, ihre zwei Söhne und eine Schwiegertochter.
Ich komme aus einer anderen Beratung, werde auf dem Gang kurz von Frau Büser informiert und gehe dann zu diesen Leuten.
Alle sind sehr traurig und hängen erwartungsvoll an meinen Lippen. Sie wissen nicht, was auf sie zu kommt, sie haben Angst vor dem Unbekannten und man merkt, daß sie froh sind, daß ich ihnen ihre Angst nehme, indem ich offen alle kommenden Handlungen und Schritte erkläre.

Das dauert der Schwiegertochter zu lange. Sie hat die ganze Zeit schon ungeduldig auf ihrem Handy herum getippt und mit den Füßen gescharrt. So als ob sie die einzige im Raum sei, die des Lesens und Schreibens mächtig sei, unterbricht sie mich recht unhöflich und respektlos und sagt:

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„Nun lassen wir mal dieses Geschwafel, kommen Sie mal zur Sache!“

„Aber Henriette!“ schimpft die Witwe vorwurfsvoll: „Der Mann erklärt uns doch alles so nett und ich will doch wissen, was mit dem Papa jetzt gemacht wird.“

„Mein Gott!“ Henriette rollt vorwurfsvoll mit den Augen: „Lass doch endlich mal dieses ‚Papa‘! Das war Dein Mann, Dein Ehemann und nicht ‚der Papa‘. Wenn Manfred und Günther Papa sagen, dann passt das, aus Deinem Mund klingt das nur lächerlich.“

Manfred, offensichtlich der Mann von Henriette, legt beschwichtigend seine Hand auf ihren Arm, sie aber schüttelt die Hand ab, denn sie ist noch lange nicht fertig mit dem was sie sagen will und möchte gar nicht beschwichtigt werden.

„Jetzt mal Butter bei die Fische! Hier geht es um ein ganz klares Geschäft. Wir haben das Geld und der da soll dafür eine anständige Beerdigung machen. Punkt.“

‚Der da‘, das bin ich und mehr als einen gelangweilten Blick meinerseits bekommt Henriette nicht dafür.

Ich habe zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht über Geschäftliches gesprochen, sondern nur die weitere Vorgehensweise erklärt. Die Menschen wissen doch im Allgemeinen nicht, was ein Bestatter überhaupt alles tut und genau das läßt ihnen diesen Beruf oft unheimlich erscheinen. Weil sie nicht wissen, was da geschieht, stellen sie sich alles Mögliche vor und irgendwoher müssen ja diese ganzen Märchen kommen, daß den Toten die Augen ausgestochen, die Knochen gebrochen und sie ihres Zahngoldes beraubt werden.
Deshalb scheint es mir besonders wichtig, die Leute sozusagen an die Hand zu nehmen und behutsam mit auf die Reise zu nehmen, die ihr Verstorbener jetzt antreten wird. Nur dürfen sie, nach einem Stück des Weges, hier bleiben, der Tote wird gehen müssen. Ganz und für immer.
Was bleibt sind die Erinnerungen.
Und damit dieses Begleiten ein schönes, wenn auch trauriges, Erlebnis werden kann, dafür sind wir da.

„Also, was kost‘ das jetzt alles, so summa sumarum, so alles in allem; und kommen Sie jetzt nicht mit irgendwelchen Ausflüchten und hinterher kostet’s Doppelte; kenn ich alles, habe ich alles schon gehört, ich weiß wie ihr das so macht.“

Ich erkläre ihr, nach einem weiteren gelangweilten Blick, daß ich keineswegs die Absicht habe, irgendwen über den Tisch zu ziehen. Jeder der zu uns komme, erfahre gleich, was an Kosten auf ihn zukomme und gehe mit einer hieb- und stichfesten schriftlichen Auftragsbestätigung nach Hause.

„Damit brauchen Sie uns gar nicht erst kommen, wir sind da nicht so einfach zu beeindrucken. Ich habe mich nämlich vorher erkundigt, ich habe im Internet gegoogelt und mich auf dieser Verbraucherplattform umgeschaut. Da hätte ich sowieso einen ganz anderen Bestatter rausgesucht, aber meine Schwiegermutter wollte ja unbedingt zu Ihnen.“

„Ja, der Herr hat doch schon den Opa damals so schön beerdigt; und billig war’s auch“, meldet sich die Witwe zu Wort und fügt hinzu: „Mir ist viel wichtiger, daß der Hugo seine Musik gespielt bekommt.“

Was für Musik das denn sei, erkundige ich mich und die Witwe erklärt mir, daß ihr verstorbener Hugo zu Lebzeiten lange in einer kleinen Jazzband das Saxophon gespielt habe. Manfred zieht eine offensichtlich selbstgebrannte CD aus der Schreibmappe, die vor ihm liegt und sein Bruder Günther zückt aus der inneren Tasche seines Jacketts ein etwas zerknittertes Foto.

Manfred sagt: „Hier auf der CD können Sie sich ja mal meinen Vater und seine Band anhören und da auf dem Foto, der in der Mitte, so halbrechts, das ist er.“

Ich betrachte das Foto, es zeigt fünf Männer mit ihren Instrumenten und darunter steht „Free Note Jazzers“

„Ja ja, das hat der so gemacht, aber das interessiert hier nicht. Wir wollen eine ganz normale Beerdigung, also jetzt so eine mit der Urne und der Pfarrer soll kommen, die Orgel soll spielen und fertig“, sagt Henriette und schiebt mir einen Zettel rüber, auf dem sie mit Kugelschreiber drei Lieder aus dem Kirchengesangsbuch notiert hat. „Wenn der Orgelheini noch das Ave Maria drauf hat, dann kann er das meinetwegen auch noch spielen, aber damit soll es dann bitte auch gut sein.“

Manfred atmet hörbar tief ein und will etwas sagen, doch Henriette reckt das Kinn vor, kneift die Augen zusammen und ihr Mund verwandelt sich in einen lippenlosen, zusammengepressten Strich.
Manfreds Ambitionen, sich einzumischen, verebben sofort.
Günther tippt über den Tisch auf das vor mir liegende Bild und beginnt: „Es wäre schön, wenn…“, doch Henriette nimmt mir das Bild einfach weg und legt es zu ihren Notizen aus dem Internet und sagt: „Schluß jetzt mit der Gefühlsduselei! Passen Sie mal gut auf, ich bezahle den Scheiß hier und die haben alle kein Fett auf der Kette, ist das klar?“

Dabei macht sie eine ausladende Handbewegung, die alle Anwesenden umfasst, dann grinst sie trumphierend und ergänzt: „Wer die Musik bezahlt, der bestimmt auch was gespielt wird, oder?“

Damit ist für sie alles gesagt und weder die Witwe, noch die beiden Söhne des Verstorbenen wagen es, noch irgendetwas zu sagen. Die Söhne sind förmlich in sich zusammengesunken und die Witwe hebt und senkt nur schicksalsergeben ihre Schultern und schnieft in ein weißes, kleines Taschentuch.
Sie sagt nichts, aber ihre wasserblauen Augen sagen: „Ach, was soll ich machen, ich will jetzt auch keinen Streit.“

So geht das nicht, denke ich und wage einen erneuten Vorstoß: „Hatte der Verstorbene denn selbst besondere Wünsche bezüglich seiner Bestattung? Hat er jemals darüber gesprochen, was er für Vorstellungen hat?“

„Ja“, atmet die Witwe erleichtert auf: „Er hat immer gesagt, daß alle auf seiner Beerdigung in bunter Straßenkleidung kommen sollen, daß Wein ausgeschenkt werden soll und daß seine Jungs spielen sollen. Ein fröhliches Fest…“

Henriette klatscht mit ihren beiden Handflächen auf den Tisch, das hört sich fast an wie ein Pistolenschuss und sofort stockt die Witwe und Henriette steht auf: „Los, zeigen Sie uns mal, was Sie so an Zeug da haben, so Särge und so. Was die Beerdigung anbetrifft, so wissen Sie ja Bescheid, Urne, kleines Grab, Pfarrer und Orgel, sonst nichts. Kommst Du, Schwiegermama?“

Sie nimmt die alte Dame beim Ellenbogen, zieht sie vom Stuhl hoch und schiebt sie zur Tür hinaus.
Es ist alles gesagt, ich bekomme keine Chance mehr, auf die Leute einzuwirken. Die Söhne laufen uns hinterher wie vertrottelte Zirkuslamas, die Witwe ist froh, sich auf ihren wackeligen Beinen halten zu können und irgendwann stellt sich eine Stimmung ein, die erkennen läßt, daß eigentlich auch alle froh sind, daß sich Henriette um alles kümmert.

Früher einmal hatten wir über vierzig Särge in der Ausstellung und zwei große Ständer hingen voll mit Sargdecken und Talaren. Ich war stolz auf die große Auswahl, doch im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, daß die Menschen durch zu viel Auswahl eher verunsichert wurden und die Entscheidungsprozesse sich zu sehr in die Länge zogen.
Wir haben dann die Särge im Ausstellungsraum auf ein Dutzend reduziert und nur die gängigsten Decken und Talare dort präsentiert. Auch bei den Urnen sind wir von über sechzig Modellen auf gut ein Dutzend zurückgegangen.
Wer da nicht das Passende findet, für den haben wir noch den umfangreichen Katalog mit zehn Mal so vielen Modellen.

Aber selbst bei zwölf Särgen fällt manch einem die Entscheidung schwer und die Witwe konnte sich partout nicht zwischen drei in Frage kommenden Modellen entscheiden. Alles Särge der unteren Mittelklasse, sehr schön gearbeitet, nicht zu aufwendig und vor allem sehr günstig.

Henriette dauert auch das wieder zu lange und sie unterbricht das Gespräch zwischen der Witwe und ihren Söhnen: „So, jetzt zeigen Sie uns mal die richtigen Särge. Man kennt das ja, in der Ausstellung habt Ihr immer nur die teuren und die Schnäppchen habt Ihr irgendwo anders. Es gibt doch da so ganz einfache Särge, ich meine, der kommt doch sowieso ins Feuer… der Sarg meine ich.“

Ich erkläre, daß es tatsächlich noch den klassischen ‚Verbrenner‘ gibt, einen schmucklosen, aber durchaus nicht häßlichen, Sarg ohne Griffe und Deckelschrauben, ohne irgendwelche Verzierungen, ja sogar ohne Lack und Farbe; rohes Holz für die ganz günstige Einäscherung, den wir vorwiegend verwenden, wenn niemand den Sarg zu Gesicht bekommt, weil beispielsweise eine Trauerfeier mit der Urne stattfindet.

„Den nehmen wir“ beschließt Henriette, ohne den Sarg gesehen zu haben und als sich bei ihrer Schwiegermutter, ihrem Mann und ihrem Schwager Widerspruch zu regen scheint, holt sie tatsächlich ihr Portemonnaie heraus, zückt ein paar große Scheine und sagt: „Wer bezahlt das alles? Na?“

Die Witwe schaut mich an und sagt mit einem Unterton, der schon fast entschuldigend klingt: „Wissen Sie, mein Mann ist doch so lange krank gewesen am Ende, da hat die Pflege so viel Geld verschlungen, daß jetzt nichts übrig ist für die Beerdigung. Mein Sohn und meine Schwiegertochter erben doch aber mal das Haus und deshalb wollen die beiden jetzt so freundlich sein und die Bestattung bezahlen.“

„Ja, aber man könnte doch ein wenig mehr auf die Wünsche der Witwe und des Verstorbenen eingehen“, versuche ich es erneut und noch bevor Henriette sich wieder aufplustern kann, sage ich noch schnell: „Ich bin mir sicher, daß wir das so hinbekommen, daß man alles machen kann, was der Vater sich gewünscht hat und es trotzdem nicht mehr kostet…“

„Am Ende kommt dann noch diese durchgeknallte Fidelkombo, nee, nee, das kommt gar nicht in Frage. Das Ave Maria ist das Höchste der Gefühle und sonst alles Standard. Ich bin Sozialarbeiterin, beamtet versteht sich, und kann mir keinen öffentlichen Aufruhr leisten. Wenn bei uns jemand stirbt, dann kommt der anständig unter die Erde, so wie es sich gehört und wir machen keinen Negerzirkus mit Tanz und Trallala am Grab, wir sind doch nicht in New Orleans!“

Mir platzt bei soviel Ignoranz fast der Kragen und gerade will ich mir die hochnäsige Zicke verbal vorknöpfen, da nickt die Witwe und sagt abschließend: „Vielleicht hat meine Schwiegertochter Recht, wir machen es so, wie sie es sagt.“

Ich kann nichts mehr machen, ich muß den Auftrag im Büro so aufnehmen, wie Henriette ihn mir diktiert und dann verlassen uns die vier.

Der restliche Ablauf ergibt sich aus der Routine. Der Verstorbene wird aus dem Krankenhaus abgeholt, in den einfachen Verbrennersarg gebettet und Manni, unser Mann fürs Fahren und die Werkstatt, montiert auch noch vier schöne mattglänzende Griffe und Deckelschrauben. Er meint, das sehe doch besser aus, wenn die Familie schon den ganz einfachen Sarg für eine Trauerfeier nehme.

Der alte Jazz-Musiker steht noch in seinem Sarg in unserem Kühlraum und wartet darauf, auf den Friedhof gebracht zu werden, da kommt die Witwe zu uns und hat ein kleines Sträußchen Blumen dabei.

„Darf ich ihn nochmal sehen?“ fragt sie schüchtern und ich nicke nur. Es genügen ein paar Worte ins Telefon in der Halle und während ich mit der Frau dort auf dem Sofa sitze, erledigen meine Männer lautlos im Hintergrund den Rest. Der Sarg wird aus der Kühlung geholt, in den Aufzug geschoben, eine Etage höher gefahren, der Deckel wird abgenommen, das Kissen zurechtgezupft und wenig später steht der Sarg zur Aufbahrung bereit.
Zwei kleine Öllämpchen flackern an den Wänden, zwei dicke Kerzen erzeugen einen zappelnden Lichtschein an der Decke und den Wänden und die künstlichen Lorbeerbäumchen bringen etwas grüne Atmosphäre. Echte Pflanzen in den gekühlten Aufbahrungsräumen würden sich ja, auch wegen des fehlenden Tageslichtes, nicht halten.

Die Witwe steht ergriffen neben dem Sarg, bei uns gibt es keine Barrieren, keine Glasscheiben oder Absperrungen, die Angehörigen können so nah an den Verstorbenen heran, wie sie es möchten. Der Tod ist doch schon Trennendes genug und hier ist es vielleicht das letzte Mal, daß sie diese körperliche Trennung noch einmal überwinden und etwas Nähe verspüren können.
Genau deshalb geben wir uns auch so viel Mühe, daß eine solche Abschiednahme, trotz der Umstände, die nun mal nicht zu ändern sind, so angenehm wie möglich ist.

Ich bleibe in respektvoller Distanz und warte. Die Frau tut nichts anderes, als ihren Mann anzuschauen, dann bewegt sie ihre recht Hand langsam zu seinen kalten, steifen, gefalteten Händen – sie hält inne – sie dreht sich zu mir um, sucht meinen Blick und fragt mit zittriger Stimmer: „Darf ich?“
Ich nicke ihr zu und hebe ermutigend die Augenbrauen: „Nur zu!“

Sie streichelt die Hände ihres Mannes und dicke Tränen rinnen nun aus den vorher schon feuchten wasserblauen Augen.
Ich trete leise hinzu, schiebe ihr einen der bequemen Sessel neben den Sarg und klopfe mit der Hand leicht auf die Lehne, sie nimmt dankbar Notiz, setzt sich und läßt die Hände ihres Mannes nicht mehr los.
Es ist Zeit, die Frau allein zu lassen, vielleicht hat sie ihrem Mann, mit dem sie so viele Jahre geteilt hat, noch etwas zu sagen und ich will nicht ungebetener Zuhörer sein.
Gerade wende ich mich ab, da spricht die Frau mich an, ohne sich von ihrem Mann abzuwenden: „Wissen Sie, eigentlich ist mein Mann ja Werkzeugmacher gewesen, aber tief in seiner Seele war er nur Musiker. Es ist schade, daß meine Schwiegertochter so hartherzig ist und es tut mir leid, daß sie so frech zu Ihnen war. Aber ich bin auch dankbar, daß sie das alles hier bezahlt, da will ich jetzt nicht widersprechen. Wenn ich zu sagen hätte, dann wäre mein Mann mit seinem Saxophon beerdigt worden und nicht eingeäschert worden. Und dann hätten seine Kollegen auf der Beerdigung gespielt. Aber Henriette geht es nur ums Geld und da sie die einzige ist, die Geld hat, muß ich mich fügen.“

Ich schlucke nur, mir fällt auch keine Lösung ein.
Am nächsten Tag bin ich mit Henriette auf dem Friedhof verabredet. Sie will sich dort die Gräber anschauen und bestimmen, welches Grab ihr Schwiegervater bekommen soll. Ich habe ihr bereits hundert Mal erklärt, daß das so nicht geht. Reihengräber werden eben der Reihe nach vergeben, das ist bei Erdbestattungen so und auch bei Urnenbestattungen. Manchmal hat man die Wahl zwischen verschiedenen Feldern oder Abteilungen, aber auf diesem Friedhof hier ist das nicht der Fall, da bekommt man das nächste freie Grab, es sei denn, man kann sich ein teures Familiengrab leisten.

Der Friedhofswärter steht schon vor seinem kleinen Büro und hat sogar zu seinem grauen Kittel und den Gummistiefeln seine wichtige Dienstmütze aufgesetzt. Henriette weiß offenbar, daß manche Friedhofsbediensteten für kleine Gaben empfänglich sind und geht gleich auf den Mützenträger zu: „Hier haben Sie was, jetzt machen Sie aber dann auch mal zack zack!“ Sie lacht viel zu hoch und viel zu aufgesetzt und der Friedhofswärter betrachtet das Mitbringsel. Es ist ein Sparschwein aus Plastik mit dem Aufdruck einer Bausparkasse, so wie man es von Banken und Sparkassen geschenkt bekommt.

Er schaut mich fragend an, hebt das Sparschwein hoch und schüttelt es. Es ist leer. Henriette sieht uns nicht, sie geht schon mit großen Schritten voraus. Ich hebe meinen Zeigefinger vor meine gespitzten Lippen und mache „Pscht“, der Friedhofswärter macht eine Verschwörermiene und verzieht sein Gesicht zu einem breiten Grinsen.
Was Henriette nämlich nicht weiß: Ich habe schon am Morgen mit dem Mann telefoniert und ihm, ohne das Henriette das gesehen hat, einen Schein zugesteckt, der in Münzen die billige Plastiksau zweimal gefüllt hätte.

„Wo geht’s denn hier zu den Gräbern?“ fragt Henriette mit spitzer Stimme und stolziert auf ihren etwas zu hohen Absätzen weiter über den rutschigen Kies des Friedhofsweges.

„Tja, Gräber ham’wer hier überall“, sagt der mit der Schirmmütze, tut dann das, was er immer tut, er kratzt sich am Hintern und als er merkt, daß Henriette nicht mehr zurückschaut, wirft er die rote Plastiksau mit großem Schwung in einen doch recht weit entfernten Abfalleimer. Dann tanzt er, wegen des tollen Treffers, lautlos einmal im Kreis, grinst mich nochmals an und ruft ihr hinterher:
„Sie, watt für’n Grab wollen’se denn?“

„Ein möglichst kleines, mein Schwiegervater war ein einfacher Mann; und günstig soll es sein. Was wäre denn mit dem hier?“ fragt sie und deutet auf ein kleines Urnengrab.

„Da liegt schon einer drinne. Kommen’se, ich zeig Ihnen mal was“, sagt der Friedhofsmützenmann, kratzt sich nochmals am Hintern und stapft voraus, dann rechts ab und Henriette und ich haben fast Schwierigkeiten ihm zu folgen.

„So, da hätten’wer watt Passendes“, sagt der im grauen Kittel und deutet auf wohl das häßlichste Loch auf Gottes Erden. Ich weiß ja nicht, was der Pokratzer da eigentlich machen sollte, vermutlich dient das Loch direkt am Wegesrand, unmittelbar neben einer Kompostkiste und direkt neben dem grünen Spender für Hundekotbeutel, lediglich als Loch für das Fundament eines Papierkorbes. Aber der Graukittel spitzt seine wulstigen Lippen, verschränkt die Arme hinterm Rücken und wippt von den Hacken auf die Zehenspitzen:
„So, datt wär jetzt so’n Loch, wie Sie datt haben wollen. Klein, billich und schon ausgehoben.“

„Ja, nee, also nein, nee, so habe ich mir das nun aber auch wieder nicht vorgestellt. Haben Sie denn da nichts Schöneres? Es soll schon günstig sein, aber doch nicht so.“

„Ja klar, ich hab hier ganz viele Löcher, watt meinen Sie denn? Kommen’se mit!“

Wieder hecheln wir dem Wärter hinterher und dieses Mal treibt er es fast auf die Spitze. Am ganz anderen Ende des Friedhofes bleibt er unvermittelt stehen. An dieser Stelle, das weiß ich, wird in einem Jahr ein ganz neues Gräberfeld angelegt und jetzt gibt es dort fast keine Gräber mehr. Die vorhanden sind längst abgelaufen und es stehen nur noch vereinzelt ein paar windschiefe Grabsteine da.
Direkt dort hat irgendjemand, vermutlich ein Vermessungstrupp ein kleines Loch mitten auf dem Weg ausgehoben und mit einem rot-weißen Warnhütchen gekennzeichnet.
Das Loch ist kaum groß genug, als daß ein Joghurtbecher hineinpassen würde.

„So, da wär’n wir. Hier hätt‘ ich also noch watt für Sie, is‘ eines der schönsten von den billigen.“

Ich muß mich beherrschen, nicht laut los zu prusten und während Henriette sprach- und fassungslos vor dem kaum zehn Zentimeter tiefen Löchlein steht, macht der Friedhofswärter hinter ihrem Rücken Faxen, dann dreht er sich zu mir um, zieht mit dem rechten Zeigefinger sein rechtes unteres Lid herunter und grinst. Dann kratzt er sich wieder am Hintern und sagt zu Henriette: „Ist schön, ne?“

„Das soll schön sein. meine Güte? Das ist ja schrecklich! Haben Sie denn gar nichts Besseres?“

„Ja, wenn Sie unbedingt was für ’ne billige Urne suchen… dann ist datt im Moment immer so, wie datt da. Urnengräber sind knapp. Für ne Erdbestattung, da hätt‘ ich was!“

„Ja? Ehrlich? Zeigen Sie mir da mal was!“

Es folgt wieder eine wilde Hatz über den Friedhof. Es ist klar, warum der sonst so behäbige Kittelträger so schnell unterwegs ist. Er will Henriette keine Zeit lassen, nach links oder rechts zu schauen.
Er bleibt am Feld 13 stehen. Es ist dies das schönste Feld mit Erdreihengräbern auf dem ganzen Friedhof und vor einem frisch geöffneten Grab schlägt er militärisch seine Gummistiefelhacken zusammen, kratzt sich wieder und verbeugt sich galant: „Voilà!“

„Ja!“ schwärmt Henriette und freut sich: „Das nehme ich, das ist ja ganz was anderes. Ist das denn auch billig?“

„Na, ganz so billig wie die anderen Löcher ist so ein großes Loch natürlich nicht, aber von den großen Löchern ist das hier noch eines der billigeren. Sie müssen aber ’ne Erdbestattung machen!“

„Ja, ja, ja, ja, das ist ja klar. Mein Schwiegervater war ein einfacher Mann, das sagte ich ja schon. Ob der verbrannt wird oder so in die Erde kommt, das ist egal. Hier kommt der rein!“

Ich grinse hinter Henriettes Rücken.

Zwei Tage später ist die Beerdigung. Den einfachen Verbrennersarg haben wir gegen den günstigsten Erdsarg ausgetauscht und da die Urne ja nun wegfällt, wird sich auch am Preis nichts ändern. Die Beerdigung läuft so, wie Henriette es bestimmt hat. Alle in Schwarz, der Pfarrer spricht über jemanden, den er nicht kannte und sagt nur Nichtssagendes, der Organist spielt nicht einmal das Ave Maria, sondern nur den üblichen Beerdigungskram.

Die Trauergäste sitzen bei der von Henriette organisierten Trauerfeier bei Mettbrötchen und Kaffee, als die Witwe sich zurückzieht, wofür jeder Verständnis hat. Ihr Sohn Günther will sie nach Hause fahren, doch die Witwe winkt ab. Sie will die paar Schritte an der frischen Luft alleine zu Fuß gehen und sich dann zu Hause hinlegen, sagt sie und alle verabschieden sich.

Zehn Minuten später steht sie, nun in einem geblümten Sommerkleid, bei mir im Bestattungshaus und wir fahren mit der Limousine zum Friedhof und gehen zum Grab in Feld 13.
Hoch aufgetürmt liegt die helle, lehmgelbe frische Erde und der Friedhofswärter ist gerade dabei, die Kränze und Gestecke auf dem Grab zurecht zu legen.
„Ach, Ihr seid datt! Die andern sind auch schon da, aber Ihr wißt ja… macht mir keinen Ärger!“

Was er meint, ist offensichtlich: Neben der Lebensbaumhecke hinter dem Grab stehen vier Männer. Einer von ihnen hält eine Posaune, ein anderer hat drei Trommeln vor sich aufgebaut und der dritte Mann steht hinter einem kleinen, batteriebetriebenen Keyboard. Der vierte Mann hat einen großen Bass, hängt mehr am langen Hals des großen Instrumentes, als daß er steht und beginnt leise, tiefe Töne zu zupfen, als die Witwe und ich am Grab ankommen.
Ich kenne die Lieder nicht, es sind beschwingte, leise Melodien, nach dem Bass setzt die Posaune ein, dann spielen auch das Schlagzeug und das Keyboard mit. Immer wieder greift eines der Instrumente die Melodie als Solo auf und der etwas abseits stehende Friedhofswärter wiegt sich in den Hüften und wippt mit.
Die Witwe hat sich auf den bereitgestellten Klappstuhl gesetzt und weint und strahlt gleichzeitig.
Dann endet das Spiel der Instrumente, nur der Schlagzeuger zischelt einen leisen Rhythmus mit den Drahtbesen auf dem Fell seiner Trommel.

„Hören Sie es?“ fragt mich die Witwe und ich nicke, denn ich weiß, daß der Mann da unter dem Erde, dem dieses einzigartige, geheime Jazzkonzert gewidmet ist, sein Saxophon in den Händen hält.

„Ja“, sage ich, „ich höre ihn, er spielt sehr schön.“

Die Frau greift meine Hand und die anderen Männer setzen mit ihrem Spiel wieder ein.

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(©si)