Geschichten

Das Licht des Vollmondes

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Es war schon sehr spät, als es klingelte. Es war sogar schon so spät, daß selbst der dienstbeflissenste Bestatter entnervt auf die Uhr schaut und nur kopfschüttelnd die Treppe hinuntersteigt, um nachzusehen, wer da so spät noch Einlass begehrt. So war das auch bei mir und mir ging noch durch den Kopf, daß ich nun zum wievielten Male das Ende dieses Krimis nicht sehen konnte.

Ein Druck auf den Schalter neben der Tür und schon war der Eingangsbereich mit der breiten Treppe und den beiden Säulen in helles Licht getaucht. Durch das kleine Fenster in der schweren Eichentür sah ich einen Mann, der gerade wieder auf den Klingelknopf drücken wollte. Um ihm zuvor zu kommen, öffnete ich schnell die Tür, sagte nichts und schaute ihn nur fragend an.

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Wenn einer schon so spät klingelt, dann wird er seine Gründe dafür haben und die wird er mir sicherlich gleich erzählen, dachte ich.
Doch der Mann fragte nur: „Ist Nora hier?“
In meinem Kopf schlugen die Gedanken Purzelbaum und ich durchforstete sowohl meine Ahnenreihe, als auch die aktuellen Sterbefälle, ob da wohl eine Nora dabei sein könnte. Doch zu dem Namen wollte mir nichts einfallen. Ich hob nur kurz die Schultern und ließ sie wieder sinken, grunzte irgendetwas Unverständliches und schaute den Mann wieder fragend an.

Er war etwa Anfang Dreißig, circa 1,75 groß, schmales, gut aussehendes Gesicht, dunkles, gewelltes Haar. Seine Kleidung bestand aus einer dunkelbraunen Cordhose, passenden Wildlederschuhen und einem dunkelgrünen Polohemd. Ein leichter Duft nach einem sehr guten und vermutlich sehr teuren Rasierwasser lag in der Luft.

„T’schuldigung“, stammelte er verlegen, schaute erst auf seine Fußspitzen und dann wieder mich an: „Eleonore Nottbusch meine ich.“

Hm, da hätte ich auch selbst drauf kommen können, daß Nora auch als Abkürzung für Eleonore stehen konnte. Klar, so einen Sterbefall hatten wir am Morgen angenommen. Jemand hatte angerufen, uns den Auftrag erteilt und unsere Fahrer hatten die verstorbene Frau Nottbusch aus dem Krankenhaus abgeholt.
Später hätte jemand vorbeikommen wollen, es war aber niemand gekommen.
Gesehen hatte ich die Verstorbene nicht, der Auftraggeber hatte gesagt, sie solle ein schönes Totenhemd bekommen und einen mittleren, hellen Sarg. Dann sollten wir die Verstorbene zum Friedhof bringen, es käme auch niemand mehr, der sie anschauen wolle.

„Ist Nora da?“ unterbrach der Mann meine Gedanken und ich fragte ihn: „Sind Sie Herr Nottbusch?“

„Ja, Nora war meine Frau, unfassbar, ich kann es gar nicht begreifen. Ich bin fix und fertig, ich komme mit der Situation nicht klar.“

„Kommen Sie doch herein“, sagte ich und ging einfach voraus in unser Kaminzimmer, das mit den englischen Ledersesseln und den dicken Teppichen. Dort bot ich Herrn Nottbusch einen Platz an, stellte ihm ein Glas und eine Flasche Wasser hin und nickte ihm kurz entschuldigend zu, als ich nach schräg gegenüber ging, um mir eben die Handakte des Sterbefalls Eleonore Nottbusch aus dem Büro zu holen.
Während ich zurücklief, warf ich kurz einen Blick in die Akte und sah fast auf einen Blick zwei Informationen gleichzeitig. Geboren 1981, gestorben an Bauchspeicheldrüsenkrebs.

„Sie lag ja zuletzt im Koma, wissen Sie“, empfing mich der Mann, als ich das englische Zimmer wieder betrat und erzählte dann ohne Pause weiter.
Es sei erst vier Monate her gewesen, daß man bei Nora den Krebs festgestellt hatte, da könne man nicht viel machen, der Krebs sei viel zu spät erkannt worden und habe sich schon über den ganzen Körper ausgebreitet, hatten die Ärzte gesagt.
„Anfangs habe ich Nora jeden Tag besucht, habe stundenlang an ihrem Bett gesessen, ich habe mir sogar so eine digitale Videokamera gekauft und so manches von meinem Tagesablauf aufgenommen, nur um Nora das vorspielen zu können.
Aber dann ist sie ins Koma gefallen und von dem Tag an hat sich ihr Zustand auch drastisch verändert.
Sie ist zusammengefallen und sowas von abgemagert, ich hatte manchmal den Eindruck, einen Totenschädel da liegen zu sehen. Das war doch nicht mehr meine Nora. Sie müssen wissen, daß Nora eine sehr schöne Frau war, die schönste Frau der ganzen Welt. Und jetzt auf einmal liegt da eine abgemagerte Greisin, mit einer Haut wie zerfallenes Pergament…“

Herr Nottbusch war regelrecht in sich zusammengesunken, während er mir das erzählt hatte.

„Und dann?“ fragte ich.

„Dann? Ja dann…“ Der Mann begann zu weinen, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und schluchzte wie ein kleines Kind. Ich zupfte ihm zwei, drei Papiertücher aus der Box mit den Kosmetiktüchern und reichte sie ihm hinüber. Er nahm sie dankbar an, schnäuzte sich laut und ausgiebig und mit immer noch bebender Stimme sagte er dann: „Ich bin einfach nicht mehr hingegangen. Ich konnte das nicht mehr. Ich konnte dem Verfall nicht mehr zusehen. Verstehen Sie mich? Können Sie mich verstehen?“

Ich nickte nur und beschloß, daß es Zeit war für einen richtig guten Cognac.

„Danke nein, ich trinke nicht“, sagte Herr Nottbusch, als ich ihm das Glas hinstellte, doch eine halbe Stunde später hatte er drei Gläser getrunken, ich nur ein halbes.
In dieser halben Stunde hatte er mir erzählt, wie er Nora kennengelernt hatte, wie schön sie gewesen sei und daß er es einfach nicht habe verkraften können, sie so dem körperlichen Verfall preisgegeben zu sehen.
„Aber jetzt, jetzt muß ich Nora einfach nochmal sehen, das bin ich ihr schuldig. Schließlich haben wir uns einmal geschworen, in guten, wie in schlechten Zeiten zueinander zu stehen und diesen Pakt habe ich gebrochen. Ich muss sie einfach sehen, jetzt, damit ich irgendwann mal wieder in den Spiegel schauen kann, ohne daß mir vor mir selbst graust.“

„Nora ist schon auf dem Friedhof.“

„Und da ist jetzt zu?“

„Schon, aber ich habe einen Schlüssel.“

„Könnten wir…?“

Ich stand nur auf, bedeutete ihm mit einer Handbewegung, mir zu folgen und nahm im großen Büro noch den Schlüsselbund und die kleine, grelle Taschenlampe vom Haken.
Den Weg zu Friedhof legten wir zu Fuß zurück, das ist nicht weit, doch je näher wir dem Friedhof kamen, umso schleppender wurden die Schritte des jungen Mannes. Ich bemerkte, wie er sich immer wieder zusammen riss und auf ein paar schleppende Schritte folgten wieder ein paar schnelle.
Was für ein Kampf mußte in ihm toben?

Ich schloss das schmiedeeiserne Tor auf, das quietschend aufschwang. Wie theatralisch! Ein Friedhofstor, das im Schein des Vollmondes schaurig quietschte.
Eleonore Nottbuschs Sarg stand in der dritten Zelle und bevor ich mich daran machte, die sechs Deckelschrauben aufzudrehen, schaute ich Herrn Nottbusch nochmals fragend an und er atmete einmal tief und schwer durch, dann nickte er und half mir sogar bei den unteren beiden Schrauben.

Schon drei Minuten später hob ich den Deckel ab und stellte ihn an die Seite. Dann erst konnte auch ich in den Sarg blicken. Herr Nottbusch hatte nur „Mein Gott!“ ausgerufen und war zwei Schritte zurückgewichen.
Mein Herz begann zu pochen, denn ich wußte ja bis zu diesem Augenblick auch nicht, was mich erwarten würde. Hatten meine Angestellten die Verstorbene ordentlich zurecht gemacht? Wie stark war sie wirklich von der Krankheit entstellt?

Doch der Vollmond strahlte sein fahles Licht in einem kleinen Rechteck durch das schmale, hohe Fensterchen der Aufbahrungszelle und dieses Licht fiel genau auf Nora.
Vor mir im Sarg lag die schönste Frau, die ich je in einem Sarg liegen sah. Langes, blondes Haar, ein schönes Gesicht mit fast schon klassischen Zügen, und wenn ich nicht gewußt hätte, daß sie tot ist, hätte ich fast erwartet, daß sie in der nächsten Sekunde die Augen öffnet und mit uns spricht.

Ihr Mann trat einige Schritte vor, streichelte ihr erst ganz vorsichtig mit einem Finger über ihre kalten Hände. Dann ergriff er ihre Hand, die mit dem Ehering und streichelte zärtlich über den Ring.
„Für immer, Nora, für immer“, sagte er, dann beugte er sich hinunter und küsste seine tote Frau.

Ich ließ die beiden alleine und während ich draußen im Gang eine Zigarette rauchte, konnte ich hören, daß Herr Nottbusch seiner Frau noch einiges zu sagen hatte.

Etwa eine gute halbe Stunde mag das gedauert haben, dann kam er aus der Aufbahrungskammer wieder heraus, zog hinter sich die Tür zu und sagte zu mir: „So, jetzt ist es alles wieder gut.“
Schweigend verließen wir den Friedhof und erst am Bestattungshaus richtete der Mann wieder das Wort an mich: „So schön wie sie im Sarg liegt, so schön, so wunderschön. Vielen Dank, daß Sie mir das ermöglicht haben, jetzt habe ich meinen Frieden wiedergefunden.“

Ich schaute ihm noch eine Weile nach, wie er im Licht des Vollmondes unsere Straße hinunterging und irgendwann an einer Ecke im Dunkel einer Nebenstraße verschwand.

Am nächsten Morgen, ich war gerade mit meiner ersten Riesentasse Kaffee ins Büro gegangen, kam Manni, unser Fahrdienstleiter, in mein Büro und sagte aufgeregt: „Chef, der Dicke vom Friedhof hat angerufen, da hat jemand den Sarg von der Frau Nottbusch auf gemacht.“

Mensch, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Die Szene gestern Nacht war so eindrucksvoll und ergreifend gewesen, daß ich nicht mehr im Geringsten an den offenen Sargdeckel gedacht hatte, als Herr Nottbusch die Aufbahrungskammer verlassen und hinter sich die Tür zugezogen hatte.

„Komm!“ forderte ich Manni nur auf, erklärte ihm auf der kurzen Fahrt zum Friedhof in wenigen Sätzen, was sich letzte Nacht zugetragen hatte. „Ich helfe Dir schnell, den Deckel wieder drauf zu machen.“

Den dicken Friedhofsverwalter hatte ich schnell beruhigt und dann öffnete Manni die Tür zu Noras Zelle.
Ich weiß bis heute nicht, was sich damals in dieser Nacht zuvor zugetragen hat, ich kann es heute immer noch nicht verstehen, aber vielleicht gibt es ja manchmal doch kleine Wunder…
Jedenfalls hatte diese Nora, die da jetzt vor uns lag, nichts mit der schönen Frau gemeinsam, die ich letzte Nacht gesehen hatte.
Ja, es war eindeutig die selbe Frau, aber jetzt sah sie ausgemergelt, krebskrank und alles andere als schön aus.
Wer weiß, was der Vollmond sonst noch alles kann?

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