Geschichten

Die Fee der Nacht -40-

Joachim Joswig, genannt Jojo, lehnte entspannt im bequemen Fahrersitz und ließ das glänzende Asphaltband der Autobahn unter sich hindurchgleiten. Die Straße glänzte, es hatte vor einer Viertelstunde zu nieseln begonnen.
Gerade hatte Ignaz, der hinter ihm flach auf dem Rücksitz lauerte, zu einem Angriff ansetzen wollen, da hatte sich der Journalist am Steuer vorgebeugt und den Schalter für die Scheibenwischer gesucht.
Da die schmalen und kurzen Wischerblätter des betagten Amischlittens den Schmierbelag anfangs nur mühsam über die Scheibe verteilten, war Jojo vornübergebeugt sitzen geblieben um besser sehen zu können.
Der Journalist hatte keine Ahnung, daß sich der Gefangene aus dem Kofferraum befreit hatte.
Daß das überhaupt möglich war, lag daran, daß Petermann, dem der grüne Chevy gehörte, die Polster und Bezüge vor zwei Jahren hatte aufarbeiten lassen. Da er vor hatte, eines Tages, wenn das sehr betagte Radio des amerikanischen Straßenkreuzers einmal komplett den Geist aufgeben würde, eine schöne Sound-Anlage einbauen zu lassen, hatte der Werkstattmann die sonst fest verbundene Hutablage nur mit Blechlaschen befestigt um später dort Lautsprecher einbauen zu können.
Das konnte Jojo aber nicht wissen und daran hatte Petermann auch nicht mehr gedacht, als sie den Heckenschützen Ignaz in den riesengroßen Kofferraum gesperrt hatten.

Jojo verschwendete überhaupt keinen Gedanken an Ignaz und wenn ihm jemand gesagt hätte, daß es möglich sei, daß eine Person über den Rücksitz aus dem Kofferraum ins Wageninnere kriecht und er nichts davon mitbekommen würde, dann hätte Jojo nur laut gelacht. Er hielt es für einen spannenden aber völlig unrealistischen Kunstgriff der Filmdramaturgie, daß arme hübsche blonde Mädchen immer nicht merken, daß der Messermörder hinter ihnen im Auto lauert.
Aber er sollte eines Besseren belehrt werden.

Werbung

Kommissar Petermann befand sich schon über hundert Kilometer näher am Ziel. Der Nieselregen störte den Piloten nicht weiter, hatte aber das interessante Gespräch zwischen ihm und seinem Passagier abbrechen lassen, er mußte sich konzentrieren.
Petermann genoß den Flug, so oft bekam ein Kriminalhauptkommissar aus der Abteilung Leib und Leben nicht die Gelegenheit, in einem Hubschrauber mitfliegen zu dürfen. Nur nach unten schauen mochte der Kriminalist nicht. Seit seinem vierzigsten Lebensjahr hatte sich eine zunehmende Höhenangst eingestellt und Petermann verfluchte diese Tatsache insgeheim. Früher war ihm kein Turm hoch genug, keine Brücke zu weit gespannt und kein Hochhaus zu wolkenkratzig. Auf alles war er hinaufgestiegen oder -gefahren und hatte die Aussicht genossen. Als ein besonderes Erlebnis war ihm der Besuch des damals höchsten Gebäudes der Welt, des CN-Towers in Toronto in Erinnerung, bei dem man aus über 500 Metern sogar meint, die Krümmung der Erdoberfläche wahrnehmen zu können.
Aber seit einigen Jahren durchfuhr Petermann sogar ein Schauer, wenn im Fernsehen jemand zu nah an die Dachkante eines Hochhauses trat oder die Kameraperspektive eine tiefe Schlucht zeigte. Das Besteigen hoher Gebäude hatte er sich seitdem ebenso verkniffen, wie das Erklimmen von Leitern.
Daß er am frühen Abend im Wald auf den Hochsitz gestiegen war, das war eine der wenigen Ausnahmen, in denen Adrenalin und Pflichtbewußtsein obsiegten und ihn die Angst vergessen ließen. Aber schon wenig später, als weniger Streß im Spiel war, hatte er lieber Jojo auf die Leiter am Haus der Brockhagens steigen lassen.

Jojo war die Rockmusik leid, es kamen nur noch Rockballaden und Kuschelsongs, und kramte in der Ablage über dem Handschuhfach in Petermanns Cassetten-Sammlung. Es waren fast ausschließlich Cassetten von Frank Sinatra, den der Kommissar so liebte. Dann hellte sich Jojos Gesicht auf, er hatte eine Cassette von AC/DC gefunden und schob sie in das Delco-Radio. Wenn schon keine klassische Musik vorhanden war, dann wenigstens richtige Rockmusik.
Ignaz hatte die ganze Zeit nur ganz flach geatmet, sich nicht gerührt und nicht das geringste Geräusch verursacht. Jetzt merkte er aber, wie in seiner Brust ein Kribbeln aufstieg und daß er sich bald räuspern müßte oder gar husten.
Es wurde Zeit, der Sache jetzt ein Ende zu machen!

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

Keine Schlagwörter vorhanden

Lesezeit ca.: 5 Minuten | Tippfehler melden


Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)