Geschichten

Der Herr der Fliegen

Ein dicker Mann schneidet sich in einer Küche die Fußnägel

Die Wachstuchtischdecke auf dem Küchentisch klebt. Immer, wenn ich meine Hände vom Tisch abhebe, gibt es ein schmatzendes Geräusch. Meine Mappe mit den Unterlagen hat sich förmlich festgesaugt. Das schmale Fensterbrett zu meiner Linken ist vollgestellt mit künstlichen Blumen.

Aber es sind keine schönen Seidenblumen, die man fast mit echten Pflanzen verwechseln könnte, sondern solche Plastikblumen, wie man sie früher an den Schießbuden auf der Kirmes bekam. Zwischen einem Plastikrosenstrauch und einem Gummi-Usambaraveilchen geben sich eine orangefarbene Madonna und rosa Buddha ein Stelldichein.
Am Abreißkalender wartet seit Monaten der 17. Mai darauf, abgerissen zu werden, wobei ich dann bemerke, dass der Kalender schon zwei Jahre alt ist. Ich überlege kurz und komme zu dem Schluss, dass er noch weitere acht Jahre hängen bleiben muss, bis sich das Kalenderjahr mit gleichen Tagen wiederholen wird.

Über mir hängt ein bewegungsloser Deckenventilator, von dem sechs mit toten Fliegen übersäte klebrige Fliegenfänger herabhängen. Auf der Küchenanrichte brodelt frischer Kaffee durch den Filter einer Kaffeemaschine. Das hat man heute selten, die meisten Leute haben vollautomatische Geräte. Ich freue mich auf eine Tasse frischen Kaffees.

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Mir gegenüber sitzt Frau Urban und blättert etwas aufgeregt in einem Stapel Unterlagen. „Warten Sie, ich hab’s gleich“, sagt die etwa 70-Jährige und zieht dann endlich die Sterbeurkunde ihres längst verstorbenen Mannes aus dem Stapel.
Frau Urban will eine Bestattungsvorsorge abschließen und deshalb bin ich bei ihr zu Besuch, um die notwendigen Schritte zu besprechen.

Der Kaffee duftet bis zu mir herüber und ich werfe einen Blick auf die Kaffeemaschine, was der alten Kittelschürzenträgerin nicht verborgen bleibt. „Noch einen kleinen Moment, dann gibt’s den Kaffee, und ein schönes Stück frischen Pflaumenkuchen gibt’s auch noch dazu. Sie mögen doch Pflaumenkuchen, nicht wahr?“
Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und ich nicke.

Ich hatte bis zu diesem Moment eigentlich gedacht, alleine mit der Witwe zu sein, als aus dem Wohnzimmer eine Männerstimme ruft: „Luft!“

Frau Urban springt auf, läuft zum Kühlschrank und entnimmt ihm Butter und Käse, um dann eilig zwei Käsebrote zu schmieren, die sie dann auf einem Teller ins Wohnzimmer bringt.
Als sie zurückkommt, sagt sie fast schon entschuldigend: „Wolfie hat Hunger.“

Ich hebe fragend die Augenbrauen und sie fügt erklärend hinzu: „Wolfie ist mein Enkel, der wohnt bei mir, meine Tochter ist mit dem nicht zurechtgekommen.“

Nach wenigen Minuten ruft Wolfie abermals: „Luft!“ und als Frau Urban nicht sofort aufsteht, folgt nach Kurzem erneut, diesmal aber zorniger: „Luu-huft!“

„Warum ruft der junge Mann denn Luft?“, erkundige ich mich und Frau Urban erklärt: „Das soll heißen, dass er Luft im Bauch hat und was zu essen haben möchte.“
„Ja, hat der irgendwas, ich meine eine Behinderung oder so? Der könnte sich doch auch selbst was machen“, wage ich einzuwerfen doch die Alte winkt energisch, fast von erschrocken ab: „Um Himmels Willen, da kennen Sie aber Wolfie nicht! Aber der hat nichts, der ist gesund, Gott sei Dank!“
Aus dem Wohnzimmer ertönt ein Scheppern und das Geräusch von zerbrochenem Porzellan. „Sehen Sie, jetzt ist er böse! Ich mach’ ihm schnell was“ und in Richtung des Wohnzimmers gewandt, ruft sie: „Wölfchen, Omi macht schon.“

Omi macht Wölfchen also noch zwei Brote, legt diese auf einen neuen Teller und bringt sie ihm. Als sie zurückkommt, hat sie die Scherben des ersten Tellers in der Hand und wirft diese in einen Mülleimer.
Inzwischen ist auch der Kaffee durchgelaufen und Frau Urban deckt den Tisch. Sie hat Zwiebelmuster-Porzellan. Und wenn ich Zwiebelmuster schreibe, dann meine ich jenes weiße Porzellan mit den blauen, verschnörkelten Linien, dass wir landläufig als Zwiebelmuster bezeichnen, das aber in Wirklichkeit das Muster „Indisch Blau“ zeigt. Denn im richtigen Zwiebelmuster sind eben auch die namensgebenden Zwiebeln angedeutet, wobei es sich in Wirklichkeit eigentlich um Granatäpfel handelt.

Aus dem Kämmerchen holt sie den versprochenen Pflaumenkuchen, der mit seiner dicken Streuselkruste ganz verlockend aussieht. Über die Schulter ruft die Frau ins Wohnzimmer: „Wolfie, es gibt Kuchen!“
Aus dem Wohnzimmer tönt es: „Noch zwei Minuten, ich guck‘ schließlich meine Serie!“
Sie lächelt mich an und meint: „Ach, der Junge, den ganzen Tag schaut der Fernsehen, das mag er so gerne.“

„Und sonst? Was macht er sonst so?“

„Ach, der hat so viel Pech gehabt. Schon siebenmal hat er eine Ausbildung angefangen und ist immer gemobbt worden. Ich weiß ja nicht genau, was das ist, das mit dem Mobbing, aber das muss ganz schlimm sein und Wolfie hat da immer viel Pech mit gehabt. So viel Pech, so viel Pech…“

Und dann, dann steht der Pechvogel auf einmal in der Küche.
Ein großer, teigiger, etwas dicklicher Mann von etwa 30 Jahren, mit einem dünnen Dreitagebärtchen. Bekleidet ist der Luft-Rufer mit einem weißen Jogginganzug, der über und über mit goldenen Ornamenten und Kronen bedruckt ist. Die Füße des Mannes stecken in 300-Euro-Sneakern und am Handgelenk der linken Hand prangt eine goldfarbene Rolex-Armbanduhr, die so nach Rolex aussieht, dass man sofort erkennt, dass sie nicht echt ist. Am Handgelenk der rechten Hand tummeln sich an die fünf bis sechs ebenfalls goldfarbene dicke Panzerarmbänder, die der Typ aber sicherlich auch braucht, weil die dicke Rolex sonst einseitig zu einem gewissen Ungleichgewicht führen würde.

Merkt man es, dass mir Wolfie sogleich unsympathisch ist?

Er nimmt überhaupt keine Notiz von mir, zumindest schaut er mich nicht an und an eine Begrüßung ist überhaupt nicht zu denken. Breitbeinig setzt er sich auf einen Küchenstuhl, nimmt sich rund ein Viertel vom Pflaumenkuchen und schlürft hörbar seinen Kaffee.
„Iss nur tüchtig, mein Junge!“, sagt Frau Urban lächelnd und streicht ihm liebevoll über die Hand. Er schüttelt die Hand seiner Oma ab, schaut sie unwillig an und deutet dann, ohne mich anzuschauen, mit der Kuchengabel auf mich: „Was will der hier?“

„Das ist der Herr vom Bestattungsinstitut, wegen meiner Vorsorge, damit ich anständig unter die Erde komme. Du weißt doch, da hatten wir doch drüber gesprochen.“

Dann endlich blickt Luft-Wolfie in meine Richtung. Um seinem Mund spielt ein verächtlicher Zug und er schaut mich mit einem überheblichen Gesichtsausdruck von oben bis unten an. Dann wendet er sich wieder ab und fuchtelt seiner Oma mit der Kuchengabel vor dem Gesicht herum: „Damit eins klar ist, die Wohnung krieg ich!“

„Aber Wölfchen, du weißt doch, wenn ich mal die Augen zumache, dann erbst du alles! Und meine Beerdigung ist dann auch schon bezahlt.“

„Und da kümmert der da sich drum?“, fragt Wölfchen schmatzend und deutet mit der, man kann es sich denken, Kuchengabel in meine Richtung.

Ich tue die ganze Zeit geschäftig und mache mir sinnlose Notizen, nur, um den Unsympath nicht anschauen zu müssen. Zwischendurch esse ich etwas vom Pflaumenkuchen und trinke Kaffee. Doch Wolfie beschließt, sich nun doch an mich zu wenden und fragt mich: „Was soll der Spaß denn kosten?“

Ich schaue ihn an und versuche, so gelangweilt wie möglich zu schauen und meine: „Der Spaß? Hier geht es um die Beerdigung von Frau Urban, das ist doch kein Spaß.“

Wolfie lacht schallend laut und ruft mit einer Art höhnischer Begeisterung: „Für mich schon, ich bin doch dann nicht tot!“

Insgeheim wünsche ich mir, es möge Thors Hammer aus dem Himmel direkt auf seinem Kopf einschlagen und damit seine Worte auf der Stelle Lügen strafen. Alternativ könnte ich mir vorstellen, dem schwabbeligen Großmaul mit einer Kettensäge… Aber lassen wir das.

Ich kann gar nicht sagen, wie mich dieser Mann anekelt. Aber mich geht es letztendlich nichts an, ich bin nur aus einem geschäftlichen Anlass da und sozusagen zu Besuch. Seine Oma kommt ja offenbar mit seinem vorlauten Verhalten gut klar und liebt ihn trotz alledem.
An diesem Nachmittag schlucke ich eine endlose Kette von Sätzen herunter, die mir immer und immer wieder spontan auf der Zunge liegen. „Halt’s Maul, misch Dich nicht ein!“, das ist das, was ich mir ständig sage.

So zwei, drei Kleinigkeiten sind noch mit Frau Urban zu klären, dann werde ich sowieso wieder gehen. Also wende ich mich an die Frau und lasse Wolfies Frage nach den Kosten unbeantwortet. Ihn interessiert es auch nicht weiter und er lässt die Kuchengabel scheppernd auf den Teller fallen. Mit einem quietschenden und schabenden Geräusch schiebt der Jogginganzug-Mann seinen Stuhl nach hinten, steht ächzend auf und streckt sich laut gähnend.
Mit einem Griff zu einem Wandschalter setzt er den Deckenventilator in Bewegung. „Mir is‘ warm“, kommentiert er das. Langsam und klackernd nimmt der Ventilator Fahrt auf, die daran hängenden Fliegenfänger werden wie klebrige Schleppen durch die Luft gezogen und es regnet tote Fliegen auf den ganzen Tisch.
Gott sei Dank bin ich mit dem Kuchen und dem Kaffee fertig.

Ich rücke mit dem Stuhl etwas vom Tisch ab und lege die Unterlagen auf meinen Schoß.

Aus einem Regal nimmt er ein altes Gurkenglas und stellt es auf den Tisch. In dem Glas befinden sich irgendwelche Späne und obenauf ein Nagelclipser.
Ruckzuck hat Wölfchen seine Sneaker ausgezogen, Socken trägt er keine.
Dann holt er den Nagelclipser aus dem Glas und beginnt sich ächzend seine Fußnägel zu schneiden.

In dem Moment, in dem er seine Füße aus den Sportschuhen gezogen hat, beginnt sich ein Gestank in der Küche zu verbreiten, der nicht mit Worten zu beschreiben ist. Wenn ich es doch versuchen wollte, würde ich zuerst an eine Mischung aus vergorener Mülltonne und Stinkbome denken.
Mir wird schlecht.

Oma Urban sagt: „Wölfchen sammelt seine Fußnägel. Schauen Sie mal, wie viel er schon hat!“ und deutet auf das Gurkenglas.

Der Pflaumenkuchen beginnt, am Zäpfchen zu kitzeln.

Und dann kommt der Moment, in dem ich meine Tasche packe, Frau Urban meine Visitenkarte gebe und sie bitte, in den nächsten Tagen mal bei uns vorbeizuschauen: Wolfie fährt sich mit dem Zeigefinger zwischen seine Zehen, puhlt da herum und führt den Finger dann jedes Mal an die Nase, um am Ergebnis seiner Fußhygiene zu riechen.

Bildquellen:
  • wolfie: Peter Wilhelm ki


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 12 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 15. August 2024

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6 Kommentare
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Mafdet
3 Monate zuvor

Urk. Wie widerlich. Die arme Omi.

Tia
Reply to  Mafdet
3 Monate zuvor

Die alte Dame fand das doch gut so, also was solls?

Ich hätte mich direkt über die Stinkfüße übergeben! Und hätte auf dieses Geschäft verzichtet, nette alte Dame hin oder her, mein Magen ist zu empfindlich um durch diese Situation ohne spontane Entleerung durch die Vordertür überstehen zu können.

Nobody
3 Monate zuvor

WTF?! War das jetzt wirklich nötig…?! Da schüttelt es einen unweigerlich… 😀

maolehn
3 Monate zuvor

die Geschichte und der arme Bub erinnert mich an wenig an „Petra – keine Ahnung“ Luuuft!

https://bestatterweblog.de/petra-keine-ahnung/

Wahrscheinlich wird sie auch so oder ähnlich enden.

Henning
3 Monate zuvor

DER wird sich noch umschauen, wenn sein „Luft!“ eines Tages ungehört verschallt….




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