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Bestatter-Lotto

Ich komme gar nicht dazu, über etwas anderes zu schreiben, die Sache mit dem Nigerianer hält mich auf Trab. Einmal mehr merke ich, daß das Aufschreiben eine gute Ventilfunktion hat.

Früh bin ich losgezogen und habe frische Brötchen gekauft. Die Kinder waren schon früh wach, der Neue hat seinen Reiz und oben wurde schon getobt, als bei mir das Sandmännchen noch zugange war. Meine Frau hat den Tisch gedeckt und die Rasselbande durchs Badezimmer gescheucht. Als ich zurückkam, stand in unserer Einfahrt ein Herr, den ich an den Unterlagen in seiner Hand fachmännisch als Kunden ausmachte. Er hat die Leichenschaupapiere in der Hand, also hat er höchstwahrscheinlich zu Hause einen Toten liegen.

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„Sie da“, sagt er zu mir: „Gehören Sie hier zum Haus?“
Ich sage nur: „Guten Morgen“ und nicke. „Na hören Sie mal, warum macht denn da keiner auf?“
Während er das sagt, höre ich wie es aus der Sprechanlage ruft: „Hallo, ist da jemand?“

Man muß wissen, daß wir die Klingeln aller unserer Büros auf den Telefondienst umleiten können, es kann ja auch mal sein, daß selbst ich nicht zu Hause bin oder wir in Urlaub gefahren sind. Und so außergewöhnlich ist das nicht, daß man sein Anliegen heutzutage auch mal an einer Sprechanlage vortragen muß, bevor man eingelassen wird.
Nebenbei bemerkt funktioniert das hier in der Region bei der Hälfte aller Polizei-Stationen so. Ab 17 Uhr ist da keine Sau kein Mensch mehr. Die kommen dann, wenn’s nötig ist. Genauso ist das bei uns auch. Zu Hause, d.h. am Haupthaus machen wir das selten, aber gestern und heute war das eben so.

„Da meldet sich doch jemand“, sage ich zu dem Besucher, der ja nicht wissen kann, ob die Stimme aus der Sprechanlage direkt aus dem Haus kommt oder per Telefon von weiterher.

„Sie glauben ja wohl kaum, daß ich mich mit so einem Blechheini unterhalte“, gibt er mir zur Antwort.

„Ja und was kann ich für sie tun?“

„Sie gehen jetzt mal rein und holen mir mal Ihren Chef, ja?“

Gut, ich habe nur eine Jeans, ein T-Shirt und eine Jeansjacke an und sehe vielleicht nicht gerade sehr bestattermäßig aus, aber ich wirke auch nicht gerade wie Rasputin oder Rübezahl.

„Haben Sie einen Sterbefall anzumelden?“ erkundige ich mich.
„Das werde ich dem Verantwortlichen dann schon sagen, also machen Sie mal! Ich habe keine Lust mich mit irgendwelchen subalternen Figuren zu unterhalten, ja!?“

Was soll man tun? Zwei Riesen sausen lassen und ihm sagen, daß er ein Arsch ist? Oder freundlich bleiben? Ich entscheide mich für diese Variante:

„Sie kommen morgens um kurz nach Acht ohne vorher anzurufen hierher und klingeln, dann meldet sich jemand an der Sprechanlage und Sie ignorieren das. Dann kommt auch noch jemand, nämlich ich, und Sie furzen mich hier am frühen Morgen von der Seite an, ohne zu wissen, wer oder was ich bin.“

„Also wirklich, wenn ich gleich mit dem Chef spreche, werde ich mich über Sie beschweren. Ich bin ein guter Bekannter von Bürgermeister XYZ und erwarte, daß man mich entsprechend behandelt.“

„Damit Ihre Sehnsucht nach dem Chef gestillt wird, will ich Ihnen sagen, daß ich hier der Chef bin und ob Sie den Bürgermeister kennen oder mit dem Papst in Urlaub fahren, ist mir wurstegal. Sie haben jetzt die Wahl, mal wieder auf den Teppich zu kommen, dann mit hereinzukommen und wir kümmern uns dann um Ihr Anliegen oder Sie sehen zu, daß Sie Land gewinnen.“

„Sie? Sie sind hier der Chef?“

„Jau.“

Er deutet auf die Brötchentüte in meiner Hand und sagt: „Ich dachte, Sie würden hier nur die Brötchen holen.“

„Sie werden es kaum glauben, ich hole meine Brötchen manchmal sogar selbst und Sie werden staunen, sonntags backe ich sogar manchmal welche selbst.“

„Sagen Sie mal, wie reden Sie überhaupt mit mir?“

„So wie Sie mit mir geredet haben.“

„Sie sind pietätlos.“

„Wieso das denn?“

„Weil Sie unhöflich sind.“

„Das mag sein, daß Sie das so empfinden, aber im Grunde bekommen Sie doch nur zu spüren, was Sie selbst ausgelöst haben.“

„Ich werde mit dem Bürgermeister über Sie sprechen.“

Damit macht er mir natürlich fürchterliche Angst. Ich erinnere mich daran, welch triumphierendes Gefühl in mir ausgelöst hatte, als wir und nicht das kommunale, stadteigene Bestattungsbüro die Beerdigung der Mutter des Bürgermeisters abgewickelt hatten. Der Bürgermeister ist ein ganz bescheidener und überaus höflicher Mann, der sich kein bißchen großkotzig, sondern eher etwas schüchtern gegeben hatte und sehr froh war, daß ihm ohne viel Aufhebens sachlich geholfen wurde.

„Wie gesagt, zwei Möglichkeiten, entweder ganz normal wie erwachsene Menschen, oder woanders hingehen.“

Ich gehe an dem Mann vorbei, schließe die Haupttür auf und bleibe wartend in der Tür stehen. Mal sehen, ob er kommt, oder wütend abzischt. Innerlich zähle ich leise von 10 rückwärts, bei Null werde ich die Tür ins Schloss fallen lassen, dann kann er meinetwegen nach schräg gegenüber zur Pietät Eichenlaub gehen. Die haben übrigens einen illuminierten Sonnenuntergang im Fenster stehen. Das sieht aus wie das letzte Abendmahl aus dem Türkenladen, grellbunt in Technicolor und mit wechselnden Farben. So alle 20 Sekunden geht da die Sonne unter und unten drunter steht: „Ein Abschied für immer, ganz ohne Kummer“
So ganz habe ich die Werbebotschaft nicht verstanden.

3, 2, 1, er kommt.

Ich sage gar nichts, obwohl ich am Liebsten gesagt hätte: „Siehste, geht doch, oder?“

Mit der Hand weise ich ihm den Weg zum Beratungsbüro, knipse das Licht an und lasse die Rolladen hochfahren und setze ihn in weiches Leder. „Legen Sie Wert darauf, daß ich mir etwas anderes anziehe oder meinen Sie, es wird so gehen?“

Er nickt nur, legt seine Unterlagen auf den Tisch, ich telefoniere kurz mit oben und lege die Brötchen draußen auf die Kommode, damit ein Kind die hochholen kann.

Dann wende ich mich meinem Besucher zu und sehe, daß er weint. Der Mann, etwa Mitte Sechzig heult wie ein Schlosshund und es schüttelt ihn durch und durch.
Besser ist es, ihn zu lassen. Ich schiebe ihm eine Box mit Papiertüchern rüber, gehe nach nebenan und drücke mal zwei Kaffee aus der Maschine. Das dauert eine Weile. Als ich zurückkomme, weint der Mann immer noch.

Ich setze mich an den Schreibtisch, nehme seine Unterlagen und beginne, die Daten auf unsere Formulare zu übertragen. Veronika ist gestorben, sie wäre nächste Woche 60 geworden, wahrscheinlich seine Frau.

Der Mann schnieft und stockend, von Weinen unterbrochen, sagt er: „Wissen Sie, ich habe immer so stark sein müssen. Ich musste immer die eiserne Lokomotive sein, alles regeln, immer voran.“

Nee, ich sage nichts, ich lasse ihn und schreibe weiter. Ich spiele Bestatter-Lotto. Das geht so: Man schreibt alles auf, Sarg, Wäsche, Urne, Ausstattung usw. ohne daß der Kunde schon was ausgesucht hat, ja und dann guckt man, wieviele Richtige man hat wenn er dann aussucht.
Ich liege stets sehr gut, meistens sogar bei 100% Trefferquote, man lernt seine Pappenheimer doch kennen im Laufe der vielen Jahre.

„Sind Sie mir böse?“ schnieft es aus einem Papiertaschentuch hervor.

„Nein, ich bin Ihnen nicht böse, aber ich lasse mir nicht alles gefallen. Trinken Sie mal einen Schluck Kaffee, Milch und Zucker liegen auf dem Tablett.“

Er trinkt artig, dann erzählt er.
Seine Frau hat schon mit 51 Jahren Alzheimer bekommen. Ehemals Lehrerin, dann Lektorin in einem wissenschaftlichen Verlag, dann Alzheimer. Klassischer Verlauf, erst Gedächtnislücken, dann Persönlichkeitsveränderung, Hilflosigkeit, Aggressivität, Pflegefall. „Die wusste noch alle Kinderlieder und hat sie unablässig gesungen, ob sie aber heute schon auf dem Klo war, das wusste sie nicht, sie wusste auch nicht mehr, wer ich bin.“ Er weint wieder. „Dann konnte sie gar nicht mehr sprechen, nur noch Melodien summen.“

Er sei noch eine Weile weiter arbeiten gegangen, habe unbedingt bis 65 durchhalten wollen, schon wegen der Rente. Erst sei das auch gegangen, dann habe er einen Pflegedienst bestellen müssen. „Sie können sich nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe mit diesen Pflegediensten!“
Der erste Pflegedienst sei „liederlich“ gewesen, das Personal ungepflegt und rotzfrech, kaum 5 Minuten hätten die sich gekümmert „und wenn die weg waren, habe ich meine Frau selbst nochmal waschen müssen“. Dann habe er den Dienst gewechselt und erst nach Wochen festgestellt, daß die geklaut haben. „Die haben mir sogar Konservendosen aus der Küche geklaut.“ Wenigstens hätten die seine Frau korrekt gepflegt aber die habe er dann auch nicht behalten wollen. Der nächste Pflegedienst habe ihm meistens eine Frau geschickt, die fast nur Polnisch konnte und die habe ihn auf die Idee gebracht, eine Polin fest einzustellen. Schwarz versteht sich. So habe er über einen Mittelsmann Kontakt zu einer Agentur in Polen aufgebaut und schon eine Woche später sei eine Polin gekommen, die im Gästezimmer gewohnt habe und sich neben der Pflege seiner Frau auch um den ganzen Haushalt gekümmert habe. „Und das alles für 600 Euro im Monat.“
Zwei Jahre sei das so gegangen und alles sei bestens gewesen, dann hätte er eine Anzeige bekommen. Eine Nachbarin habe ihn wegen Schwarzarbeit angezeigt. „Ich habe mir mein ganzes Leben nie etwas zu Schulden kommen lassen und jetzt habe ich einen Strafbefehl am Hals.“

Das kenne ich, solche Geschichten habe ich schon ganz oft gehört.
Er schnäuzt sich in ein Papiertaschentuch, schluckt einmal schwer und sagt: „Sie sind mir wirklich nicht böse, oder?“

„Nee.“

Beim Bestatterlotto habe ich übrigens 8 von 10 richtig gehabt.


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Lesezeit ca.: 11 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 17. November 2007 | Revision: 28. Mai 2012

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