Geschichten

Die Fee der Nacht -21-

Innerhalb von Minuten wimmelte der gesamte Flur der Villa Brockhagen von Polizisten.
Die sich heftig wehrende Frau von der Tratow hatte noch drei weitere, fertig aufgezogene Spritzen in der Jackentasche, verweigerte aber jede Aussage darüber, um was für ein Präparat es sich handelte.
Die Plastikkappen über den Kanülen waren nur leicht aufgesteckt, so genügte ein geschickter Druck mit dem Daumen, um sie wegspringen zu lassen.

Nathalie lag weiter regungslos da, keiner der Anwesenden konnte sagen, ob sie noch lebte oder nicht. Ein Puls war nicht mehr zu tasten und Petermann wurde fast verrückt, weil es ihm so lange vorkam, bis der Notarzt eintraf.

Während Frau von der Tratow Handschellen angelegt bekam, wozu drei kräftige Beamte nötig waren, kam endlich der Notarzt in seiner rotweißen Leuchtuniform, begleitet von zwei ebenso gekleideten Rettungsassistenten.

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„Weg da“ kommandierte der Arzt, kniete neben Nathalie und riß ihr ziemlich uncharmant das Oberteil entzwei.
Petermann und seine Kollegen starrten auf die bleiche junge Frau, der jede Farbe aus dem Gesicht gewichen war und beobachteten, wie der Notarzt ein EKG-Gerät anschloß und die Retter Infusionen vorbereiteten.
Nach bangen Sekunden schließlich nickte der Arzt Petermann zu und sagte: „Sie lebt, aber sie muß sofort in die Klinik. Wir müssen dringend wissen was in der Spritze war.“

Keine drei Minuten später war Nathalie auf einer Trage und wurde fortgebracht und Frau von der Tratow wurde ebenfalls fortgebracht, aber nicht in eine Klinik.

Kommissar Klaus Petermann schaute auf den am Boden liegenden Kaffeebecher und sagte zu seinen Kollegen: „Ich muß hier weg. Ich muß raus aus dieser Miefbude und brauche erst mal einen Kaffee.“

Zwei Stunden später sah die Welt für Klaus Petermann von einer Sekunde auf die andere vollkommen anders aus.
Eben noch hatte er im Keller der Villa Brockhagen eine Art Folterverlies entdeckt, Nathalie war von ihrer Gouvernante mit irgendeinem Gift zu Boden gestreckt worden, woraufhin Nathalie in die Klinik und Frau von der Tratow in Haft gekommen waren und eben noch hatte Petermann das Gefühl, der Lösung des Falls unmittelbar entgegen zu sehen und dann…

…dann polterte Kriminaloberrat Klotzhaug in Petermanns Büro und brüllte ihn mit hochrotem Kopf an:

„Sind Sie sich über die Konsequenzen im Klaren? Am Tag der Beerdigung seines Sohnes führen Sie eine Hausdurchsuchung durch und stellen alles auf den Kopf? Die Schwiegertochter im Krankenhaus und eine liebe Vertraute des Herrn Ministers in Haft? Ja, sind Sie denn noch bei Trost?
Die Frau kommt sofort wieder auf freien Fuß! Der Minister ist in dieser Minute beim Staatsanwalt und ich würde mich nicht wundern, wenn Sie das nicht Ihren Kopf kosten wird.“

Gut, damit hatte Petermann gerechnet und wenn er ehrlich war, dann amüsierte ihn der Auftritt seines Vorgesetzten eher. Dafür war Petermann schon zu lange im Geschäft und hatte schon so viele
Vorgesetzte überlebt. Auch dieser hier würde bald in Pension gehen und dann käme der Nächste.
„Hoffentlich ein Junger, die kann man besser in der Pfeife rauchen, junger Tabak stopft sich besser“, dachte Petermann und mußte unwillkürlich grinsen.

„Ihnen wird das Grinsen noch vergehen“, schimpfte Klotzhaug und wurde dann amtlich: „Sie setzen Frau von Tratow sofort wieder auf freien Fuß, verstanden?“

„Moment mal“, protestierte Petermann: „Ein halbes Dutzend Beamte sind Zeuge geworden, wie die Frau Nathalie Brockhagen irgendeine Substanz injiziert hat.“

„Ja und das mit gutem Recht! Frau von der Tratow hat der psychisch hochgradig labilen Frau ein Beruhigungsmittel gespritzt. Und warum die junge Frau Brockhagen so aufgeregt war, das liegt ja wohl klar auf der Hand. Da kann die Ärmste aufgrund Ihrer Probleme schon nicht an der Trauerfeier für ihren Mann teilnehmen und in dieser schweren Stunde des Schmerzes müssen Sie da wie ein Berserker herumtoben. Das wird sicher noch ein Nachspiel haben.
Die Frau kommt unverzüglich frei!“

Das alles war aber nicht das, was die Situation änderte.
Das was die Situation auch noch änderte war die Tatsache, daß Petermann bei seinen Kollegen nachfragte, in welchem Krankenhaus Nathalie Brockhagen untergebracht worden sei. Kurz darauf kam eine der älteren Kolleginnen zu ihm ins Büro und teilte ihm mit, die junge Frau Brockhagen sei nach wie vor ohne Besinnung gewesen, als sie ins Ludwigskrankenhaus eingeliefert worden war. Dort sei sie aber auf Betreiben des alten Brockhagen schon nach einer Dreiviertelstunde von einem privaten Krankentransportdienst wieder abgeholt worden.

„Was?“ rief Petermann: „Das kann doch nicht wahr sein!“

Entweder war Nathalie die Täterin oder das Opfer oder vielleicht auch beides in einer Person, aber es konnte doch nicht angehen, daß ihm die wichtigste Person in der ganzen Geschichte jetzt auch noch abhanden kam.

Aber auch das war noch nicht ganz das, was die Situation änderte. Das Verschwinden von Nathalie Brockhagen war nur die eine Hälfte, die andere spielte sich bei uns im Bestattungshaus ab.

Da war die Trauerfeier mit der anschließenden Beerdigung vollkommen reibungslos über die Bühne gegangen. Ich war extra mit auf den Friedhof gefahren, weil ich sicher stellen wollte, daß in diesem wichtigen Fall alles perfekt und korrekt ablief.
Am Ende der Beerdigung hatte der Fahrer von Brockhagen dem alten Herrn einiges zugeflüstert, woraufhin Brockhagen und seine Frau sehr schnell ihre große Phaeton-Limousine bestiegen hatten und verschwunden waren.

Ich kam ins Büro zurück und warf Frau Büser den Laufzettel auf den Tisch und natürlich wollten meine drei Damen vom Büro genau wissen, wie alles abgelaufen war. Ich schilderte die Trauerfeier in allen Einzelheiten und sagte zum Abschluß: „Schade nur, daß die Witwe nicht dabei sein konnte.“

Und dann sagte Antonia einen Satz, der mir für einen Moment das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Wie? Der war verheiratet?“

„Ja, wie jetzt? Ich hab Euch das doch alles von Nathalie Brockhagen und Roland Brockhagen erzählt.“

Frau Büser wehrte ab: „Nichts da, Sie haben immer nur von Nathalie und Roland erzählt, von der schönen Frau und dem toten Mann. Daß der auch noch ’ne Frau hat, das haben Sie nie gesagt.“

„Sagt mal, Mädchen, wollt Ihr mich jetzt für blöd verkaufen? Nathalie IST doch seine Frau!“

„Nee, Chef“, sagte Antonia und leckte sich ihre Finger ab, wischte sie am Hosenboden trocken und griff neben sich in den Aktentrog und holte kauend die Sterbefallakte Brockhagen heraus.
„Hier ist die Geburtsurkunde von Roland Brockhagen. Der war ledig. Die Urkunde ist im Familienbuch seiner Eltern abgeheftet.“

„Quatsch! Der war verheiratet. Mit Nathalie Brockhagen war der verheiratet. Kinders, was habt Ihr denn da wieder für einen Scheiß gebaut?“

Ich zog mir die Akte herüber und schaute die Unterlagen durch. Mit dem alten Ehepaar Brockhagen hatte ich nur die übrigen Formalitäten gemacht, das mit dem Stammbuch und den Sterbeurkunden vom Standesamt hatte alles Sandy übernommen.
Ein Blick genügte und ich sah, daß da alles von hinten bis vorne nicht stimmte.
Zunächst dachte ich, meine Bürodamen hätten den Toten mit einem falschen Familienstand beim Standesamt gemeldet, aber das geht doch gar nicht…
„Was habt Ihr da gemacht?“ fragte ich, der Verzweiflung nahe und Frau Büser brachte es auf den Punkt, indem sie mir das Familienbuch der Brockhagens wegnahm, eine Seite weiterblätterte und sagte: „Bitte schön, da ist der Eintrag von Nathalie. Nathalie ist Roland Brockhagens Schwester!“

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(©si)