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Die Brücke III

Inzwischen hat die Beisetzung von Jens Eisner stattgefunden. Jens ist der junge Mann, der von der Brücke gesprungen war und seine Eltern hatten sich für eine Feuerbestattung und Urnentrauerfeier entschieden. Am Tag der Beisetzung stand die Messingurne vorne in der Trauerhalle des Friedhofs auf einer blumengeschmückten Säule.
Im Laufe des Morgens waren noch etliche Blumenspenden eingetroffen, deutlich mehr als das Ehepaar Eisner erwartet hatte. So deutete sich für uns schon an, daß da mehr Leute kommen würden, als ursprünglich angenommen.

Etwa zehn Leute standen etwas abseits in einer Gruppe und hatten einen Kranz dabei. Die Kranzschleife wies sie als Arbeitskollegen von der Stadtverwaltung aus. Das waren also die Leute, die Herr Eisner auf keinen Fall bei der Trauerfeier dabei haben wollte.
Wir hatten keine entsprechenden Instruktionen und deshalb bestand für uns keine Veranlassung, die Leute wegzuschicken. Ich blickte ein paar Mal zu Herrn Eisner hinüber und bemerkte, daß er die Leute angeschaut und wahrgenommen hatte. Wenn er nichts unternahm, warum sollten wir uns einmischen?

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Mir haben schon einige Leute per Mail geschrieben, wie es sich denn der Bestatter anmaßen könne, über die Teilnahme an der Trauerfeier zu entscheiden. Macht er ja gar nicht. Jeder Bestatter ist froh, wenn die Feierlichkeiten reibungslos und ohne größere Störung ablaufen. Schon deshalb wird es ihm immer fernliegen, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Trauerfeier große Streitereien und Diskussionen auszulösen.
Aber manchmal gibt es eben so Fälle, da möchte man bestimmte Leute nicht dabei haben, weil von ihrer Teilnahme, eben die Störung der Feierlichkeiten zu erwarten wäre.
In unserer eigenen Feierhalle habe ich sowieso das Hausrecht. In den Trauerhallen auf den Friedhöfen ist es so, daß wir notfalls stellvertretend für den Auftraggeber das Hausrecht wahrnehmen und erforderlichenfalls auch mit Polizeigewalt durchsetzen.
Anders als viele glauben, sind Trauerhallen keine öffentlichen Gebäude, sondern Zweckgebäude, die den Betroffenen gegen Bezahlung für einen bestimmten Zweck zur Verfügung gestellt werden.
Und Trauerfeiern sind schon gar nicht öffentlich, sodaß jeder das Recht hätte oder einen Anspruch darauf hätte, da einfach teilzunehmen.

Normalerweise wird man aber selbst dann als Angehöriger kein Theater machen, wenn zur Trauerfeier auch unliebsame Gäste kommen. Das nimmt man hin, ärgert sich vielleicht darüber, daß „ausgerechnet der die Stirn hatte, da aufzutauchen“, macht aber weiter keinen Wirbel. Besser ist das so.

Am Allerbesten ist es, wenn die Hinterbliebenen solche Erwartungen vorher ansprechen. Dann kann ein umsichtiger Bestatter schon viel tun, um die Konfliktparteien zu trennen, etwa durch geschickte Plazierung in der Trauerhalle, das Reservieren von Sitzreihen und
Wir hatten uns schon in der Firma darüber unterhalten und jeder hatte eigene Vermutungen, was wohl die Hintergründe für den Todessprung von Jens gewesen waren.

Die Gäste hatten Platz genommen und die Trauerfeier stand kurz vor dem Beginn, da stand einer der Männer aus dem Kreis der Arbeitskollegen von seinem Platz in der vordersten Reihe der linken Seite auf, knöpfte sich sein Jackett zu, zückte ein kleines weißes Zettelchen und ging zu Herrn Eisner.
Dann stellte er sich steif vor diesem auf und sprach kurz mit ihm. Aha, dachte ich, das wird wohl einer der Kollegen oder eventuell sogar einer der Vorgesetzten sein, der nun anfragt, ob er eine kurze Rede halten darf. Ich wußte ja, daß die Eisners ein gespanntes Verhältnis zur Arbeitsstätte ihres Sohnes hatten und schaute neugierig hinüber. Was würde Herr Eisner tun?

Nun, ich hatte damit gerechnet, daß Eisner kurz und heftig den Kopf schüttelt, immerhin hatte er von der Stadtverwaltung überhaupt niemanden bei der Trauerfeier sehen wollen und so konnte ich mir nicht vorstellen, daß er es gerne gesehen hätte wenn einer von denen auch noch Teil der Trauerzeremonie geworden wäre. Was dann aber geschah, ja damit hatte selbst ich nicht gerechnet. Herr Eisner stand ebenfalls auf, knöpfte sich in Seelenruhe einen Knopf seiner Anzugjacke zu und dann, man konnte es kaum sehen, so schnell ging das, zuckte sein rechter Arm vor und der Arbeitskollege des Verstorbenen bekam einen stumpfen Fausthieb auf die empfindliche Stelle zwischen Brust und Bauch und sackte innerhalb von Sekundenbruchteilen mit verdrehten Augen nach hinten, setzte sich auf den Hosenboden und kullerte dann fast wie in Zeitlupe auf die Seite und blieb kurz vor einem der Kränze regungslos liegen.

Die Trauergäste waren aufgesprungen, kaum einer hatte richtig mitbekommen, was passiert war und alle tuschelten. Von Halblinks hörte ich, da sei einer ohnmächtig geworden, von Rechts hieß es, ein Betrunkener sei umgefallen und von hinten fragte eine ältere Dame: „Ist der jetzt auch tot?“

Ich eilte nach vorne, einer der Friedhofsangestellten kam ebenfalls dazu und gemeinsam kümmerten wir uns um den ‚Gefallenen‘, der nach ein par Sekunden der Orientierungslosigkeit wieder zu sich kam und stöhnend in die Runde blinzelte. Wir brachten den Mann raus in den Gang bei den Leichenzellen und setzten ihn dort auf den Stuhl. Währenddessen drang tumultartiges Rufen und Schreien aus der Trauerhalle an mein Ohr und mein Herz begann wie wild zu klopfen, Schweiß trat auf meine Stirn. Was, um alles in der Welt, war denn da los?

Als ich wieder in die Trauerhalle kam, sah ich folgendes Bild: Herr Eisner hatte sich eine der großen Wachskerzen die unangezündet am Rand der Halle in Reserve standen, geschnappt und war dabei, diese wie einen Prügel drohend über seinem Haupt zu schwingen und damit die Kollegen und Kolleginnen des Verstorbenen aus der Trauerhalle zu vertreiben: „Verschwindet bloß, heimtückisches Pack, scheinheilige Bande, ihr habt meinen Sohn in den Tod getrieben, ihr Mobber, ihr Menschenverächter, Schweine, Banditen…!“

Frau Eisner weinte, die übrigen Trauergäste tuschelten, aber keiner griff ein und so lang einem das Ganze im Nachhinein vorkommt, es hat nur ein paar wenige Sekunden gedauert, dann waren die Leute von der Stadtverwaltung aus der Trauerhalle verschwunden. Wortlos, ohne Widerworte und ohne Probleme, mit eingezogenem Kopf und hastig waren sie hinausgelaufen. Herr Eisner stellte die lange, dünne Kerze neben die Eingangstür, klopfte sich sinnbildlich den Staub von den Händen und nahm, seine schwarze Krawatte richtend, neben seiner Frau Platz und begann diese zu beruhigen.

„Es kann losgehen!“ gab ich dem hinter mir inzwischen aufgetauchten Friedhofsleiter das Kommando und er drückte auf einen Schalter an der Wand, woraufhin vom Band das erste Lied abgespielt wurde und Pfarrer Diepenholz, der von alledem vor lauter Vorbereitungsstreß nichts mitbekommen hatte, zog in die Feierhalle ein.

Als sei nichts gewesen, ließen die Eisners die Trauerfeier vorübergehen und anschließend soll weder von anderen, noch von ihm das Thema angeschnitten worden sein. Und trotzdem wurde natürlich überall heftig getuschelt und diskutiert.

Tage vergingen und mir war der Spott der städtischen Friedhofsangestellten sicher. Ob das Ernst-August von Hannover gewesen sei, wollte einer wissen und ein anderer forderte im Scherz eine Gefahrenzulage, wenn wir wieder so gefährliche Leute mitbringen…
Doch es kam der Tag, an dem die Eisners zu uns kamen, um die letzten Angelegenheiten zu besprechen und bei dieser Gelegenheit überreichte mir Herr Eisner eine Schachtel mit Pralinen (Antonia, wo sind die eigentlich?) um sich zu entschuldigen. Das sei sonst gar nicht seine Art, er habe noch nie jemanden geschlagen und trotzdem tue ihm der Vorfall an sich kein bißchen leid, nur daß wir vielleicht Ärger deswegen hätten.

„Was war denn da überhaupt los?“ wollte ich wissen und dann erzählten die Eisners abwechselnd folgende Geschichte:

Unser Sohn Jens ist etwas zurückgeblieben gewesen, aber verstehen Sie uns bitte nicht falsch, der war nicht behindert oder eingeschränkt, um Himmels Willen. Nein, der war als 18jähriger noch so ein ein 15jähriger, nicht von der Intelligenz her, sondern so von seinem kindlichen Wesen. Ein ganz Lieber, wissen Sie? Ein Netter, Freundlicher und stets Höflicher, das war der Jens.
Zurückgeblieben ist vielleicht auch nicht das richtige Wort, eher könnte man sagen, daß er dem ganzen Rummel den junge Leute oft so machen, eher skeptisch gegenüberstand und sich lieber mit Büchern beschäftigte und viel mit seinem Fotoapparat in der Natur unterwegs war. Wenn die anderen sich samstags zu einem Musikrummel verabredeten, zog er lieber durch den Wald und knipste Spechte und Eichhörnchen.
Manchmal haben wir uns sogar Sorgen gemacht und uns gefragt, ob mit dem was nicht stimmt, aber im Grunde war uns das so lieber. Er hat ja keinem was getan und niemandem geschadet und ihm hat es ja an und für sich auch nicht geschadet.

Auf der Arbeit bei der Stadtverwaltung war er damit aber ein Außenseiter, da heißt es ja jeden Tag ‚hoch die Tassen‘ und es gibt ja immer was zu feiern. Mal hat einer Geburtstag, mal wird jemand Vater und dann wird einer versetzt und am nächsten Tag muß ein Neuer seinen Einstand geben. Die saufen da wie die Löcher, das ist fürchterlich. Auch nach Feierabend gibt es für viele nichts anderes, als noch eben mit den Kollegen auf ein Bier in die Pinte zu gehen.
Ja und da hat Jens nie mitgemacht. Gut, seinen Einstand hat er gegeben und wenn für einen Geburtstag oder so gesammelt wurde, gab er auch immer was, aber diese Feierei, nee, das war nicht sein Ding. Und so kam es, daß es nicht lange dauerte, bis die anderen anfingen, ihn zu mobben. Früher hat man dieses Wort ja nicht gekannt, aber solche Situationen kennt vermutlich jeder und wahrscheinlich hat die auch jeder sogar schon einmal erlebt. Was die aber mit Jens gemacht haben, das war unter aller Kanone! Die haben ihn bei jeder Gelegenheit aufgezogen, haben ihn lächerlich gemacht und ständig über ihn gewitzelt. Das mag sich nicht so schlimm anhören, aber wenn das den ganzen Tag so geht, dann kann einen das schon mürbe machen.
Dann haben die angefangen, ihn auch vor den Bürgern lächerlich zu machen. ‚Dafür ist Kollege Nichtraucher zuständig‘ oder ‚Gehen Sie mal zu Herrn Muttersohn‘ haben die gesagt und sich schimmelig gelacht. Daß die dem die Luft aus den Autoreifen gelassen haben, das war nur der Auftakt für eine ganze Serie von üblen Streichen. An seinem Bürostuhl haben sie eine Rolle abgemacht, ihm Kaffee mit fauligem Blumenwasser gebracht und einen Tag haben sie Jens in der Herrentoilette in einer der Kabinen eingesperrt. Drei Stunden war er da drin und erst dann ist der Hausmeister gekommen und hat ihn befreit.
So ist das viele Monate gegangen und Jens ist daran kaputt gegangen. Sie glauben nicht, wie gerne der zur Arbeit gegangen ist, am Anfang wenigstens, aber dann… Erst wurde er krank, richtig krank, Bauchschmerzen, Magenprobleme, Durchfälle, alles nur psychosomatisch wegen seiner Kollegen. Dann hat er mit dem Personalrat gesprochen und ein Vorgesetzter hat ein Rundschreiben gemacht. Aber das hat die Sache nur verschlimmert. Schließlich mußte Jens sogar zum Psychotherapeuten, so haben die den fertig gemacht. Und wir glauben, daß der uns die wirklich schlimmen Sachen noch gar nicht erzählt hat. Ganze Wochen lang soll die ganze Abteilung ihn vollkommen ignoriert haben, die haben einfach so getan als sei er Luft. Sowas kann einen Menschen fertigmachen.

Unentwegt hat das Telefon in seinem Zimmer geklingelt und immer wenn er dran ging, wurde schnell aufgelegt. Immer wieder bekam er über das Intranet der Stadtverwaltung Mails, in denen ihm damit gedroht wurde, man würde sein ‚Geheimnis‘ verraten. Wir haben keine Ahnung, was das für ein Geheimnis hätte sein sollen, auch Jens wußte das nicht. Aber man kommt ja dann doch ins Grübeln und fängt an zu überlegen, was da gewesen sein könnte, was die anderen da wissen könnten… Aber uns ist nichts eingefallen.

Tja und dann war auf einmal wieder alles in Ordnung, die Kollegen taten so, als würden sie Jens wieder voll integrieren, waren ein paar Tage freundlich und nett zu ihm, nur um ihn dann, als er wieder Vertrauen gefasst hatte, wieder auflaufen zu lassen. Bei einem Ausflug, an dem er extra teilnahm, um seinen guten Willen zu zeigen, ließen sie ihn einfach an einer Autobahnraststätte stehen und lachten sich kaputt. Wir mußten dann 150 Kilometer fahren, um ihn da abzuholen.

So ging das die ganze Zeit und Jens ist daran kaputtgegangen…

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#brücke

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