Geschichten

Der kommt heute nicht

Ein ganz normaler Sterbefall. Eine alte Dame ist mit 83 Jahren verstorben, sie hat nicht leiden müssen, ist einfach eingeschlafen. Manchmal sind die Trauerfeiern für so ein altes Mütterchen eine etwas trostlose Angelegenheit, es kommen oft nicht viele Leute.
Die Alten sind eben die Armee der Unsichtbaren und in der Regel nicht die hyperaktiven „Silverager“, die auch hochbetagt noch vital und sportiv richtig viel Freizeitaction machen.
So kommt es, daß bei mancher Beerdigung der Pastor und die Meßdiener oder die Sargträger und der Bestatter die einzigen Trauergäste sind.

Doch bei diesem Sterbefall ist das anders, die Verstorbene hatte Kinder, Enkel und war bis zuletzt in ihrer Wohnung geblieben, so daß auch Nachbarn und ein paar Bekannte gekommen sind.
Sie sitzen alle in der Trauerhalle, so an die 30 Personen.

Der Friedhofswärter legt seine Zigarre draußen mal eben auf der Fensterbank ab, klopft sich seine graue Uniform zurecht, setzt das feierlichste Gesicht auf, zu dem er in der Lage ist, geht gemessenen Schrittes durch die seitliche Tür zum Sarg und zündet die dicken Kerzen an.
Es ist der stets gleich Ablauf, gleich wird die Totenbimmel oben auf der Friedhofskapelle ein paar Mal blechern läuten, das Zeichen für alle Friedhofsbesucher, daß bald ein Neuer die irdenen Reihen bewohnen wird.

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Pastor Lämmle ist dran, der kommt immer mit einem uralten VW-Variant und bringt zwei etwas in die Jahre gekommene Meßdiener mit, wovon einer immer einen Stab mit einem Kreuz trägt und der andere mit Weihrauch hantiert.
Lämmle kommt immer auf den letzten Drücker, ist aber allenthalben sehr beliebt, denn seine Ansprachen sind sehr persönlich und einfühlsam.

Die Bimmel ist verklungen, der Organist beginnt sein quäkendes Spiel, das eher der schlecht gewarteten Orgel als seinen Spielkünsten geschuldet ist und…

…und dann kommt der Dicke mit der Zigarre vorne seitlich durch die Tür, besinnt sich kurz, kehrt um, legt die Zigarre wieder draußen aufs Fensterbrett und schaut sich ratlos in der Trauerhalle um. Dann treffen sich unsere Blicke.
Ich stehe hinten beim Kondolenzpult, zähle gerade die Anwesenden durch, da winkt er.
Ich nicke in Richtung Ausgang, gehe hinaus und der Dicke hechelt um die Halle herum, wir treffen uns.

„Tot!“ ruft er mir entgegen.

Hat er jetzt, nach 15 Jahren begriffen, wo er arbeitet?

„Tot!“ ruft er nochmals.

„Häh?“ mache ich und ganz außer Atem sagt er: „Der Pastor Lämmle ist tot. Gerade hat die Frau vom Pfarramt angerufen, der ist heute morgen einfach nicht mehr aufgestanden. Der kommt heut‘ nicht.“

Und jetzt? In der Halle quält sich der Organist schon durch das zweite Stück und ich ahne, daß er nach dem dritten Stück lautstark den Orgelkasten zuklappen, seine Noten zusammenpacken und die Orgelempore verlassen wird.

Ja, einen Pfarrer, der über einer guten Erbsensuppe den Termin für eine Beerdigung vergessen hatte, das hatten wir schon mal. Den hat man dann aber, wenn auch verspätet, noch holen können.
Aber Pastor Lämmle ist tot, was nun?

Der Dicke klatscht sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Hat er eine Eingebung, eine Idee? Nein. Er sagt: „Ach Gott, isch hebb mei‘ Zigarr‘ vergesse‘!“, läuft fort und holt den braunen, zerkauten Stengel.

Rauf auf die Orgelbühne, dem Organisten schnell zugeflüstert, was passiert ist, er hat Verständnis, spielt erst mal weiter.
Dann vor zum Sohn der Verstorbenen, kurzes Getuschel, Betroffenheit, Ratlosigkeit. Ich beruhige Leute, sage ihnen, sie sollen erst mal sitzen bleiben.

Eine Idee, was man machen könnte habe ich nicht.
Im Notfall stelle ich mich selbst vorne hin und halte die Traueransprache, ein bißchen was weiß ich ja über die Verstorbene.

Wieder stehe ich mit dem Friedhofsverwalter vor der Kapelle, da sehen wir eine Trauergesellschaft vom Friedhof kommen. Gerade eben hat man jemanden zu Grabe getragen.

„Des sind so Zeugen Jehovas“, sagt der Dicke und macht eine wegwerfende Handbewegung.

Die Leute haben uns erreicht und eine Frau hat das mit den Zeugen Jehovas gehört. „Nein, sind wir nicht. Wir sind von der Kirche…“, berichtigt sie den Dicken.

„Auch egal, jedenfalls habt ihr keinen Pastor und so einer fehlt uns gerade“, schneidet der Friedhofsmann ihr das Wort ab.

Ein Herr im dunklen Anzug wendet sich um und fragt: „Ist etwas passiert? Kann man Ihnen behilflich sein?“

Ich sage: „Uns ist der Pfarrer weggestorben und drinnen sitzt eine Trauergesellschaft und möchte ihre Oma zu Grabe tragen.“

„Wenn’s recht ist, mache ich das gerne“, sagt der Mann.

Wieder tuschele ich mit dem Sohn der Verstorbenen. Er ist erleichtert, ihm ist es egal: „Sie wissen doch, wir haben sowieso überlegt, ob wir einen freien Prediger nehmen oder den Pastor. Meine Mutter hatte ja so ihre Probleme mit der Kirche, also jetzt so mehr mit den Pastören und so. Wenn der Mann das machen will, das wär‘ doch gut.“

Der Mann im dunklen Anzug lächelt nur milde, hebt kurz die Schultern und meint nur: „Was soll’s?“

Er stellt sich der Trauergemeinde als Bischof Kruse vor und aus Gründen höherer Gewalt übernehme er stellvertretend die Beerdigung.
Ja, er habe die Verstorbene nicht gekannt, das schicke er gleich voraus, aber die Frau sei im gleichen Alter gewesen wie seine Mutter und so könne er sich ungefähr vorstellen, wie der Lebensweg verlaufen sei.
Er spricht nur kurz über Gott und Religiöses, weiß aber genau den Nerv der Zuhörer zu treffen und man hat schließlich doch den Eindruck, als habe er die alte Dame im Sarg schon lange gekannt.

Er betet das Vaterunser, schließt dabei die Augen und verschränkt die Arme vor der Brust, dann schaut er die Trauergäste an und lädt sie mit einer freundlichen Geste ein, ihm und dem Sarg zu folgen.
Am Grab überläßt er alles zunächst den Friedhofsarbeitern, die den Sarg gekonnt und schnell im Grab versenken.

Dann spricht er nochmals mit ruhiger und freundlicher Stimme zu den Menschen, schaut in den Himmel und sagt dann auswendig zwei Psalme auf.

Anschließend tritt Bischof Kruse vor, gibt jedem Trauergast die Hand, nennt jede Frau Schwester und jeden Mann Bruder, er sagt jeweils nur nickend diese Worte „Bruder“ oder „Schwester“, dann tritt er beiseite, damit die Leute ihr Schäufelchen voll Erde ins Grab werfen können.
Als alle fertig sind, ist der Mann schon gegangen.

Die Schwiegertochter der Verstorbenen kommt mit zwei Mädchen im Jugendalter zu mir und sagt: „Das war sehr schön, so schön, vielen Dank.“

Ich habe zu danken, Bischof Kruse.

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(©si)