Am Ende einer engen Gasse lag der Friedhof mit der Leichenkapelle der kleinen Stadt. Die Kapelle verbreitete unter dem grauen Schleier der Dämmerung eine schaurige Aura. Die nebelverhangene Nacht wirkte wie eine stille Mahnung an die vergängliche Natur des Lebens.
Einige Straßen vom Friedhof entfernt lag ein Bestattungshaus. Spätabends tauchte ein mysteriöser Mann mit einem breitkrempigen Hut in dem düsteren Eingang des Bestattungshauses auf.
Der Bestatter blickte auf, als die schwere Eichentür quietschend aufging. Der Mann mit dem Hut trat ein, und der Klang seiner abgeschabten Stiefelsohlen hallte durch den leeren Flur. Das schwache Licht in der Eingangshalle warf gespenstische Schatten auf die Wände.
„Ich hörte, Sie seien der beste Mann in der Stadt, wenn es um die letzte Ruhe geht“, sagte der Mann mit einem rätselhaften Lächeln, während er seinen Hut lüftete und ihn dann wieder tief ins Gesicht zog.
„Ja, das bin ich wohl“, erwiderte der Bestatter mit einem Stirnrunzeln. „Wie kann ich Ihnen helfen? Haben Sie einen traurigen Anlass, der Sie zu dieser späten Stunde hierherführt?“
Der Mann nickte bedächtig und trat näher. Seine Augen waren von einer undurchdringlichen Dunkelheit, die die Finsternis der Nacht zu reflektieren schien. „Ich suche nach dem Mann, der im Schatten lebte und im Geheimen handelte. Er soll hier auf dem Friedhof in der Kapelle liegen und Sie sollen den Schlüssel dafür haben.“
Der Bestatter, fasziniert und zugleich verunsichert von der Präsenz des Fremden, holte den Schlüssel für die Kapelle aus seiner Schreibtischschublade, nickte dem Fremden auffordern zu und schritt langsam voran. „Folgen Sie mir“, sagte er und führte den Mann durch die schmalen Gassen zum Friedhof.
Schließlich erreichten sie die kleine, schaurig wirkende Leichenkapelle. Der Bestatter schloß auf und die beiden Männer betraten einen kleinen Raum, der von Kerzen erleuchtet wurde. In der Mitte stand ein Sarg, umgeben von mysteriösen Symbolen und Ornamenten. Der Mann mit dem Hut verharrte einen Moment und schien in Gedanken versunken zu sein.
„Das ist der richtige Ort“, sagte er schließlich, sein Blick fixiert auf den Sarg. „Hier will man, dass er ruhen soll, weit weg von den neugierigen Augen der Welt. Doch der Mann im Schatten hat noch viel zu erledigen. Noch braucht er keinen Ort im Dunkelsten.“
Der Mann mit dem Hut öffnete den Sarg. Darin lag ein Mann, der bis zur Hüfte von einem schwarzen Tuch bedeckt war.
Der Tote war ein alter Mann mit einem strengen Gesichtsausdruck. Sein Haar war grau und sein Bart lang und zottelig. Er trug einen schwarzen Umhang und einen Talisman um den Hals.
„Wer ist das? Ein Verwandter von Ihnen?“, erkundigte sich der Bestatter.
„Er war ein mächtiger Mann“, sagte der Mann mit dem Hut. „Er hatte Geheimnisse, die die Welt nicht kennen durfte. Er war ein Mann des Schattens, und er soll hier ruhen, wo seine Geheimnisse für immer verborgen bleiben. Aber seine Zeit ist noch nicht gekommen.“
Dann beugte sich der Fremde zum Bestatter hinüber und erzählte mit montoner Stimme:
„Die Geschichte dieses Toten, der hier in diesem mysteriösen Sarg liegt, begann weiter entfernt von hier in einem unbedeutenden Dorf am Rande des Odenwaldes. Dort leben kaum 30 Menschen und es scheint so, als ob alle anderen den Ort gemieden haben, weil es seit zweihundert Jahren Gerüchte über alte Mächte und düstere Geheimnissen gab.“
„Was erzählen Sie denn da?“, sagte der Bestatter erstaunt und auch ein wenig ungläubig.
„Der Tote, dessen Name längst in den Winden des Vergessens verweht ist, hatte sein Leben ein paar Kilometer von diesem abgeschiedenen Dorf in einem Haus im Wald verbracht. Die Menschen mieden ihn, er galt als Mann des Schattens, der in den finstersten Winkeln des Waldes verborgene Rituale vollzog und mit den Geistern der Natur kommunizierte. Man wagte nur in geflüsterten Geschichten über ihn zu sprechen und sein Anblick war ebenso selten wie ein Sonnenstrahl in der dunkelsten Nacht.
Die einen behaupteten, er stünde mit dem Teufel im Bunde, andere hielten ihn für einen Hexer und es gab welche, die ihm eine heilende Wirkung zusprachen. Jedenfalls war in dem Dorf seit hunderten von Jahren niemand ernsthaft krank geworden. Alle Menschen dort leben besonders lang und sterben schließlich eines natürlichen Todes.“
Der Bestatter lachte unwillentlich laut auf: „So etwas gibt es doch gar nicht! Seit Jahrhunderten? Wie alt soll der denn sein?“
„Ich sagte doch, er war der Mann des Schattens und des Dunklen.“
„Ich glaube Ihnen zwar kein Wort, aber ich bin jetzt doch neugierig“, sagte der Bestatter“, „erzählen Sie weiter!“
„Eines Tages geschah etwas Unvorhergesehenes. Der Mann des Schattens, der wohl 200 Jahre oder mehr gewirkt hatte, verschwand spurlos. Zuerst bemerkte keiner, dass er weg war, denn er lebte zu abgeschieden und die Leute mieden ihn ja. Aber dann trug es sich zu, dass einer nach dem anderen krank wurde.
Die Leute schickten einen Bauern aus, um nach dem dunklen Mann zu sehen, doch man konnte ihn nicht finden. Sein Haus war leer und es war, als ob er vom Schatten selbst verschlungen worden wäre. Die Dorfbewohner wagten es aber nicht, im Wald nach ihm zu suchen, aus Angst vor den unerklärlichen Kräften des Schattenmannes.
Monate vergingen, und die Legende des verschwundenen Mannes blieb in den Herzen der Dorfbewohner. Bis zu dem Tag an dem eine Fremde mit langen grauen Haaren in das Dorf kam. Ihr Gesicht war von einer undurchdringlichen Dunkelheit verhüllt, und Ihr Blick schien tief in die Seelen der Menschen zu dringen.
Die Fremde erkundigte sich nach dem Schicksal des Mannes des Schattens. Die Dorfbewohner, von Furcht ergriffen, wagten es kaum, zu antworten. Doch dier Grauhaarige lächelte rätselhaft, denn sie verstand auch die Sprache des Schweigens und der Ängste.
Sie machte sich auf in den Wald, um nach dem Mann des Schattens zu suchen. Nach vielen Tagen fand sie ihn. Er war tot und sein verwesender Leichnam lag auf einer dick mit Moos bewachsenen Lichtung.
Mit einem geheimnisvollen Ritual, das in den Schatten des Waldes stattfand, schaffte es die Fremde den Toten vom Fluch der Verwesung zu befreien. Sie beschwor die vergessenen Mächte, die der Mann des Schattens einst beherrschte, und schuf eine Verbindung zwischen den Welten der Lebenden und der Toten. So schaffte sie es, dass der Tote ohne ein Zeichen des Verfalls ins Dorf geholt werden konnte.
In einem feierlichen Zug begleiteten die Dorfbewohner eine Trage mit dem Toten vom Wald bis zum Dorfplatz des kleinen Ortes. Die nebelverhangene Nacht schien die Rückkehr des Toten zu begrüßen, während die Fremde den Leichnam mit dunklen Symbolen und Ornamenten schmückte. Ohne dass es die Dorfbewohner bemerkten verschwand die Frau durch die engen Gassen des Dorfes ins Unbekannte.
Die Nacht war still. Der Mond hing hoch am Himmel und beleuchtete die Stadt in einem silbernen Licht. Die Leute legten den toten Schattenmann in einen Sarg und ließen diesen hier auf den Friedhof bringen.“
In dem abgeschiedenen Raum, in dem der Sarg stand, war es unheimlich still. Die Kerzen flackerten im Wind, und die Schatten an den Wänden bewegten sich.
Der Bestatter schüttelte den Kopf und meinte: „Sie erzählen einen ganz schönen Unfug. Wissen Sie was? Mir scheint das alles einer ziemlich kranken Phantasie zu entspringen. Dafür ist mir meine Zeit zu schade. Ich habe Ihnen aufgeschlossen, meinetwegen können Sie sich noch vom Verstorbenen verabschieden. Ich gehe jetzt. Ziehen Sie nachher nur die Tür fest hinter sich zu!“
Mit diesen Worten ging der Bestatter und ließ den geheimnisvollen Fremden allein in der kalten Friedhofskapelle zurück.
Der Mann mit dem Hut wartete bis der Bestatter auch sicher verschwunden war. Dann ging er zum Sarg und blickte hinein.
„Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Einst wurdest Du verflucht, ewig in Einsamkeit zu leben. Schande und Demütigung solltest Du erleiden. Aber Du musstest ja heilen, Du musstest ja die Menschen vor Pest und Seuchen bewahren. Nur deshalb hast Du es geschafft, den Tod gnädig zu stimmen und Dich zu holen. Aber ich bin gekommen, um Dich daran zu erinnern, dass Deine Strafe ewig währt!“
Der Tote lag regungslos im Sarg. Seine Augen waren geschlossen, und sein Gesicht war ausdruckslos.
Der Mann mit dem Hut beugte sich über den Sarg und legte seine Hand auf die Stirn des Toten. Er murmelte Sätze in einer unbekannten Sprache und wiederholte sie fast eine Stunde lang.
Plötzlich öffnete der Tote seine Augen. Sie waren hell und gleißend, und sie strahlten eine unheimliche Kraft aus.
Der Mann mit dem Hut wich zurück.
Angst war in seinem Gesicht zu erkennen, denn er wusste, dass er in Gefahr war.
Der Tote erhob sich aus dem Sarg und stand auf. Er war größer und mächtiger als der Mann mit dem Hut.
„Wer bist du?“, fragte er den Mann mit dem Hut.
„Ich bin der, der Dir die Ruhe des Todes nimmt.“
„Ich bin derjenige, der hier ruhen soll“, sagte der Tote. „Ich bin derjenige, der im Schatten lebte und im Geheimen handelte. Wer mich in meiner Ruhe stört, die ich so lang ersehnte, der ist des Todes.“
Der Mann mit dem Hut wusste, dass er nicht gegen den Schattenmann gewinnen konnte. Er drehte sich um und rannte aus dem Raum.
Der Tote folgte ihm. Der Mann mit dem Hut hörte die Schritte des Schattens hinter sich und spürte seinen Atem im Nacken.
Er rannte durch die Gassen der Stadt und wusste nicht, wohin er laufen sollte. Er war in Panik.
„Du kannst nicht entkommen“, rief ihm der Schatten hinterher.
Der Mann mit dem Hut rannte weiter. Er rannte, bis er nicht mehr konnte. Er rannte, bis er glaubte, die Dunkelheit würde ihm Schutz bieten. Schwer atmend lehnte er an einer Hauswand. Doch plötzlich legte sich die Hand des Schattenmannes auf seine Schulter.
Ein gellender Schrei hallte durch die Nacht.
Was aus dem Mann mit dem Hut wurde, ist nicht bekannt. Manche sagen, dass er den Tod fand. Andere sagen, dass er sich in die Dunkelheit zurückzog, um dem Toten zu entkommen.
Was aber sicher ist: Die Leichenzelle in der Friedhofskapelle ist seitdem ein Ort des Gruselns. Wann immer der Bestatter dort hin musste, glaubte er dort die Anwesenheit des Übernatürlichen zu spüren. Jedenfalls flackern seitdem alle Kerzen, obwohl es keinen Luftzug gibt.
Es ist, als ob auf diese Weise die Mächte der Vergangenheit grüßen, und sie erfüllen die Luft mit einer Aura des Unbekannten.
Was aus dem Schattenmann geworden ist, weiß keiner so genau. Jedenfalls ist neuerer Zeit in dem abgelegenen Dorf am Rande des Odenwaldes jeder wieder gesundet und niemand mehr erkrankt.
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Eine schöne Geschichte. Gut geschrieben. Bei der Frau musste ich unwillkürlich an „Elvira – Mistress of the Dark“ denken. Auch wenn die keine grauen Haare hatte. Hätte aber gepasst.