Geschichten

Das Schwein -VI-

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Herr Röttger ist da.
Bislang kannte ich Herrn Röttger nicht und er gehört vermutlich auch zu den Leuten, die ich nicht kennenlernen wollte. Meine Tochter ist die Erste, die Herrn Röttger gesehen hat. Sie kommt von der Schule nach Hause und sagt: „Papa, da drüben steht eine Lutzfaß-Säule mit Beinen.“

„Litfaßsäule“, berichtige ich und gehe zum Fenster.
Tatsächlich, auf der anderen Straßenseite steht ein mittelgroßer, etwas dicklicher Mann, der sich ein großes Plakat aus Pappe um den halben Leib geschlungen hat. Von vorne sieht es wirklich so aus, als stecke er in einer Pappröhre.
Von oben kann ich nicht sehen, was da mit blutroter Farbe auf der Pappe steht, also schicke ich meinen Sohn runter, um nachzusehen, ich selbst bin ja bekanntlich nicht neugierig.

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Der Junge kommt wieder und liefert einmal mehr den besten Beweis dafür, daß im Alter von 17 Jahren das Blut leider viel zu oft in den falschen Körperteilen steckt und gibt die Plakataufschrift wie folgt wieder:
„Gott hat Sex gemacht, oder so.“

Was bleibt mir also übrig, als selbst nachzusehen.

Auf dem Schild steht tatsächlich:

GOTT WO WARST DU????
SEX IST UNMENSCHLICH!

Ich gehe mal rüber und frage den etwa 40-jährigen Mann, dessen Haartracht solche fingerdicken, ungewaschenen Zotteln sind: „Was machen Sie da eigentlich?“

„Isch broteschdiere gäge‘ das segsuelle Mißbrauche‘ vunn de junge Mänschheid.“

„Aha.“

Er fährt dann in seinem komischen Dialekt fort, den ich mal zu übersetzen versuche:

„Der Mensch ist mit einem Trieb ausgestattet und Gott lenkt diesen Trieb, aber auch Satan lenkt daran. Wir sind quasi die Schwimmer an der Angel und Gott ist der Angler und der Karpfen ist der Fisch, der uns unter Wasser ziehen will.
Alle Menschen haben den Trieb, die einen mehr, die anderen weniger und wenn zu viele gleichzeitig den Trieb haben, dann kann Gott nicht überall zugleich zugegen sein und quasi an der Angel ziehen und uns von der Sünde fern halten. Da wird dann schon mal der eine oder andere vom Teufel, also vom Karpfen unter Wasser gezogen und da kommen die Schwulen her und die Nekrophilen und die Sexsüchtigen und die überfallen dann Kinder und machen andere Leute schwul.
Das ist ein ewiger Kampf, schon seit dem Paradies. Schon Adam und Eva hatten diesen Kampf und die haben auch nur zwei Söhne gehabt, Kain und Abel. Und was folgern wir daraus? Die müssen ja zwangsläufig auch schwulig geworden sein, wenn’s doch keine Frauen gab?“

„Ja klar, aber was machen Sie jetzt hier ganz konkret?“

„Ich stehe hier und mahne.“

„Sie mahnen.“

„Jawoll, ich mahne vor zuviel Sex. Wenn es keinen Sex auf der Welt gäbe, wäre die kleine Melanie nicht tot. Ich halte Totenwache. Da wo Melanie ist, da werde ich wachen.“

„Kannten Sie das Mädchen?“

„Ich?“

„Ja, sie.“

„Nääää.“

„Aha.“

„Ich protestiere hier gegen den Sex. Übermorgen bin ich gegen Bahnhof und nächste Woche fahr ich nach Berlin wegen der Bauern und der Subventionen.“

Ich unterhalte mich noch eine Weile mit dem durchaus nicht unsympathischen Mann, der sich mir als Heiner Röttgers vorstellt und erfahre, daß er im Grunde überhaupt nichts anderes macht, als jeden Tag in die Zeitung zu schauen, wo wieder etwas passiert ist und sich dann als Mahner hinzustellen oder an Demonstrationen teilzunehmen.

Gut, daß ich nicht so viel Zeit habe.

Was soll ich anderes tun, als den Mann da stehen zu lassen?

Am Nachmittag habe ich mit Herrn Heise gesprochen. Herr Heise ist Vorsitzender eines Gesangsvereins, der regelmäßig seine überbetagten Sterblinge durch uns bestatten lässt. Da zittern sich dann die immer weniger werdenden Tenöre mühsam durchs Ave Maria und jammern über den fehlenden Nachwuchs.
Herr Heise war früher aber mal Erster Kriminalhauptkommissar und tut mir gerne den Gefallen und hört mal eben telefonisch nach, was denn an der Geschichte mit Melanie dran ist.

Schon am frühen Abend ruft er mich zurück und sagt, daß es „polizeilicherseits keinerlei Erkenntnisse darüber gäbe, dass es sich nicht um einen häuslichen Unfall gehandelt habe“. Auch bei der Obduktion sei nichts Auffälliges festgestellt worden und im gesamten Umfeld der Familie gebe es nichts, was auf eine Straftat hindeute, weshalb es auch kein Ermittlungsverfahren gegen den Vater oder sonstwen gebe.

Ein Privatsender bringt am selben Abend einen Beitrag über den Fall. Von der anderen Straßenseite hat man das Haus der Hartmanns gefilmt, dann bringt man völlig zusammenhanglos Bilder von sehr reifen Mädchen „oben ohne“ aus dem Strandbad und am Ende darf eine Nachbarin über die Familie H. sagen: „Mir ist da nie etwas aufgefallen, das sind sehr nette Leute.“
Der betroffen schauende Moderator der Sendung kommentiert: „Die Menschen in G. sind fassungslos, die Ermittlungen dauern an.“

Wenig später wird das Haus der Hartmanns mit einer Flasche Ketchup beworfen und jemand zersticht alle vier Reifen ihres Wagens.
Herr Röttgers war es jedenfalls nicht, der hat bis um 21 Uhr da gestanden und da war das schon passiert.

Am nächsten Morgen bringen wir Melanies Sarg auf den Friedhof und somit verschwindet auch Herr Röttgers, der sich nun vor den Friedhof stellt, von wo ihn der Friedhofswärter mit einem Laubrechen kurzerhand verjagt: „Stell Dich woanders hin, Du Idiot! Wir wollen nicht schwul werden! Gesindel, ekliges!“

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