Geschichten

Bärbel -5-

Es kommt selten vor, daß der Bestatter etwas an einer Leiche entdeckt, das ihn dazu veranlasst, die Polizei zu verständigen. Selten zwar, aber bei der großen Zahl von fast einer Million (800.000+) Sterbefällen in Deutschland pro Jahr, gibt es das halt doch immer mal wieder.
War dies so ein Fall?
Wir waren uns unschlüssig. Der Leichenschauschein brachte uns nicht weiter, aus dem Gekritzel des Arztes entzifferte ich Multiorganversagen, Sandy hingegen las ‚Multivitaminsaft’…
Manni tippte sich an die Stirn und sagte: „Das ist echt nicht normal, da sollte wirklich noch mal ein Fachmann nachschauen.“

„Genau das wollten die im Krankenhaus ja machen“, gab ich zu bedenken, hatte aber inzwischen meine Zweifel, daß das nur aus wissenschaftlichem Interesse hatte geschehen sollen.

Doch noch während wir uns beratschlagten und vor allem den Aspekt mit einbezogen, daß alles was nun folgen könnte, die Bestattung natürlich auch verzögern und viel Ärger mit sich bringen würde, kam Frau Büser herunter in den Keller. Sie kommt nicht oft herunter, sie hält sich, soweit es geht, von den Verstorbenen fern, ihr Reich ist das Büro.

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Ich informierte sie mit wenigen Worten über das was wir besprochen hatten und bemerkte gar nicht, daß ich sie gar nicht hatte zu Wort kommen lassen. Sie machte eine wegwischende Handbewegung und schnitt mir das Wort ab: „Alles schon kalter Kaffee, die Kripo hat angerufen, der Staatsanwalt hat den Leichnam sichergestellt, wir dürfen nichts mehr daran machen. Bärbels Vater hat Anzeige erstattet.“

Irgendwie war ich erleichtert. Wenigstens war ich nicht derjenige, der das alles auslöste und würde mich deshalb auch nicht den Angehörigen gegenüber rechtfertigen müssen.

Der Rest ist eigentlich sehr rasch erzählt.

Da wir sowieso Polizeiüberführungen machten und häufiger beschlagnahmte Leichen verwahren mußten, kam auch an diesem Tag kein Rollkommando der Ordnungsmacht, sondern ein trocken gelangweilt wirkende älterer Kriminalbeamter in Begleitung einer jungen Frau.
Sie machte ein paar Fotos von Bärbel, insbesondere von Leib und Rücken, er diktierte in ein kleines Diktiergerät und ansonsten nahm man unsere Personalien auf, ließ sich einen Firmenstempel ins Notizbuch drücken und fragte recht allgemeine Sache; alles völlig unaufgeregt. Keine große Sache für die Beamten, so schien es.

Am Nachmittag kam der Anruf aus dem Büro des Staatsanwaltes, wir mußten Bärbels Leichnam ins gerichtsmedizinische Institut bringen.
Und dann?
Nichts.

Keine großartigen Ermittlungen von denen wir etwas mitbekommen hätten, wir waren zu unwichtig und aus Sicht der Polizei, sicher auch zu Recht, zu unbeteiligt.

Doch am nächsten Tag kamen Anni und ihr Vater zu uns und erzählten uns den Teil der Geschichte, der für mich immer noch der spannendste ist und mich heute noch zu einem Kopfschütteln veranlaßt.

Bei der Obduktion hatte sich ganz klar und sofort ersichtlich die Todesursache ergeben.
Was das war, ja das erzähle ich nachher.
Zuvor einmal einen kurzen Blick auf die Abläufe im Krankenhaus, so wie Bärbels Vater es uns schilderte.

Bärbel lag also auf der Intensivstation und die Apparate zeigten recht normale Vitalfunktionen an. Ein eilends durchgeführtes CT (Computertomographie) des Schädels hatte kein Gerinnsel oder sonstige Anzeichen des ursprünglich befürchteten Schlaganfalls gezeigt.
In der Tat also durchaus eine Situation, in der es wahrscheinlich vertretbar war, die junge Frau auf die entsprechende Fachstation zu verlegen, damit sich gleich am nächsten Morgen die Fachärzte um sie kümmern können.

Auf der Station hat man Bärbel, die ansprechbar und verständig war, in ein Zweibettzimmer zu einer alten Frau gelegt, die schwerkrank war und nichts mehr von der Umwelt mitbekam.
Zur Nacht hatte man Bärbel einen kleinen Plastikbecher mit einem leichten Beruhigungsmittel, einem Kreislaufmittel und eine große Ibuprofentablette gegen Kopfschmerzen gegeben.
Ich habe das hier mal für die Leser des Bestatterweblogs nachgestellt:

pillen

Dieses Ensemble hatte man der jungen Frau mit einer Flasche Mineralwasser und einem Glas auf das Klapptischchen des Nachtschränkchens gestellt.
Wir erinnern uns: Bärbel war leicht geistig behindert und vor allem stark kurzsichtig. Ihre Brille war jedoch bei all der Aufregung zu Hause geblieben.

Was hatte Bärbel getan?
Na, kann es sich einer denken?

Man nimmt an, daß es so gewesen sein muß:

Bärbel hatte die Pillen aus dem Becherchen mit einem Schluck Wasser genommen und dann die einzelne Pille, die sich in einem scharfkantigen Abschnitt von einem Plastikblister befand, wahrscheinlich mit einem noch größeren Schluck Wasser mitsamt der Verpackung geschluckt.

Es war uns allen, also meinen Mitarbeitern und mir, den Angehörigen, den Krankenhausangestellten, der Polizei und den Rechtsmedizinern ein absolutes Rätsel, wie jemand so eine Pille mit Verpackung schlucken kann.
Jedenfalls hatte die scharfkantige Blisterhülle schwere Verletzungen am unteren Ende der Speiseröhre verursacht und zu schweren inneren Blutungen geführt, an denen Bärbel letztlich verstorben war.

Und nun?

Fangen wir so herum an:

Bärbels Beerdigung war sehr schön. Sie lag in ihrem hellbraunen Natursarg wie ein großer Engel, umrahmt von einer ganzen Galerie von Kuscheltieren und sah sehr friedlich aus.
Bei der Trauerfeier wurde eine Passage aus Nils Holgersson vorgelesen, einem Buch das Bärbel sehr mochte und aus dem Anni ihr oft vorgelesen hatte.
Der Dekan fand genau die richtigen Worte und zu den Klängen „Time to say goodbye“ von Andrea Bocelli, der damals gerade besonders populär war, wurde ihr Sarg zu Grabe getragen.
Wie groß die Trauer der Eltern und der Schwester war, das brauche ich nicht zu schildern. Es ist doch immer so, daß eine Familie, die ein behindertes Kind hat, dieses ganz besonders in ihr Herz schließt und in ganz besonderer Weise behütet und liebt.

Knast? Strafe? Ärzte vor dem Kadi?
Fehlanzeige.

Das Ermittlungsverfahren wurde einige Monate später eingestellt. Wenn überhaupt wäre es auf eine fahrlässige Handlung hinausgelaufen hat es geheißen.
Bärbel sei zwar geistig behindert gewesen, aber nicht in einem Umfang, der es ihr unmöglich gemacht hätte, nicht zu wissen, daß man Tabletten nicht mitsamt der Umhüllung zu sich nimmt.
Daß die junge Frau eine Brille benötigte, ja davon hatte niemand dem Krankenhauspersonal auch nur einen Ton gesagt.
Man hatte so gehandelt, wie man bei Tausenden anderen Patienten auch schon gehandelt hatte und war fest im Glauben, genau das Richtige getan zu haben.
Ein schuldhaftes Verhalten war niemandem nachzuweisen.

Ein Unfall, ein sehr bedauerlicher Unfall; ein Vorfall, der die Krankenhausleitung zum Überdenken angeregt hatte und seitdem werden unter keinen Umständen mehr Tabletten einfach vom Blister abgeschnitten und so dargereicht.

Bärbels Vater hätte gerne einen der Ärzte an einem dicken Ast baumeln sehen, Bärbels Mutter hingegen wollte jedes weitere Aufsehen vermeiden.

Wer trägt die Schuld? Das ist die Frage, die wir uns alle stellten.
Die einen meinten, das Krankenhaus habe grob gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen. Die anderen sagten, es sei ja auch eine Mitschuld der Angehörigen, daß man nicht Bescheid gesagt habe, wie kurzsichtig die Patientin war.

Ob diese Geschichte, die schon lange zurück liegt, heute noch so ausgehen würde? Ich weiß es nicht, ich weiß es ehrlich nicht.

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