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Antonia hat Hunger

In der Trauerhalle ist alles für eine Abschiednahme dekoriert, ich habe nochmal alles kontrolliert, das Licht ausgerichtet und bin zufrieden. Möge die Show beginnen! Noch eine knappe Stunde, dann kommen die Trauergäste.

Auf meinem Weg von der Trauerhalle zu meinem Büro schnaubt mich so von halbrechts ein schwankender Turm aus Leitz-Ordnern an, an den kurzen Beinen untendran erkenne ich, daß irgendwo dahinter Antonia stecken muß.
„Vorsicht!“ sage ich, denn beinahe hätte mich der Turm irgendwo zwischen E2 und D3 versenkt.

„Uuups, sorry Chef!“ keucht Antonia und schwankt mit ihrem Turm in Richtung Archivraum.
Ich gehe hinterher, mache ihr die Tür auf und frage: „Sagen Sie mal, Antonia, Sie schleppen jetzt seit Tagen Ordner hin und her. Was machen Sie eigentlich?“

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„Ich? Ich sortiere die Sterbefälle in neue Ordner.“

Gut! Das ist eine Arbeit, die schon lange gemacht werden sollte. Es geht um die komplette alphabetische Ablage unserer Sterbefälle, damit wir jederzeit zu jedem Verstorbenen die passende Akte ziehen können. Meines Wissens ist da noch nie eine Akte entsorgt worden, sodaß sich da auch Sterbefallakten befinden, die Generationen alt sind.
Es kommt häufiger vor, als man glaubt, daß Menschen anrufen und sich nach Sterbefällen erkundigen, die zwanzig Jahre oder mehr zurückliegen.
Alle paar Jahre muß irgendjemand dran glauben und diese Akten durchgehen. Neue Sterbefälle haben eine grüne Hülle, ältere eine gelbe und ganz alte eine rote. Die grünen Hüllen zeigen, daß dieser Sterbefall noch aktuell ist. Er ist zwar an sich abgeschlossen und abgerechnet, aber vermutlich wird da noch mehrmals jemand anrufen. Gelbe Hüllen kennzeichnen die Sterbefälle, die komplett erledigt sind, aber in denen noch die gesamten Unterlagen enthalten sind. Einmal im Jahr fliegt aus den gelben Hüllen, die älter als zehn Jahre sind, alles raus, was überflüssig ist. Alte Belege, handschriftliche Laufzettel usw. Es bleibt dann nur das Wichtigste übrig, das Hauptformular, Kopien der Urkunden und die Rechnung.

Wer ein bißchen flink ist, findet im Archiv alles schneller, als es unser Computer jemals könnte.

„Haufen Arbeit“, schnauft Antonia, nickt selbstbestätigend und zieht sich einen Teller mit zwei dicken Bockwürstchen heran.

„Na, wenigstens verhungern Sie mir nicht“, sage ich schmunzelnd und Antonia nickt kauend.

„Nee, da paßt meine Mutter schon auf! Gucken Sie mal!“ sagt sie und zieht mit dem Fuß ihre Tasche unter dem Tisch hervor. Dann präsentiert sie ihre nahrungstechnischen Mitbringsel: Ein Ring Leberwurst, ein Glas mit Gurken und, soviel ich sehe, ein halbes Hähnchen in einer Plastikdose.

„Möchten Sie was, Chef?“ fragt Antonia kauend und läßt den Leberwurstring am ausgestreckten Zeigefinger vor meiner Nase baumeln. Ich esse zwar gerne Wurst, aber just in diesem Moment muß ich an den Darmschleimer von neulich denken und verzichte deshalb dankend auf Antonias Wurstgabe.

„Wie lange werden Sie noch hier im Archiv zu tun haben?“ frage ich mal vorsichtshalber, denn ich habe den Eindruck als ob sich Antonia hier um Kopf und Kragen futtert.

„Ach, wenn die Akten nicht alle vollkommen durcheinander wären, dann wäre ich ja schon lange fertig.“

„Ja, ich habe gesehen, Sie schleppen seit Tagen neue Aktenordner ins Archiv. Sie scheinen das sehr gründlich zu machen.“

„Ist eben viel falsch abgelegt.“

Das wundert mich natürlich schon etwas, denn bisher zeichnete sich das Papierarchiv vor allem dadurch aus, daß man schnell alles finden konnte. Ich erkundige mich:

„Was ist denn da alles falsch?“

„Da waren nur neun Ordner mit ‚F‘ und ich hab‘ das jetzt mal alles richtig gemacht, jetzt sind es schon über 30“, berichtet Antonia stolz, beißt beherzt in eine dicke Salzgurke, wischt sich die Spritzer von der Brille und lacht kauend.

Ich nehme mir einen der neuen ‚F‘-Ordner, öffne ihn und werfe einen Blick hinein. Ich blättere, mir wird fast schwarz vor Augen und kurz darauf drohen Tränen in meine Augen zu schießen. Ich will nicht sagen, daß ich in diesem Moment an Sprachlosigkeit leide, aber mehr als „Guten Appetit“, kommt mir nicht über die Lippen.
Ich gehe und weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll.

Im Gang zum Büro rufe ich schon „Frau Büüüüüüüüser!“ und die Bürovorsteherin kennt diesen urwaldgleichen Ruf ihres Zahlmeisters, eilt aus ihrem Büro, kommt mir entgegen und fragt: „Was ist passiert?“

Es muß was passiert sein, denn wenn ich mal laut werde, dann ist schon was im Busch.

„Haben Sie gesehen, was Antonia da im Archiv macht?“

„Die sortiert die Ablage und heftet um.“

„Ja, aber waren Sie mal da und haben das kontrolliert?“

„Ja sicher doch. Sie hat am Montag angefangen und ich war eine halbe Stunde bei ihr und habe ihr alles erklärt.“

„Und es wundert Sie nicht, daß die schon fast die ganze Woche da verbringt?“

„Ach wissen Sie“, sagt Frau Büser mit etwas gesenkter Stimme, „da ist sie beschäftigt, ist mir vorne nicht im Weg und die Schnellste ist sie ja sowieso nicht.“

„Gut, aber haben Sie sich mal angeschaut, was sie da genau macht?“

„Nur oberflächlich, mal reingeschaut…“

Ihr Blick schaut an mir vorbei, sie mag mir nicht in die Augen sehen, außerdem leckt sie nervös ihre Lippen. Mensch, ich kenne doch meine Frau Büser und weiß, daß sie nicht richtig geguckt hat, das wird ihr jetzt auch bewußt geworden sein. Vermutlich war sie einfach froh, daß Antonia gut beschäftigt ist.

„Nun, ich war gerade bei Antonia“, sage ich und Frau Büser fragt mit leicht bebender Stimme: „Sie hat aber nicht die Akten in den Reißwolf gesteckt, oder?“

„Nein, das nicht, aber sie hat schon über 30 Ordner mit dem Buchstaben ‚F‘ angelegt.“

Frau Büser protestiert: „Das kann ja gar nicht sein, soviele Sterbefälle bei denen der Name mit einem ‚F‘ anfängt, haben wir ja gar nicht!“

„Das vielleicht nicht, Frau Büser, aber jede Menge, bei denen die Anrede auf Frau, Fräulein oder Firma lautet…“

„Ach Du meine Güte, ach Himmel nein“, höre ich Frau Büser noch sagen, dann rennt sie in Richtung Archiv und ich höre, wie sie, lange bevor sie die Tür erreicht hat, schon „Antooooooooniaaaaa“ ruft.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#Antonia #hunger

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