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Der Erwin

orgel

Der alte Bahnhof weckt in mir romantische Erinnerungen. Früher glänzte dort alles in hellgrünen Fliesen aus der Kaiserzeit, es roch nach Bohnerwachs und amtstragender Staatsgewalt und man mußte eine Bahnsteigkarte lösen, um auf die Bahnsteige zu gelangen. Überall Staatsdiener in blauen Uniformen, deutsche Ordnung so weit das Auge reichte.

Das Größte überhaupt war es, wenn man ein 10 Pfennigstück in die Personenwaage stecken durfte. Mit einem unglaublichen mechanischen Getöse setzte sich eine Maschinerie in Gang, wog, druckte, stempelte und am Ende hielt man glücklich ein kleines Kärtchen aus Pappe in der Hand, das einem das genaue Körpergewicht verriet.

Der Niedergang des altehrwürdigen Gebäudes begann in den späten 70er Jahren, am Ende waren die Schalter zugemauert und der Geruch nach Bohnerwachs war dem von Urin und Erbrochenem gewichen.

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Mittlerweile ist der Bahnhof gar kein Bahnhof mehr, ein Teppichladen und ein Getränkehändler haben sich dort niedergelassen.
Die stets vom grausamen Schicksal gebeutelten Orientalen müßen einen Schlag nach dem anderen hinnehmen und alle paar Wochen Total-Räumungsverkäufe veranstalten, alles 170% unter Preis. Wenigstens 164 mal hatte einer der Inhaber irgendeine garantiert tödliche Krankheit und mußte in schreienden Zeitungsanzeigen sein letztes Hab und Gut in Form von Teppichen verschleudern. Herr Osan Azzufahan ist sogar einmal an Lungenkrebs und acht Monate später nochmals an Schwindsucht verstorben. Da das häufige Sterben wohl doch auf Dauer zu anstrengend wird, war zuletzt eine böse böse Bank Schuld an der Misere, die einen Kredit nicht verlängern wollte und den dann in Verkaufsgesprächen doch recht fröhlich wirkenden Herrn Azzufahan erneut zur Aufgabe seines „ehemals von Fürstenhäusern geschätzten Teppichimperiums“ zwang. Es gab mal wieder alles 330% unter Preis, oder so.

Von solchen Rabatten können die Kunden von Erwin Budenmann nur träumen. Der „Äwwin“ wie er allgemein genannt wird, ist das einzige Überbleibsel aus den glorreicheren Zeiten des Bahnhofs, er betreibt den Bahnhofskiosk seit über 40 Jahren.
Wo sich früher Reisende mit Lektüre und Wegzehrung versorgten, lungern aber heute nur noch recht verwegene Gestalten herum, die sich frühmorgens, wenn’s draußen bitterkalt ist, schon mit einem schönen Fläschchen eiskalten Gerstensaftes aufwärmen…

Nun ist der „Äwwin“ tot. Ein bärtiger Geselle, dem die mangelnde Körperhygiene schon auf Distanz anzuriechen war, hat den „Äwwin“ tot in seinem Kiosk gefunden und brav die Polizei verständigt. „Watt issen mit die Belohnung?“ soll eine seiner ersten Fragen gewesen sein, die allerdings unbeantwortet blieb.

Nun, was haben Herr Azzufahan und der tote Äwwin miteinander zu tun? Nichts.
Aber wir haben was mit Äwwin zu tun, denn den sollen wir bestatten.

Erwin Budenmann ist, so stellten die Beamten ohne große Probleme fest, keines natürlichen Todes gestorben. Dafür sprachen einerseits die fehlenden Bargeld- und Spirituosenbestände im Kiosk und andererseits die doch recht große Blutlache in der Herr Budenmann gelegen hat.
Die „Pietät Eichenlaub“ hatte den Auftrag bekommen, Herrn Budenmann in die Rechtsmedizin zu fahren, das war am Freitagmorgen und am Samstag erschienen sechs Herren und eine Dame bei uns und beauftragten uns mit der Bestattung.

Die Leute sind allesamt aus recht einfachen Verhältnissen, verfügen nur über begrenzte finanzielle Mittel, wollen aber dem alleinstehenden Kioskbesitzer ein einfaches und würdiges Begräbnis sichern. Zu diesem Zweck hat man gesammelt und immerhin 1.100 Euro zusammenbekommen. Das reicht nicht weit, aber immerhin es ist ein Anfang, für den man mit viel gutem Willen auch was hinbekommt.
Die städtische Trauerhalle können wir nicht nutzen, die würde zuviel Geld kosten, aber wenn wir auf die Gebühr für unsere Feierhalle und die Kühlung verzichten, einen wirklich einfachen Sarg nehmen, dann könnte es so eben reichen.

Die Leute sind dankbar, daß wir uns nicht aufs hohe Roß setzen und sie ernst nehmen, daß wir uns ihre Geschichten anhören und ihre Ideen und Vorstellungen wenigstens umzusetzen versuchen.
Viele Jahre habe der „Äwwin“ allen immer Kredit gegeben und weil er in seinem Kiosk auch Brennholz, Handykarten, Konserven und Brötchen verkaufte, scheint er fast einen ganzen Straßenzug in Zeiten der finanziellen Not über Wasser gehalten zu haben.

Doch damit verbindet sich für mich auch ein Problem.
Morgen am späten Vormittag können wir Herrn Budenmann von der Rechtsmedizin abholen und jetzt schon steht fest, der Mann ist erschlagen worden und zwar stilgerecht mit einer Flasche Mariacron. Stilgerecht aus zwei Gründen, denn einerseits was würde besser passen als eine Schnapsflasche und zweitens wird Mariacron unter den Kunden von Herrn Budenmann auch „Katholikenasbach“ genannt und Herr Budenmann war nunmal katholisch.
Nun befand sich aber in der großen Flasche schon seit Ewigkeiten kein Weinbrand mehr, sondern „Äwwin“ hat darin „die Roten“ gesammelt, also alle rötlichbraunen Münzen. Mit eben dieser Münzenlast beschwert muß die Flasche als Tatwerkzeug gedient haben und als Herr Budenmann schon tot in seinem Blute lag, muß der Täter noch in aller Seelenruhe auch die ganzen „Roten“ aus der Flasche geschüttelt haben.
Man nimmt an, daß Herr Budenmann schon am Donnerstag kurz vor Mitternacht sein Ende fand und der Täter noch fast die ganze Nacht in dem Kiosk zugebracht hat. Entweder hat er mehrfach den Ort des Geschehens zu Fuß verlassen oder er verfügte über ein Fahrzeug, jedenfalls fehlen alle starken Spirituosen, alle noch in Stangen verpackten Zigaretten und etwa 300 bis 500 Euro Bargeld.

Jetzt ist es aber so, daß die Polizei von einem weiteren Täter ausgeht. Wie die Beamten so etwas ermitteln, ist mir nicht ganz klar, aber es könnte durchaus so gewesen sein, wie erzählt wird.
Anhand von Fußspuren, man bedenke die Blutlache, konnte festgestellt werden, daß der Täter auf jeden Fall mehrfach dagewesen sein muß, oder aber daß ein zweiter Täter beteiligt war. Es könne durchaus sein, daß einer den „Äwwin“ erschlagen hat und sich mit der großen Beute davongemacht hat und daß danach eine andere Person den Toten fand und sich nochmals an dem verbliebenen Rest im Kiosk bediente.
„Wer schüttelt schon rote Münzen aus einer Flasche, wenn er ungefähr 500 Euro in großem Geld mitnehmen kann?“ gab einer der Beamten zu bedenken.
Warum das Ganze mir etwas Kopfzerbrechen bereitet, liegt aber an ganz etwas anderem. Verschwunden ist nämlich auch „dem Äwwin sein Buch“, jene Kladde in der Erwin Budenmann akribisch die Schulden seiner Kunden anschrieb. Das hat kein Fremder gestohlen, daß muß jemand gewesen sein, der ganz besonders hoch bei „Äwwin“ in der Kreide stand. Ja und es ist doch nicht ausgeschlossen, daß derjenige jetzt als eifrig löschender Brandstifter ausgerechnet unter denjenigen ist, die hier bei uns aus alter Treue eine Beerdigung für den „Äwwin“ bestellen wollen.

Mariacron ® ist eine eingetragene Marke der Rotkäppchen-Mumm Sektkellereien GmbH.


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Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 24. November 2008 | Revision: 5. Februar 2014

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12 Kommentare
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Elenaor
15 Jahre zuvor

Was für eine spannende Geschichte! Gibt es eigentlich irgendwelche persischen Teppichhändler, die nicht jedes Jahr eine Geschäftsaufgabe verkünden?

Deine Befürchtung würde ich allerdings auch teilen, traurig so etwas.

Hans
15 Jahre zuvor

Wenn Du so einen ergiebigen Teppichhändler in der Nähe hast, dann schick doch die Prospekte mal an die Redaktion „Titanic“. Die vergeben einigermaßen regelmäßig den „Ingeborg-Sheherazade-Literaturpreis“ für die blumigsten Notfall-Räumungsverkaufs-Anzeigen persischer Teppichhändler.

Ivy
15 Jahre zuvor

Boah, das ist ja eine abgefahrene Geschichte. Liest sich wie ein Krimi. Total spannend. Trotzdem schlimm. Schade um den Äwwin. Scheint ein guter Mensch gewesen zu sein. So rein vom Gefühl her jetzt. Echt schade. Bin ja mal gespannt, ob sich die Täter finden werden. Und oft ist es ja wirklich so, dass solche Morde oft in den engsten Kreisen passieren.

Ich möchte noch dazusagen, dass ich dieses Blog erst seit kurzer Zeit kenne und bin total begeistert, was hier so geschrieben wird. Richtig spannend ist das für Otto Normalverbraucher. Danke für die tollen Einblicke.

Kronkorken
15 Jahre zuvor

Woah, der Teppichhändler kommt mir bekannt vor… Das war in Bielefeld.
Und Bielefeld gibt es ja nicht…
Moment:
Den Undertaker gibt es nicht!!!!
FAAAAAAAAAAAKE

😀

McDuck
15 Jahre zuvor

Teppichhändler? Geschäftsaufgabe seit 1956! Alles muss raus! 🙂

Christina
15 Jahre zuvor

Auf die Fortsetzung bin ich ja mal gespannt.

Vielleicht wollen die 6 Herren und 1 Dame Äwwins Beerdigung bei Tom ja mit lauter „Roten“ bezahlen? *scnr* 🙂

Thomas
15 Jahre zuvor

Bitte doch schnellstens um einen vorschuss, wenn der in form von „roten“ kommt,lauf.

sanja
15 Jahre zuvor

Wirklich traurig wenn man zusammenzählt wegen wieviel (oder eher wie wenig) geld so jemand dann gestorben ist.

MacKaber
15 Jahre zuvor

Sieben Freunde legen zusammen, sind denn da keinerlei Verwandte mehr da? Wer übernimmt die Abwicklung seines Kiosks? Da es sich ja um ein Geschäft handelte, muß doch noch Restvermögen da sein. Er wird ja nicht von der Hand in den Mund gelebt haben, er mußte doch auch Waren einkaufen. Sollte nun der Fiskus alles erben, oder kommt der dann obendrein auch noch um die Bestattungskosten herum? Oder bekommen die Sieben ihr Geld wieder zurück?

jemand
15 Jahre zuvor

Du hast es aber mit Teppichen ^^

pünktchen
15 Jahre zuvor

Zum einen habe ich persische angeheiratete Verwandschaft, die auch schon mehrmals Ausverkauf hatten. Aber nur einmal wegen echter Geschäftsaufgabe, ansonsten gab es etliche Jubiläen, zur Not sogar nach 17 1/2 Jahren 😉

Zum anderen habe ich noch so ein Pappkärtchen, da steht drauf: „Sie wiegen 120 halbe Pfund“ (ist leider schon 10 Jahre alt …)

Rena
15 Jahre zuvor

So einen türkischen Teppichhändler haben wir hier auch. Erstaunlich, über wie viele Jahre man einen Totalausverkauf ziehen kann.




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