Geschichten

Der Butt

karpfen

karpfen

Antonia war unkonzentriert. Ich merkte schon seit Tagen, daß unsere junge Angestellte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren konnte und immer wieder ihren Gedanken nachhing. So hatte ich sie beispielsweise gebeten die Monatsrechnung der Tankstelle zu kopieren, damit ich sie in die Akte für den Steuerberater legen konnte.

Eine Viertelstunde später war Antonia immer noch nicht mit der Kopie wieder in meinem Büro. Also bat ich sie höflich um eine gewisse Beschleunigung der Arbeitsabläufe, indem ich lauthals brüllte: „Aaaaaaaaantoooooooniaaaaaa!“

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Trotzdem vergingen drei Minuten, bis die etwas übergewichtige junge Frau mit einem Puddingteilchen in der Hand in der Tür meines Büros stand. „Ja, Chef?“

„Wo ist die Kopie?“

„Welche Kopie?“

„Na, Du solltest doch eine Kopie machen. Ich hatte Dir doch diesen Beleg von der Tankstelle gegeben.“

„Mir? Niemals!“

„Also hör mal, vorhin warst Du hier in meinem Büro und ich gab Dir dieses Blatt zum kopieren.“

„Ach das! Das hätte ich kopieren sollen?“

„Ja! Was hast Du denn damit gemacht?“

„Und Sie haben wirklich kopieren gesagt, Chef?“

„Jahaaa!“

„Hm, Sie haben sich nicht vielleicht vertan und eventuell doch was anderes gesagt?“

„Was denn?“

„Schreddern?“

„Waaaas?“

„Ja, Sie sprechen manchmal so undeutlich.“

„Wer, ich?“

„Ja.“

„Nein! Ich spreche im Gegensatz zu Euch hier keinen Dialekt, ich spreche fast reinstes Hochdeutsch. Und ICH NUSCHELE NICHT!“

„Wie dem auch sei, Chef, ich hab’s geschreddert.“

„Das darf doch nicht wahr sein!“

Um es kurz zu machen, damals hatten wir noch einen Aktenvernichter, der die Blätter in schöne Streifen schnitt, und man darf gerne mal raten, wer den ganzen Nachmittag mit einem Klebestift Streifen für Streifen nebeneinanderkleben durfte – Antonia!

Aber das war nicht alles, solche Vorkommnisse häuften sich. Und das führte dazu, daß ich vier Tage später unser Moppelchen zu einem Gespräch in mein Büro rief.

„Antonia, was ist eigentlich los mit Dir? Schau mal, ich habe mich in all den Jahren daran gewöhnt, daß Du manche Sachen einfach langsamer machst als andere. Ich habe mich sogar daran gewöhnt, daß so manches Schriftstück aus Deinem Büro mit Pudding verklebt ist. Aber in der letzten Zeit bist Du sehr unkonzentriert. Was ist los mit Dir? Hast Du Kummer? Gibt es einen Mann in Deinem Leben? Bist Du verliebt?“

„Ein Mann? In meinem Leben?“ Antonia bekam einen verträumten Gesichtsausdruck, ihr Blick schweifte in die Ferne, kurz lächelte sie, doch dann schüttelte sich sich kurz und sagt: „Männer! Die machen einem nur Arbeit, wollen einem nur sagen, was man tun und lassen soll und meinen, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen. Nee, sowas brauche ich nicht.“

„Ja aber jeder sehnt sich doch nach ein bißchen Zweisamkeit.“

„Tu ich ja auch, aber wissen Sie, Chef, ich bin ja etwas runder als andere.“

„Ja?“

„Und Sie glauben gar nicht, wie viele Männer gerade auf uns etwas üppigere Frauen stehen. Ich habe keine Probleme, einen Mann zu finden, aber ich habe keine Lust ihn für immer zu behalten. Die räumen doch nix weg und machen alles schmutzig.“

„Ja, aber was ist es dann, das Dich so unkonzentriert macht? Du wirkst abgelenkt und bist nicht bei der Sache. Frau Büser hat mir erzählt, Du hättest heute Morgen eine schmutzige Kaffeetasse in den Kühlschrank gestellt…“

„Och mein Gott, das kann doch jedem mal passieren, was ist denn daran schlimm?“

„Was daran schlimm ist? Du hast stattdessen die Butter in die Spülmaschine gestellt und die dann eingeschaltet.“

„Oooooh!“

„Siehst Du, Du bist unkonzentriert! Sag mir, was los ist!“

„Es ist wegen der Frau Schmidt.“

„Was für eine Frau Schmidt?“

„Die aus dem Bauer-Haus.“

„Frau Schmidt aus dem Bauernhaus? Wer soll das denn sein, und was ist das für ein Bauernhaus?“

„Nicht BauerNhaus, sondern Bauer-Haus – das Erwin-Bauer-Haus.“

„Ach, Du meinst das Altersheim?“

„Jau.“

„Und was ist mit dieser Frau Schmidt im Bauer-Haus?“

„Die hatte seit 26 Jahren keinen Besuch.“

„Hmmm, das ist schlimm, sagte ich, lehnte mich in meinem Sessel zurück und ließ Antonia erzählen.

Frau Schmidt war vor 26 Jahren in ihrem schönen Haus am Rande der Stadt die Treppe hinuntergefallen und hatte sich schwer an der Hüfte verletzt.
Obwohl die Ärzte alles versuchten, blieb das Becken lädiert, sodaß die Frau seitdem im Rollstuhl sitzt.
Das Haus in dem sie wohnte, war eine Villa aus der Gründerzeit mit vielen Treppen. So hatten ihr Sohn und ihre Schwiegertochter die damals 60-jährige überredet, wenigstens vorübergehend in ein Altersheim zu ziehen, bis man ein geeigneteres Haus gefunden habe. Vielleicht könne man ja auch in Frau Schmidts Haus einen Treppenlift einbauen.

Frau Schmidt hatte eingesehen, daß die vorübergehende Unterbringung im Heim für sie das Beste gewesen war und –

…seitdem lebte sie im Erwin-Bauer-Haus. Und dort lebte sie schon 26 Jahre. Besuch bekam sie nie und über all die Jahre war die Frau trübsinnig geworden.

Antonia sagte: „Die ist nicht doof. Die hat auch kein Alzheimer oder so. Die ist einfach nur traurig. Die arme Frau ist so einsam und alleine. Deshalb hat sie auch irgendwann aufgehört zu sprechen.“

„Ja, und wenn die aufgehört hat zu sprechen, woher weißt Du das alles?“

„Mit mir spricht sie manchmal.“

„Wie kommst Du überhaupt an Frau Schmidt? Woher kennst Du sie?“

„Ich muß doch ab und zu ins Erwin-Bauer-Haus, um Sterbeurkunden abzuholen, wenn mal wieder jemand gestorben ist und wir den Auftrag bekommen haben. Und da ist sie mir aufgefallen. Die sitzt oft in ihrem Rollstuhl auf dem kleinen Balkon und schaut einfach nur so in die Ferne.
Sie hat mir einfach leid getan. Immer sitzt sie da. Ja und da bin ich dann mal eines Tages hin und hab ‚Hallo‘ gesagt.“

Von diesem Tag an war Antonia einmal die Woche zu Frau Schmidt gefahren, hatte der alten Dame Gebäck gebracht oder ihr auch mal die Haare schön gekämmt.

Ja, so war Antonia. Immer ein großes Herz und immer hilfsbereit.

Das Schlimme sei ja, so berichtete Antonia mir weiter, daß der Sohn der Frau Schmidt in ihre Schwiegertochter seit damals in Frau Schmidts schöner Vorstadtvilla wohnten. „Die haben sich das Haus untern Nagel gerissen und haben ihre Mutter längst vergessen. Man kann doch seine Mutter nicht ins Heim abschieben und sie dann nicht mehr besuchen. Das sind nur sechs Kilometer!“

Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Aber ich sagte Antonia, man könne ja nicht wissen, wie es um den Sohn bestellt sei. Wenn Frau Schmidt jetzt 86 Jahre alt sei, dann müsse Sohn ja auch schon im Rentenalter sein.

„Der? Der war Rechtsanwalt und ist jetzt wirklich schon in Rente. Der züchtet Karpfen, der Arsch!“

„Antonia!“, ermahnte ich die junge Frau.

„Ja, ist doch wahr! Wissen Sie, was der Arsch gemacht hat? – Da gibt es hinterm Altersheim im kleinen Park so einen Teich. Da sitzen die alten Leute oft und füttern die Goldfische.
Und der werte Herr Rechtsanwalt Schmidt kommt vor acht Wochen doch tatsächlich mit einem Eimer, bringt ein paar Goldfische für den Teich als großzügige Spende – und findet nicht einmal die Zeit, seine eigene Mutter zu besuchen, die nur 30 Meter entfernt auf dem Balkon im Rollstuhl sitzt.

Er habe keine Zeit, hat er zu Schwester Simone gesagt, demnächst einmal komme er aber bestimmt mal vorbei, um die Mutter zu besuchen.

26 Jahre! Überlegen Sie mal, Chef! So ein Arsch! Aber Fische kann er vorbeibringen.“

Es hat Antonia offensichtlich gut getan, mir diese Geschichte einmal erzählen zu können. Denn in den nächsten Tagen besserte sich ihre Arbeitshaltung wenigstens ein bißchen.

Das änderte sich 14 Tage später.

Ich lief durch die Eingangshalle unseres Bestattungshauses, als mir Antonia pfeifend entgegenkam. Mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“ begrüßte sie mich. Im Verlaufe des Tages erledigte sie alle angewiesenen Arbeiten zur vollsten Zufriedenheit und sogar – schnell.

„Geht’s Dir besser, Antonia?“, fragte ich mittags.

„Och, jooh“, grinste sie breit und war, schneller als ich es erwartete, schon wieder verschwunden. Welch wundersame Wandlung.

Ich wußte ja, wie sehr sich Antonia die Schicksale anderer Menschen zu Herzen nahm. Ich bin da anders. Ich sehe und erkenne die Schicksale, nehme auch Anteil daran, aber sie liegen mir nicht Stunde um Stunde am Herzen und auf dem Gemüt. So muß das auch sein, sonst kann man nicht Bestatter sein.

Da Antonia aber die letzte Zeit nur von Frau Schmidts Schicksal gefangen war, mußte die wundersame Wandlung auch etwas mit dieser Frau zu tun haben.
Ob Antonia dem Sohn den Marsch geblasen hatte?

Erst am nächsten Tag gelang es mir, Antonia endlich mal richtig zu fassen zu bekommen: „Los! Erzähl! Was ist passiert?“

„Nix, Chef, wirklich!“

Während sie das sagte, wich sie etwas zurück und verschränkte dann auch noch die Arme vor der Brust. Ein untrügerisches Zeichen dafür, daß sie etwas zu verbergen hatte und sich vor meinem Nachbohren schützen wollte.
Doch so leicht wollte ich sie nicht entwischen lassen: „Antonia, Du weißt, da steht schwere Strafe drauf!“
Ich sagte das einfach, nur so ins Blaue hinein.

„Sofort veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Das Überlegene wich dem Trotzigen. Sie stülpte die Unterlippe vor und meinte: Pffff, das ist doch nicht strafbar? Kann ich was dafür, daß der Mann sich nicht auskennt?“

Aha!

„Los, raus mit der Sprache!“

Und dann erzählte sie mir: „Ja, das war vorgestern. Da kam der Herr Schmidt mit einem Eimer zum Erwin-Bauer-Haus. Ich war auch gerade zufällig da und hörte, wie er an der Rezeption Bescheid sagte, daß er einen wertvollen Karpfen dabei habe. Der Teich in seinem Garten müsse gemacht werden und da sei der Streß für dieses preisgekrönte Tier zu groß. Deshalb habe er den rausgefangen und wolle ihn für drei, vier Tage in den Teich vom Erwin-Bauer-Haus setzen.“

„Ach, das war bestimmt so ein bunter Koi-Karpfen…“, sagte ich.

„Ach was, der sah ganz gewöhnlich aus. Nix mit bunt. Einfach nur so graubraun. Ein Fisch eben. Zu Frau Gudrun hat er gesagt, für den Fisch habe ihm ein Japaner 18.000 Euro geboten.“

„Ja, und weiter?

„Ja und dann hat er den Eimer neben der Rezeption abgestellt und sich von Frau Gudrun den Weg zum Keller zeigen lassen, wo er sich einen Kescher holen wollte.“

„Okay, soweit habe ich das verstanden, und dann?“

„Tja, da kam dann Brunhilde.“

„Und wer bitteschön ist Brunhilde?“

„Die kenn ich von der Bowlingbahn, die arbeitet da in der Küche, also jetzt nicht auf der Bowlingbahn, sondern mehr so im Bauer-Haus.“

„Jau, mach hinne! Ich will wissen, was Du gemacht hast.“

„Nix hab ich gemacht, ich schwöre. – Ich hab bloß zur Brunhilde gesagt: ‚Du, da ist ein Fisch gebracht worden, ich glaub, das ist ein Butt.'“

„Weiter!“

„Ja, kann ich was dafür, daß die das völlig falsch verstanden hat?“

„Was ist passiert?“

„Gut, sagen wir es mal so, am Abend gab es für die alten Leute leckere Fischsuppe.“

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    Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

    Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

    Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

    Lesezeit ca.: 13 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 8. Juni 2016

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    11 Kommentare
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    hajo
    8 Jahre zuvor

    wie geil ist denn das? 😀 😀 😀

    Sabrina Bunge
    Reply to  hajo
    8 Jahre zuvor

    @hajo: das ist supermegaoberaffengeil 🙂

    Winnie
    8 Jahre zuvor

    Ich mag keinen Fisch egal in welcher Art und Weise zubereitet und ebenso egal wie teuer, aber Antonia ist super toll. Die mag ich.

    Micha Ströe
    8 Jahre zuvor

    hihihi. Frech, wie die wohl Frau Mutter gemundet hat?

    Kenntkeinenschmerz
    8 Jahre zuvor

    Lieber Peter, wieder einmal eine von Deinen besten Erzählungen. Glaubhaft und (leider) plausibel. Und mit einem eines Guy de Maupassant würdigen happy end. Wie Du weißt, haben wir am 31. Mai den 100. Geburtstag meiner Maminka in meiner zweiten Heimat gefeiert. Meine Dritte ist seit 55 Jahren Deutschland und und die Erste kennst Du ja. Und Du weißt auch, wie schwer mir die 600 km fallen, die Freudenheim von Lille vor allem seit 4 Jahren trennen. Bei den Feierlichkeiten waren die zahlreichen Gäste von meinem Freund Peter begeistert. Auch Dich hatte Mami nämlich ins Gespräch gebracht: „ach, erzähle uns doch etwas über Deinen Freund, den Blogger“. Und schon regnete es von Fragen und von Anregungen: – Was ist ein Blogger? Die Frage war nicht schwer zu beantworten. – Was schreibt so Dein Kumpel? Zwei Übersetzungen hatte ich zufällig dabei, fotokopiert. – Das ist aber sehr gut – das sollte man bei uns auch veröffentlichen! – Die heutige Story (aus verständlichen Gründen) konnte ich leider noch nicht zum Besten geben… Sollten wir da etwas initiieren? Unverbindlich… Weiterlesen »

    Buchstabensalat
    8 Jahre zuvor

    Der arme Fisch hat’s also ausbaden müssen…

    …hihihi….

    Salat

    8 Jahre zuvor

    Ich lach mich schlapp, ist das geil!

    amy
    8 Jahre zuvor

    Schön erzählt!!

    Nur warum braucht mann einen Kescher um einen Fisch aus dem Eimer in den Teich zu befördern?? Eimer reinhalten, rausschwimmen lassen oder ausleeren…??

    Winnie
    Reply to  amy
    8 Jahre zuvor

    @amy:
    War nur ein Grund um den Eimer unbeaufsichtigt darzustellen. Morgen gibt’s ne’n Eimer Phantasie (Fantasie) dazu. 😉

    max
    8 Jahre zuvor

    Antoni salzte nach 😉

    Rena
    8 Jahre zuvor

    Schallend lach. Vielen Dank für die Aufmunterung bei dem trübseligen Wetter.




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