Geschichten

Der elende Pisser ist endlich tot

Wenn Du als Bestatter zu einer Adresse gerufen wirst, weißt Du gar nichts über die Menschen, zu denen Du gleich kommen wirst.
Du stellst dich darauf ein, daß es eine weinende Familie sein wird, die, bestürzt über den Tod eines lieben Menschen, trauert.
Meist ist eine oder einer von denen diejenige oder derjenige, der Stärke beweisen muß oder will. Er oder sie klärt dann alles mit Dir.
Dann kommen die Sargträger, holen den Verstorbenen ab, und Du stehst mit den Angehörigen vor der Tür und schaust zu, wie die Trage mit dem Verstorbenen eingeladen wird.
Normalerweise verhalten sich die Nachbarn zurückhaltend, man sieht höchstens, wie hier und da eine Gardine hastig vorgezogen wird, wenn man mal auf eines der umliegenden Fenster schaut.

Ja, es gibt immer auch den vorwitzigen Jupp, der atemlos aus dem Haus gerannt kommt, auf den Bestattungswagen zeigt und dann fragt: „Is wat passiert?“
Oder die Nachbarin, die ansonsten für die Verteilung von kurzlebigen verbalen Informationseinheiten zuständig ist, die wie ein kopfloses Huhn um die Träger herumflattert und immer wieder ruft: „Ach Gott, ach Gott, ach Gott!“

Aber an diesem nieseligen Freitagabend war das alles anders. Etwa zwei Dutzend Menschen hatten sich an den Fenstern, im Hausgang, vor dem Haus und auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt.
Keine atemlose, der Trauer geschuldete Stille. Allgemeines Palaver, so als warte man auf den Durchzug der Christopher-Street-Day-Parade.
Als die Männer die Trage aus dem Haus bringen, brandet Applaus auf. Jubel, Gelächter, höhnische Rufe. „Endlich!“, „Wurde aber auch Zeit!“, „Meine Fresse, der hat et aber auch verdient…“

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Herr Bogdanov schrieb irgendwas in seine Schreibmappe, dann nickte er mir zu: „So, können wir?“
Der 46-jährige war der Hausverwalter und hatte für den Verstorbenen alle Vollmachten; er sollte mit mir alles weitere besprechen.

Als der Bestattungswagen wenige Minuten später abfuhr, flog ein Plastikbecher mit Bananenmilch hinterher, verfehlte das Auto nur knapp. Allgemeines Gejohle.
Erst als der Wagen um die Ecke gebogen war, verkrümelten sich die Leute. Man spürte allgemeine Zufriedenheit.

„Ich habe das Gefühl, der Verstorbene erfreute sich nicht gerade allgemeiner Beliebtheit“, sagte ich zu Herrn Bogdanov.
Herr Bogdanov und ich standen inzwischen vor der Wohnungstür des Verstorbenen. Der Verwalter nickte nur und meinte dann: „Wenn wir jetzt in die Wohnung kommen, seien Sie vorsichtig. Nicht an die Wände lehnen. In der Küche habe ich ein bißchen aufgeräumt, da geht es. Aber sonst bitte nichts anfassen.“

Er schloß auf.

Als die Tür aufschwang, hatte ich das Gefühl, jemand habe die Tür zur Pinkelrinnenhütte auf dem Oktoberfest aufgestoßen.
Ein scharfer, an Ammoniak erinnernder Geruch nach Urin, gemischt mit Anteilen faulenden Obstes drang in meine Nase. Ekelhaft.

Die Dreizimmerwohnung war vollgestopft mit Zeitungsstapeln und prall gefüllten Plastiktüten. In allen Ecken standen aufgerissene Pappkartons mit Abfall und Dutzende von gelben Plastikmüllsäcken, in denen dicke Fliegen herumbrummten.

„Mein Gott, wie lange hat der Verstorbene hier gelegen?“, erkundigte ich mich.

„Der Herr Planck? – Eine Stunde etwa, dann war der Arzt da und ich habe sie gerufen.“

Die Küche glich einem Schlachtfeld. So als habe man hier sechs Folgen der Küchenschlacht gedreht und zwar das Sonderformat „Asoziale kochen mit Abfall“.
Schimmelnde Töpfe, fettranzige Pfannen, faulende Konserven und Tiefkühlpackungen bis an die Zimmerdecke.

Aber Herr Bogdanov hatte am Tisch etwas Platz geschaffen. „Ich habe einfach alles runtergeschmissen, unter der Wachstuchdecke war sogar ein halbwegs sauberer Tisch.“ Er deutete in eine Ecke, wo die als Wachstuchtischdecke bezeichnete Fauligkeit wie ein steifes Segel im Wind aufrecht stand…
Über zwei der Stühle hatte der Mann Müllsäcke gestülpt. „Ich mach noch eben ein paar weitere Fenster auf“, sagte er.
„Ich helfe Ihnen“, bot ich mich an und während er sich im Wohnzimmer um die versifften Fettluken kümmerte, ging ich in den Raum, der wohl so etwas wie ein Schlafzimmer gewesen sein mußte. Ein schmaler Trampelpfad, kaum 20 Zentimeter breit, führte zur einer fleckigen, stinkenden Bettstatt.

„Warum hat der Mann überall Fanta rumstehen?“, fragte ich, unbedarft wie ich bin, den Verwalter.

„Das ist keine Fanta, das ist Pisse.“

„Was?“

„Ja, Pisse!“

Und dann erzählte mir Herr Bogdanov von Herrn Planck.

„Herr Planck hat diese Wohnung vor 11 Jahren gekauft. Da ging es ihm offenbar noch ganz gut. Das war aber vor meiner Zeit, ich mach das hier erst seit 8 Jahren. Das sind hier alles Eigentumswohnungen, müssen Sie wissen. Er war der Erste der hier einzog, die anderen sind alle so seit 8 bis 9 Jahren hier.
Damals hat der noch gearbeitet. Ich glaube, der war Vertreter für Kosmetikartikel oder so was. Aber dann wurde der Frührentner. Eines Tages tauchte der in meinem Büro auf und brachte einen Umschlag vorbei. ‚Wenn mal was mit mir ist, kümmern Sie sich bitte um alles.‘ Ich bin eigentlich für die privaten Belange der Wohnungsbesitzer nicht zuständig. Aber ich hab mir nichts dabei gedacht und den Umschlag in seine Eigentümerakte getan.
Vor zwei Jahren hab ich mal in den Umschlag geguckt. Da ist eine Vollmacht für mich drin, die über den Tod hinaus geht, eine Visitenkarte von Ihrem Beerdigungsinstitut und die Police von einer Sterbegeldversicherung über 8.000 Euro. Und dieser Zettel hier.“

Ich Hartmut Planck, geboren am 13.5.1966, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, verfüge hiermit, daß nach meinem Tod keine Trauerfeier stattfindet. Meine Asche soll an einem nicht näher bezeichneten Ort vergraben werden. Keiner soll mein Grab kennen. Ich will keine Anzeige in der Zeitung, keinen Pfarrer und keine Trauerfeier. Die Sterbegeldversicherung soll für die Beerdigung verwendet werden. Was übrig ist, geht an mein Patenkind Jutta in Österreich. Sie soll auch meine Wohnung erben. Mein Testament liegt bei Anwalt Dr. Brock.

Hartmut Planck

Ich deutete auf die Müllberge und fragte: „Das hier sieht nicht so aus, als habe der die Prämien für die Sterbegeldversicherung auch wirklich bezahlt.“

„Oh, lassen Sie sich nicht täuschen. Herr Planck hat früher gutes Geld verdient und ihm gehört neben dieser Wohnung hier noch eine im Nachbarhaus. Außerdem verfügte er über ein nicht unbeträchtliches Vermögen auf der Bank. Ich habe da Einblick.“

„Und warum sieht es hier so aus?“, fragte ich, und nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: „Und die Reaktionen der Nachbarn waren ja auch -sagen wir es mal so- sehr seltsam.“

„Nein, da ist nichts Seltsames dran. Die sind alle froh, daß er weg ist. Herr Planck hatte mit allen Streit. Das fing damit an, daß er als Frührentner immer zu Hause sein konnte, während alle anderen tagtäglich ihre Wohnungen verließen, um zur Arbeit zu gehen. Zuerst ist er nur im Haus herumgeschlichen und hat den Leuten auf ihre Fußmatten gepinkelt.“

„Was hat der gemacht?“

„Ja, Sie haben richtig gehört, der hat den Leuten auf die Fußmatten gepinkelt. Deshalb stehen auch überall diese Plastikflaschen mit Urin herum. Er sammelte das und bespritzte und besprühte alles und jeden mit Urin.“

„Der war gaga, oder?“

„Schon, irgendwie. Wenn die anderen Eigentümer auf ihren Balkonen, auf der Terrasse oder im Garten saßen, hat er seine Wasserpistole mit Urin gefüllt und die Leute bespritzt.“

„Und die haben sich nicht gewehrt?“

„Doch, natürlich. Aber die Polizei hat gesagt, das sei keine Sachbeschädigung, weil man Urin einfach wegwaschen könnte. Wenn die Polizei bei ihm geklingelt hat, hat er nicht aufgemacht. Und wegen einem Urinspritzer rufen die nicht das SEK. Nach dem hundertsten Anruf sind die dann irgendwann gar nicht mehr gekommen.“

„Das geht doch nicht. Sowas ist doch strafbar.“

„Bestimmt sogar. Aber da braucht man erst mal Polizisten, die da eine Anzeige aufnehmen. Eine Bewohnerin hat sogar Anzeige direkt bei der Staatsanwaltschaft eingereicht. Die Folge, das Verfahren wurde eingestellt. Je mehr die sich beschwert haben, umso weniger haben sich die Behörden interessiert. Das wurde als Nachbarschaftsstreit abgetan. Irgendwann hat Planck mal selbst Anzeigen gegen alle Nachbarn geschrieben und wollte die wegen Mobbing verklagen… Tja, und seitdem hieß es bei der Polizei umso mehr, daß es sich nur um einen läppischen Nachbarschaftsstreit handelt. ‚In kleine Kabbeleien zwischen Nachbarn kann sich die Polizei nicht einmischen.‘.“

„Das kanns aber auch nicht sein. Dagegen hätte man doch was machen können.“

„Ja, was denn? Glaube Sie mir, die Nachbarn haben alles versucht. Die haben Anzeigen erstattet, die haben das Gesundheitsamt, das Ordnungsamt und was weiß ich für Behörden eingeschaltet. Letztlich hat es aber immer an verlässlichen Zeugen gefehlt. Eine Frau hat er mit einem Kondom beworfen, das mit Urin gefüllt war. Zeugin war die Tochter der Frau. Aussage der Polizei: ‚Als Tochter sind sie als Zeugin unglaubwürdig.‘ Ja, die haben sogar vorgehabt, den zusammenschlagen zu lassen. Irgendein Ausländer hätte das für 500 Euro übernommen. Aber dann wollte letztlich keiner was damit zu tun haben und das Ganze ist im Sand verlaufen.
Dann hat ein Nachbar einen Detektiv eingeschaltet. Die angefertigten Fotos hat sich die Polizei gar nicht erst angeschaut. Das sei ein Eingriff in die Privatsphäre des Mannes. Man solle besser einen Schiedsmann aufsuchen und diesen Nachbarschaftsstreit gütlich beilegen.
Dann hat der Detektiv vorgeschlagen, vom gegenüberliegenden Haus einen Richtlautsprecher auf die Wohnung von Herrn Planck zu richten. Man wollte ihn mit einem unhörbaren Ton wahnsinnig machen. Dafür wollte der Detektiv aber 2.000 Euro – am Tag.
Glauben Sie bloß nicht, die hätten nicht alles versucht. Anwälte haben sich da schon eine goldene Nase verdient. Aber immer fehlte es an Zeugen, dann hat Betroffene wieder der Mut verlassen und schließlich ging das Gerücht um, Herr Planck habe auch Schusswaffen.
Ich habe bis jetzt keine gesehen, außer der Wasserpistole. Vielleicht liegt irgendwo unter dem Müll noch was. Aber so wie ich das sehe, stimmt das mit den Schusswaffen nicht.
Aber seitdem das Gerücht herumging, haben die Leute noch mehr Angst vor dem gehabt.

Und es wurde immer schlimmer. Seine Wohnung liegt ja oben und ist etwas zurück versetzt. Man sieht von unten nicht, ob der da oben zugange ist. Aber sehen Sie da: Der hat diese Besenstiele mit den Spiegeln. Da in der Ecke steht einer.
Damit konnte er nach unten schielen und zielen…“

„Sauerei.“

„Da haben’se Recht! Und ich als Verwalter… Was meinen Sie, wie oft mein Telefon klingelte. Aber ich bin nur der Verwalter, nicht der Hausmeister oder Nachbarschaftspfleger. Außer seinem Besuch bei mir, als er mit den Umschlag brachte, habe ich den nie wieder zu Gesicht bekommen. Der antwortet nicht auf Briefe, der macht die Tür nicht auf und ans Telefon geht der schon dreimal nicht – äh, ging der schon dreimal nicht.“

„Ich kann mir das gar nicht vorstellen, daß man gegen so jemanden nichts unternehmen kann.“

„Ja doch, auf die Fresse hauen… Aber dann? Dann hat er fünf Tage Schmerzen und das Theater geht weiter wie zuvor. Ich weiß gar nicht mehr, wann das losging, aber so sieben, acht Jahre sind es bestimmt.“

„Langsam wird mir der Gestank hier zuviel“, merkte ich an, „Können wir nicht in unserem Büro weitermachen?“

„Nee, obwohl es schon spät ist, habe ich bei Harry Stubner angerufen. Der Entrümpler kommt noch heute Nacht und fängt an, hier klar Schiff zu machen. Die brauchbaren Sachen, sofern es welche gibt, kommen alle in einen Container, den Rest lassen wir verbrennen. Morgen will ich schon hier saubermachen lassen. Das haben die anderen Bewohner verdient, daß endlich dieser Gestank aus dem Haus kommt. Morgen Abend soll es hier sauber sein.“

Herr Bogdanov kam am nächsten Tag dann doch noch in unserem Büro vorbei. Er hatte die Patentochter aus Österreich erreicht. Sie war von dem Erbe völlig überrascht, hatte aber schon angedeutet, daß sie die Wohnung zum Verkauf anbieten wolle.
„Ich werde sehen, daß da eine junge Familie mit kleinen Kindern reinkommt“, meinte Herr Bogdanov.

Nach Herrn Planck hat sie niemand mehr erkundigt. Der Sarg mit ihm wurde eingeäschert und seine Urne anonym auf dem Hauptfriedhof beigesetzt.
„Tut die vorne an die Ecke, wo immer die Hunde hinpieseln“, hatte ich zum schwitzdicken Friedhofsmann gesagt. Ich weiß, pietätlos.

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    #haus! #herr #tür

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